TOC 10.09.2019

Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 45 (2018)

Karin Kirchhainer

Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft Band 45

Veröffentlichung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg/Lahn und des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg
Gedruckt mit Unterstützung der Wilhelm Hahn und Erben-Stiftung in Bad Homburg
Herausgegeben von Ingo Herklotz und Hubert Locher
Redaktion: Angelika Fricke und Karin Kirchhainer
Weimar/Kromsdorf: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2018

INHALT:

KATHRYN BRUSH: Carl Georg Heise and the USA. New Perspectives on the History of Harvard’s Germanic Museum and Lübeck’s Museum für Kunst- und Kulturgeschichte

This article opens new vistas onto the life and career of Carl Georg Heise (1890–1979), director of the Museum für Kunst- und Kulturgeschichte in Lübeck from 1920 to 1933. Heise’s work as a high-profile provocateur in the art and museum scene of Weimar Germany is well known, but his extra-European activities during this same era have been overlooked. Drawing on previously unstudied documents, the article explores a study trip to the USA he undertook in 1924, analyzing its imprint on his thought. Harvard’s Germanic Museum (now the Busch-Reisinger Museum), a collection of plaster casts representing the history of Germanic culture and civilization, made an especially powerful impression. Indeed between 1924 and 1930 Heise actively entertained the idea of leaving Lübeck, formulating an “ideal plan” to assume the leadership of the Harvard museum. Although his project was ultimately not realized, the story of his extended engagement with the Germanic Museum provides a fuller context for the conceptualization of his exhibition on “Lübeckische Kunst außerhalb Lübecks,” initially devised in 1925–1926, which famously helped spark the Faksimile-Streit about the value of reproductions versus original works as tools of public education and scholarship. Heise’s personal creation of a Lübeck-Harvard axis also left enduring traces in the form of objects that entered the Germanic Museum at his instigation, among them a double of Ernst Barlach’s ‘Der Bettler’ (‘Crippled Beggar’) acquired in 1931. Critical study of Heise’s interactions with the American museum not only expands our vision of his activities, but also contributes new dimensions to our ever-enlarging picture of the transatlantic networks that connected European and American scholars and museums prior to 1933.

ROLAND HALFEN: Visuelle Polysemie. Zur spirituellen Deutung des Bildes im Mittelalter

Während das Mittelalter im Bereich der Interpretation biblischer Schriften auf eine Jahrhunderte alte Tradition differenzierter Deutung sprachlicher Bilder zurückgreifen konnte, besitzen wir für das Gebiet materieller Bilder ungleich weniger Dokumente, sowohl was Texte betrifft, die solche Perspektiven für visuelle Phänomene behandeln, als auch was Kunstwerke betrifft, die auf eine polyperspektivische Deutung hin intendiert scheinen. Die Kathedrale von Chartres bietet für diese Fragestellung nicht nur auffällige Bilderfindungen und Bildkompositionen, sondern auch in der Literatur der hochmittelalterlichen Kathedralschule entsprechende hermeneutische Grundlagen. Wo bereits Origenes offenkundige Widersprüche in den heiligen Schriften als vom Heiligen Geist beabsichtigte Mittel der geistigen Entwicklung betrachtete und darauf die Lehre vom dreifachen Schriftsinn aufbaute, finden sich in den Bildprogrammen der Chartreser Kathedrale mehrfach entsprechende Bildkompositionen und -konstellationen, die bis in die elementare Schicht der Identifikation eines Bildthemas reichen können.

MARKUS SPÄTH: Sakralraum und Bildungsgemeinschaft. Spätmittelalterliche College-Kapellen in Oxford

Der Aufsatz untersucht am Beispiel der exzellent erhaltenen Kapellenensembles von Merton College (um 1300) und New College (um 1400) in Oxford, wie sich akademische Sakralräume als Nukleus mittelalterlicher Bildungsgemeinschaften formierten. Aus diesem Kern einer Kapelle respektive Kirche heraus entwickelte sich – so die zentrale These – in einem langen 14. Jahrhundert eine generelle Sakralisierung universitärer Bauten. Um dies aufzuzeigen, bedarf es einer methodischen Weitung von einer klassisch architekturgeschichtlichen auf eine raumtheoretische Perspektive, weil letztere das in solchen Bauten intentional agierende Publikum, nämlich die Scholaren und Studenten, als raumkonstituierende Kategorie miteinschließt. Dadurch kann für die beiden untersuchten Oxforder Kollegien die prozesshafte Entstehung einer spezifisch akademischen Bildkultur aus einer allmählichen Transformation monastischer beziehungsweise sakraler Vorbilder aufgezeigt werden. Deren Strukturen sind bis heute prägend für die College-Universitäten des englischsprachigen Raums.

NICOLE RIEGEL: Zwischen Prätention und Pragmatik. Maximilians I. Bautätigkeit an der Innsbrucker Hofburg

Der Beitrag liefert eine umfassende Revision und Neubewertung der baulichen Entwicklung der Innsbrucker Hofburg unter Kaiser Maximilian I. auf der Basis der Schrift- und Bildquellen zum Baukomplex sowie des Itinerars Maximilians zwischen 1490 und 1519. Unter Einbeziehung bauarchäologischer Befunde werden Raumdisposition und funktionale Struktur neu erschlossen. Diskutiert werden die Umstände, Intentionen und Strategien der Bautätigkeit des Habsburgers in Innsbruck. Die Erkenntnisse bilden die Grundlage einer digitalen Rekonstruktion des Bauzustands um 1510, die in Zusammenarbeit mit Reinhard Munzel (Archimedix) in Vorbereitung der Innsbrucker Ausstellung „Maximilian 1. Aufbruch in die Neuzeit“ erstellt wurde. Die digitale Visualisierung versteht sich als Etappe in dem Bemühen, Bild- und Schriftquellen mit Befunden, historischen und aktuellen Bauaufnahmen der Innsbrucker Hofburg in Einklang zu bringen.

WOLFGANG WELSCH: Wasser oder Wind? Leonardo da Vincis Zeichnungen Windsor 12377–12386 neu interpretiert

Der Aufsatz unternimmt eine Neuinterpretation von Leonardo da Vincis Zeichnungen Windsor 12377–12386. Die hochberühmten Zeichnungen gelten herkömmlich als Visionen der Apokalypse, als Darstellungen der Sintflut, als Bilder vom Ende der Welt. Demgegenüber wird hier dargelegt, dass sowohl die Apokalypse-Assoziation als auch die Sintflut-These verfehlt sind. Es handelt sich nicht um apokalyptische, sondern um wissenschaftliche Visionen, und nicht die Sintflut und nicht einmal Wasser ist der Gegenstand, sondern etwas ganz anderes, nämlich Wind und Sturm. Dass dies bislang übersehen werden konnte, hängt wohl damit zusammen, dass Leonardo, wie er selbst darlegte, die tendenziell unsichtbaren Bewegungen der Luft nach dem Modell der gut sichtbaren Bewegungen des Wassers darzustellen suchte. Die Wirbel und Strudel des Wassers kann man sehen, die des Windes kann man nur ahnen. Leonardo schaut, imaginiert und denkt sich in das Spiel der Winde nach der Analogie mit dem Wasser so weit hinein, dass er es sichtbar machen zu können glaubt.

ANTONIO GEREMICCA: Il “Cavaliere Inesistente”. Benedetto Varchi su Leone Leoni e la statua bronzea di Filippo II di Spagna (1554–1555)

Tra la fine del 1554 e l’inizio del 1555, Benedetto Varchi scrisse otto sonetti e cinque epigrammi latini sulla statua bronzea di Filippo II di Spagna, realizzata da Leone Leoni per il palazzo di Maria d’Ungheria a Binche (Madrid, Museo del Prado). Registrati talvolta dagli studi dedicati a Leone Leoni, tali versi sono, viceversa, sfuggiti agli studi su Varchi, pur essendo assai singolari all’interno della sua produzione. Il letterato, infatti, solo raramente consacrò rime a opere d’arte e anche la ‘Sagrestia Nuova’ di Michelangelo, perno intorno al quale sono costruite le famose ‘Due Lezzioni’ del 1547, fu oggetto di due soli componimenti. Obiettivo di questo contributo è contestualizzare le ragioni di un simile impegno celebrativo, che se da un lato pare svelare un inedito interessamento del letterato per l’ambiente milanese – in un momento di flessione dei suoi rapporti con Cosimo I de’ Medici – dall’altro permette di condurre delle prime riflessioni sul ruolo giocato da Benedetto Varchi nel processo di nobilitazione della scultura. L’analisi dei testi varchiani offre, infine, l’occasione di ritornare sulla grande fortuna di cui godette l’opera del Leoni. Benché sfuggito alla critica sino a tempi recenti, la scultura fu esposta pubblicamente a Milano nell’autunno del 1554 e tale esposizione contribuì ad alimentarne la fama. A confermare l’esposizione pubblica della statua – informazione sinora desunta dai testi storici di Gaspare Bugati e Paolo Morigi – ci sono due lettere, inedite e che si pubblica in questa occasione, inviate a Antoine Perrenot de Granvelle proprio da Leone Leoni e da Niccolò Secco, capitano di giustizia di Milano.

LOTHAR SICKEL: Die Berufung des Baumeisters Alessandro Albertini an den Hof von König Sigismund III. Wasa nach Polen

Im September 1597 schloss der aus Florenz stammende Baumeister Alessandro Albertini in Rom einen Vertrag zu einer dauerhaften Anstellung am königlichen Hof in Polen. Das bislang unbekannte Dokument gibt ein selten prägnantes Beispiel für die ökonomischen Aspekte innerhalb der langen Tradition der Übersiedlung italienischer Künstler nach Polen. Im Fall Albertinis war sie wesentlich mit einem Transfer bautechnischen Wissens verbundenen. Seine Berufung nach Polen liefert überdies einen Anhaltspunkt zur genaueren Datierung der Planungen zum Ausbau des königlichen Schlosses in Warschau. Der bislang nur spärlich belegte Aufenthalt Albertinis in der Stadt an der Weichsel erhält durch den Vertrag einen neuen Bezugsrahmen.

VALENTINE VON FELLENBERG: Künstlerausbildung zwischen Autonomie und politischer Einflussnahme. Die Académie royale de peinture et de sculpture und die Initiativen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Helvetischen Republik

Der Aufsatz untersucht die Pariser Académie royale de peinture et de sculpture, die Initiative der Helvetischen Republik zur Gründung einer Schweizerischen Kunstakademie und die Zürcher Künstlergesellschaft im Hinblick auf ihre institutionelle Entwicklung. Das Augenmerk liegt dabei auf den Wechselwirkungen zwischen Programm und Organisationsform sowie äußeren, insbesondere politischen Faktoren. Die verschiedenen Versuche zur Gründung einer Schweizerischen Kunstakademie orientierten sich am französischen Modell, führten aber letztlich zu davon stark abweichenden Konstellationen von politischer Anbindung, Kunstauffassung und Organisationsform, aber auch von Entwicklung und Rezeption der Institution. Die Analyse deutet darauf hin, dass das spezifische politische Umfeld und das öffentliche Bild von Akademien für deren Gründung, Programm und Beständigkeit eine zentrale Rolle spielten. In noch höherem Maße als von der Vereinbarkeit mit bestimmten Regierungsformen hingen die langfristigen Existenzchancen von Akademien jedoch von der Fähigkeit der internen akademischen Strukturen ab, sich den politischen Veränderungen anzupassen. Dies wurde am autonomen Modell der Zürcher Künstlergesellschaft besonders deutlich, die sich als Akademie und frühe Form des Kunstvereins erwies.

CLAUDIA DENK: Geteilte Naturansichten. Pierre-Henri de Valenciennes und Alexander von Humboldt

Um 1800 gingen Landschaftsmaler und Naturkundler ein besonders enges Bündnis ein. Landschaftsmaler wie Pierre-Henri de Valenciennes sahen in den expeditionserprobten Naturkundlern ihre neuen Leitbilder für eine empirisch verankerte Naturdarstellung. Forschungsreisende wie der deutsche Wahlpariser Alexander von Humboldt förderten nicht nur Landschaftsmaler als Expeditionskünstler, sondern schrieben ihnen – eine Verknüpfung von ästhetischer und wissenschaftlicher Naturanschauung erhoffend – vorbildliche Kompetenzen in der Naturnachahmung zu. Einer der wichtigsten gemeinsamen Nenner lag in der notwendigen Erinnerungsarbeit, denn beide Seiten mussten Strategien entwickeln, um das auf Reisen Erfahrene und Gesehene zu memorieren. Beide setzten auf Reiseandenken aus der Objektwelt, besonders der Naturkundler Humboldt, zugleich aber auch auf künstlerische Formen medialer Memorierungstechniken. Bislang wurde nicht gesehen, wie eng die Familie Valenciennes mit Humboldt verbunden war und wie sehr der Deutsche den großen französischen Landschaftsmaler schätzte. Mit Letzterem teilte der Weltreisende nicht nur seine Reisebegeisterung, sondern auch eine physiognomisch orientierte Naturschilderung, so dass ein enger Austausch naheliegt. Valenciennes hatte seine Ideen zur Naturphysiognomik bereits vor Humboldt formuliert, der sie schließlich berühmt machen sollte.

DOMINIK OLARIU: Politisch-genealogische Inszenierungsstrategien der Bourbonen in der französischen Kunst der Zweiten Restauration (1815–1830)

Während der Wiederherstellung der Bourbonenmonarchie – nach den Umstürzen der Französischen Revolution und Napoleons Herrschaft – suchte Ludwig XVIII. die Kunst zu politisieren, um seine prekäre Stellung zu stabilisieren. Dabei instrumentalisierte er diverse künstlerische Medien und rekurrierte auf renommierte Bourbonenkönige des Ancien Regime (1589–1793), allen voran Heinrich IV. Anhand heute kaum bekannter und teilweise nicht untersuchter Gemälde, Aquarelle und Stiche geht es mir darum, die politische Komponente der wenig untersuchten Bildenden Kunst dieser Zeit und ihre Verknüpfung mit der Presse und Literatur paradigmatisch zu demonstrieren. Innerhalb dieses Kontextes analysiere ich auch die Wiederaufrichtung des Reiterstandbilds Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf. Es zeigt sich, dass Bilder und Texte sich aufeinander bezogen und gegenseitig bereicherten, um das Porträt eines liberalen Monarchen zu zeichnen, eine Wahrnehmung, die auch kritisiert und in Frage gestellt wurde.

DIETRICH SCHUBERT: Ein Schützengraben von 1916–1918. Julius Meier-Graefe und Otto Dix 1924

Das Gemälde ‚Schützengraben‘ von Otto Dix (2,30 x 2,50 cm) stellt einen von vielen Schützengräben der Jahre 1914–1918 nach einem verheerenden Trommelfeuer dar – irgendwo an der Lorettohöhe, an der Somme bei Cléry oder bei Soissons; ein grauenhaftes Chaos von zerstörtem Graben, Leichen, Menschenteilen, Drahtverhauen, Patronen, Eisenträgern, Uniformen und schmerzverkrampften Händen. Dix, der den Krieg an den West-Fronten seit Herbst 1915 durchstand, malte in genauer, veristischer Form 1922/23 die Sache derart, dass die Betrachter einem Schock unterlagen: Das sind die Folgen dieses modernen Krieges. Damit widerlegte Otto Dix alle Phrasen vom „Heldentum“ und die Propaganda für das „Abenteuer“ Kampf, wie sie u. a. Ernst Jünger mit dem Buch „In Stahlgewittern“ (1920) verbreitete. Als das Kölner Wallraf-Richartz-Museum unter Hans F. Secker das Werk im Herbst 1923 erwarb und bei der Neueröffnung zeigte, entbrannten heftige Debatten. Im April 1924 zeigte Max Liebermann das Gemälde in der Akademie der Künste in Berlin. Doch die Gegner realistischer Kriegsdarstellung fanden in Julius Meier-Graefe einen Kritiker, der das Werk im Juli 1924 in einem Artikel der ‚Deutschen Allgemeinen Zeitung‘ auf arrogante Weise attackierte und seine Entfernung aus dem Museum forderte – was die NS-Funktionäre bereits 1933 in Dresden taten: „entartet“ und „Wehrsabotage“. Seit dem Verkauf der Leinwand für 200 Dollar durch die NS-Politiker 1940 an den Kunsthändler B. Böhmer in Güstrow ist das Werk verschollen; wurde es von Offizieren der Roten Armee abtransportiert? Aufgrund aller Aspekte erhielt der Streit eine paradigmatische Dimension, ja, die Kontroverse wurde zum exponierten Kunststreit der Weimarer Republik.

https://asw-verlage.de/katalog/marburger_jahrbuch_fuer_kunstwissenschaft___band_45___2018-2224.html

Quellennachweis:
TOC: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 45 (2018). In: ArtHist.net, 10.09.2019. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/archive/21443>.

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