ANN 25.01.2018

Materialismus und Entmaterialisierung (Berlin, 2 Feb 18)

Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45,14195 Berlin, R. JK 33/121-123, 02.02.2018

Ekaterina Tewes

Workshop: Materialismus und Entmaterialisierung. Projektionen der sowjetischen Avantgarde

Sowjetische künstlerische Avantgardeströmungen der 1920er Jahre werden mit einem marxistisch-materialistisch begründeten ontologischen, erkenntnistheoretischen, ästhetischen und sozialpolitischen Impetus assoziiert. Zugleich aber fällt ihre Wirkungszeit in eine wissens- und ideengeschichtliche Periode, in der der Begriff der Materie naturwissenschaftlich und philosophisch relativiert und teilweise für obsolet erklärt wurde.

Die Naturwissenschaften begründeten mit ihren bahnbrechenden Entdeckungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Auffassung von der Welt als einer komplexeren Realität, in der Materialität und Stofflichkeit nicht mehr gleichbedeutend waren. Die "unstofflichen" Erscheinungsformen der Materie (Radioaktivität, Elektromagnetismus) manifestierten sich an der Jahrhundertschwelle in den neuen, sich rasant verbreitenden Technologien und Massenmedien (Elektrizität, Röntgenstrahlen, Radio, Kino). "Energie" wurde zum Schlüsselkonzept eines revidierten, entsubstantialisierten und teilweise gänzlich negierten Materiebegriffs. Einen markanten philosophischen Niederschlag fanden diese Entwicklungen in den Debatten um den marxistischen Materiebegriff (Aleksandr Bogdanov u.a.).

Auch die internationale Kunst der Moderne verhandelte die Irritationen des Materiekonzepts und die damit verbundenen Entgrenzungen und Überschreitungen des sensorisch Wahrnehmbaren. In der russischen Avantgarde-Kunst der vorrevolutionären 1910er Jahre gilt das beispielsweise für die malerische "Un-Gegenständlichkeit" als Sichtbarmachung des "Geistigen" bei Vasilij Kandinskij oder der "reinen Empfindung" bei Kazimir Malevič, für die Licht-Topik im "Rayonismus" von Michail Larionov und Natalija Gončarova oder auch für die rekurrenten Motive des Energetismus und Spiritismus bei Andrej Belyj.

Unter den sozialpolitischen Bedingungen der frühen Sowjetunion bekam die künstlerische Aushandlung der Konzepte des Materialismus eine einmalige Dringlichkeit. Die radikal operativen, konstruktivistischen und "produktionskünstlerischen" Programme stießen bis an die Grenzen ihrer materialistischen Begründungen vor und durchbrachen sie zugleich: etwa im Diskurs einer "ätherisch" übertragenen revolutionären Energie (Andrej Platonov), dem Zukunftsradio-Konzept von Velimir Chlebnikov, dem Elektrizitätsdiskurs der Konstruktivisten, den Antizipationen eines "immateriellen" Buchs bei Ėl' Lisickij sowie einer Licht-Kunst bei Gustavs Klucis und Aleksandr Rodčenko. Selbst der für eine avantgardistische Ästhetik intensiver physischer Präsenz zwingende Begriff des in seiner puren Materialität und Fabriziertheit entblößten Artefakts gerät in die Krise - etwa im "Projektionismus" Solomon Nikritins und dessen Forderung nach einer hypothetischen, modellhaft antizipierenden Kunst.

Der Workshop fragt nach diesem intrikaten diskursiven Konnex von Materialismus und Entmaterialisierung in der ästhetischen Theorie und Praxis der sowjetischen Avantgarde. Können seine Auswirkungen auf bildphilosophischer, medialer, wirkungsästhetischer und anthropologischer Ebene gefasst werden? Welche Konzepte der Körperlichkeit, Subjektivität und Kollektivität rückten somit in den Fokus? Schließlich: Wie hängen Vorstellungen künstlerischer Überschreitung einer ‚trägen' Materie mit der essentiellen Frage nach dem Zukunftsbezug der Avantgarde zusammen? Sind "Projektion" und "Entmaterialisierung" die Schlüsselwörter für eine antizipatorische Praxis [im Zeichen des Möglichen]?

14:00-14:15 Begrüßung: DFG-Forschungsprojekt "Rhythmus und Projektion"
14:15-15:30 Ekaterina Tewes (FU Berlin): Die Idee einer zirkulierenden Ent- und Rematerialisierung im Projektionismus von Solomon Nikritin
15:30-15:45 Kaffeepause
15:45-17:00 Dr. habil. phil. Igor Chubarov (Staatliche Universität Tjumen): Antizipation von Digitalisierung, Netzlogik und objektorientierter Ontologie in der Theorie von Ding, Design und künstlerischer Technik des Konstruktivismus, Produktivismus und der Faktographie: Aleksej Gan, INKhUK und Sergej Tretjakov
17:00-17:15 Kaffeepause
17:15-18:30 Prof. Dr. Simon Baier (Universität Basel): [El Lissitzky]

Organisiert vom DFG-Forschungsprojekt "Rhythmus und Projektion. Möglichkeitsdenken der sowjetischen Avantgarde", Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin.
https://rhythmusundprojektion.com

Quellennachweis:
ANN: Materialismus und Entmaterialisierung (Berlin, 2 Feb 18). In: ArtHist.net, 25.01.2018. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/archive/17227>.

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