REV-CONF 01.07.2014

Asymmetrische Kunstgeschichte?

Humboldt-Universität zu Berlin, 24.–25.04.2014

Bericht von Eva Pluhařová-Grigienė, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Rainer Donandt

Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalter

Die kritische Revision vergangener Kunsthistoriographien ist kein Novum mehr. Deren vergleichende und systematische Erforschung für die Ära des Kalten Kriegs steht jedoch noch aus. Dies bewog den Lehrstuhl für Kunstgeschichte Osteuropas am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin zur Aufnahme eines Forschungsprojekts und zur Ausrichtung des Symposiums, mit dem Ansatzmöglichkeiten für eine solche vergleichende Forschung am Beispiel der kunstgeschichtlichen Barockrezeption im östlichen Mitteleuropa ausgelotet werden sollten.

Ausgangspunkt war die Frage nach einer möglichen Asymmetrie der Kunstgeschichte unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz in Mitteleuropa im Sinne einer Voreingenommenheit des Fachs seinen Objekten gegenüber, die sich politisch wie gesellschaftlich aus der Einführung des Sozialismus und dessen Anspruch auf die Interpretation von Geschichte und Gegenwart ableiten ließe.

Die Annahme, dass Abhängigkeiten bestanden, ist naheliegend, denkt man an die ideologische Indienstnahme der modernen Kunst von beiden Protagonisten des Kalten Kriegs, etwa in Vladimir Kemenovs Angriff auf die Avantgarde 1947 oder in der CIA-gestützten Propagierung des abstrakten Expressionismus zu Beginn der 1950er Jahre, die bislang im Mittelpunkt der Beschäftigung mit dem Cultural Cold War und dem Anteil der Kunstgeschichtsschreibung daran standen.[1]

Dass die Kunstgeschichte nicht erst mit dem Kalten Krieg zu einer Initiatorin und Mittlerin ideologischer Botschaften wurde, ist hinlänglich erforscht. Stellvertretend verwiesen sei auf die Verschränkung von Stildebatte und Nationaldiskurs seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland, die das Ihre dazu tat, auch das zunächst ungeliebte Barock als Stil einer spezifisch deutschen Kunst deuten zu können.[2] Hieran wurde im Nationalsozialismus – nun rassistisch aufgeladen – angeknüpft.

Auch zu den Kunsthistoriographien in Mittel- und Osteuropa liegen grundlegende Tagungsbände vor, die sich allerdings nicht schwerpunktmäßig mit der sozialistischen Zeit beschäftigen und eher die Pluralität des Forschungsfelds abbilden als einen systematischen Vergleich vornehmen.[3] Um einen komparativen Zugriff zu ermöglichen, konzentrierten sich die Organisatorinnen um Michaela Marek auf die Barockforschung als Feld, das im Unterschied etwa zur Moderne oder dem Mittelalter nicht für marxistisch-leninistisch orientierte kunsthistorische Ansätze genutzt wurde. Gerade aufgrund dieser Qualität eignet sich die Epoche jedoch für einen Blick auf die Entwicklung von Methoden und Erkenntnisinteressen, deren Halbwertzeit sich als ungleich länger erweist als diejenige offen doktrinärer Erklärungstopoi.

Deutlich wurde, dass die kunsthistorischen Methoden zur Erforschung barocker Kunst auch unter sozialistischen Vorzeichen in Fortführung älterer nationalistischer „Wesensforschung“ lange vor allem nach der Herkunft der Architekten und Künstler fragten. Agnieszka Zabłocka-Kos (Wrocław) zitierte eine polnische populärwissenschaftliche Publikation mit dem Titel „Wer war hier der Erste?“, die das legitimatorische Anliegen der Kunsthistoriographie an der Universität Wrocław in Bezug auf die neuen polnischen Westgebiete nach 1945 auf den Punkt bringt. Anhaltspunkte gaben, wie Emilia Kłoda und Karolina Jara (Wrocław) am Beispiel der Erforschung des barocken Universitätsgebäudes in Wrocław veranschaulichten, zunächst die Namen von Künstlern und Auftraggebern. Wenn die Frage der Abstammung unbefriedigend geklärt blieb, wurde der Geburtsort als Indikator für den Grad der Naturalisierung des Künstlers ausschlaggebend. Michaela Marek führte dies anschaulich in ihrem einführenden Vortrag an den Beispielen der tschechoslowakischen Forschung zu den Architekten Kilian Ignaz Dientzenhofer und Johann Blasius (Jan Blažej) Santini Aichel vor, die in Böhmen geboren und das Tschechische beherrschend als Träger eines spezifisch einheimischen Stils figurieren konnten. Symptomatisch für die kunsthistorische Barockforschung im Sozialismus war, so legen es die Fallbeispiele nahe, die Abstraktion von konkreten historischen, kulturellen, sozialen und politischen Kontexten und die Konzentration auf das reine Form- und Stilphänomen, das dann seinerseits – in Anknüpfung an die Kategorien der älteren Wiener Schule oder etwa Wölfflins – wiederum an den nationalen Kontext zurückgebunden werden konnte. Wo greifbar, wurde das Genie der enthistorisierten Architektenfigur über die detailgenaue Baubeschreibung beschworen (Marek in Bezug auf die tschechische Kunstgeschichte). Mit dieser faktenpositivistischen Argumentation wurde die kunsthistorische Bewertung unanfechtbar.

Als ein Leitmotiv der Vorträge des Symposiums erwies sich die Frage nach den im Zuge der kommunistischen Machtübernahme neu verhandelten Denkmalwerten, die über Erhalt oder Verfall und damit über die Aufnahme ins kulturelle Gedächtnis und die Möglichkeit, Identitätsentwürfe aus ihm zu speisen, entschied. Dies wurde besonders deutlich in den Beiträgen von Michaela Marek, Marija Drėmaitė, Ivan Gerát, Vendula Hnídková und Bianka Trötschel.

Marek wie Marija Drėmaitė (Vilnius) zeigten, dass in den sozialistischen Staaten allein solche Baudenkmale, denen die höchste Kategorie zuerkannt wurde, als Bildungseinrichtungen geschützt blieben. Allerdings wurden sie ihrer historischen wie lokalen Bezüge beraubt, indem sie meist dazu dienten, exemplarisch Epochenkulturen oder andere Themen (Atheismus, Architektur) museal zu veranschaulichen. In der Tschechoslowakei wurden sakrale Denkmäler hierbei oftmals ausgespart. Spektakulär war der Fall der Himmelfahrtskirche in Brüx (Most) 1975 (Vendula Hnídková, Prag), der geradezu idealtypisch für das pars pro toto-Prinzip der sozialistischen Denkmalpflege wirkt, da die Kirche bewahrt wurde, ihr historisches physisches Umfeld jedoch zugunsten des Braunkohletagebaus buchstäblich vernichtet wurde.

Auch Ivan Gerát (Bratislava) warf in seinem Beitrag die Frage nach dem für Kunstgeschichte und Denkmalpflege zentralen Wertebegriff auf. Gerát konnte in einem aufschlussreichen Vergleich von Texten von Hans Sedlmayr und Jaroslav Dubnický zur Karlskirche in Wien und der Universitätskirche in Tyrnau (Trnava) einerseits auf den grenzüberschreitenden diskursiven Charakter der Theoriebildung verweisen und andererseits die unterschiedlichen ideellen Kontextualisierungen beider Texte herausarbeiten.

Alle Beiträge befassten sich mit einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und legten Bezüge auf wissenschaftliche Kategorien der Zwischenkriegszeit und davor offen, die sich oft aus personellen Kontinuitäten ergaben und unabhängig von historisch-ideologischen Kontexten überdauerten. Anschaulicht zeigt dies das von Marek angeführte Beispiel von Heinrich Gerhard Franz: Dieser hatte sich 1942 bemüht, Belege für das Deutschtum Kilian Ignaz Dientzenhofers zu finden, und vollzog 20 Jahre später in der Bundesrepublik – in einem in der DDR herausgebrachten Werk – eine interpretatorische Kehrtwende, indem er dessen architektonische Leistungen nun als Ausdruck des volkstümlich Böhmischen präsentierte.

Wandel stellte sich mit einer neuen Generation von Kunsthistorikern ein, die im Laufe der 1960er Jahre auf den Plan trat, wie in den Vorträgen Andrzej Koziełs (Wrocław) – in Abwesenheit des Autors verlesen von Emilia Kłoda – und Drėmaitės besonders deutlich wurde. In Polen wie in Litauen zeitigte das liberalere politische Klima des Tauwetters in Konvergenz mit dem generationellen Wechsel ein Umdenken in Bezug auf den Status des Nationalen in der Kunstgeschichte und in der Folge auch der denkmalpflegerischen Praxis, wiewohl in gegensätzlichen Richtungen. Während in Vilnius nun das Barock nicht mehr als Epoche der historischen Eigenstaatlichkeit, sondern als polnisch und somit fremd angesehen, die Altstadt restauratorisch gotisiert und damit gleichzeitig vermeintlich nationalisiert wurde, löste in der polnischen kunsthistorischen Westforschung mit dem Auftreten einer jüngeren Generation eine Interpretation des Barock als kosmopolitisch-habsburgisch das Polonisierungsparadigma ab. Inwieweit dieser Einstellungswandel auch einen methodischen Wandel zeitigte, wie ihn Marek in Bezug auf die tschechoslowakische Barockforschung verneint, bleibt zu diskutieren.

Auch in Bezug auf die Rekonstruktion der Budaer Burg war die jeweilige ideologische Konnotation von Epochen und ihren Stilen ausschlaggebend für Erhalt oder Umbau, wie Péter Rostás (Budapest) darlegte. Das späthistoristische Aussehen der Burg zählte aus nationaler Perspektive als habsburgisch-fremd und aus kommunistischer Perspektive als dasjenige der kapitalistischen Herrscherklasse und war somit zu ersetzen.

Trotz der vergleichbaren Ausgangslage, nämlich des notwendigen Umgangs des Fachs mit einem national wie ideologisch prekären Erbe und eines im Laufe der 1960er Jahre permissiveren Klimas, bestanden nicht überall zur gleichen Zeit dieselben Anliegen! Hier gilt es eine klarere Vorstellung von den unterschiedlichen Periodisierungen der regional spezifischen Konnotationen des Barock und seiner Konjunkturen zu erlangen. In Bezug auf das vorherrschende nationale Geschichtsparadigma in der polnischen Westforschung bis in die 1960er Jahre stellte Zabłocka-Kos die Frage, ob man hier überhaupt von einer „sozialistischen“ kunstgeschichtlichen Forschung sprechen könne. Diese und eine weitere Frage aus dem Publikum, ob die Dominanz des Nationalen als Erklärungsrahmen nicht die Existenz einer genuin marxistischen Kunstgeschichte im sozialistischen Europa insgesamt bezweifeln ließe, unterstreichen die Notwendigkeit zu differenzierenden Definitionen der ideologischen Rahmenbedingungen und einem besseren Verständnis der unterschiedlichen institutionellen Verfasstheiten der Disziplin zu erlangen.

Im Zusammenhang damit müsse, wie Katja Bernhardt (Berlin) einforderte, auch der Status des Fachs im jeweiligen Land in Betracht gezogen werden: In der DDR galt die Kunstgeschichte etwa als „disciplina non grata“ (Friedrich Möbius). Hier wäre zu ermitteln, inwieweit ein niedriges Ansehen der Disziplin Gestaltungsräume eröffnete oder im Gegenteil Geltungsdruck verursachte, was sich auf Themensetzung und Methoden ausgewirkt hätte. Eine Definition würde sich auch darin als hilfreich erweisen, um die Dynamik zwischen Zensur und Autozensur, zwischen ideologisch affirmativen, ideologischem Druck entgegenwirkenden oder auch sich diesem Spiel entziehenden Arbeitsformen zu begreifen, etwa im Umgang mit Verlagen, in den Museen und mit nicht institutionell gebundenen oder auch emigrierten Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen sowie nicht zuletzt im grenzüberschreitenden Austausch auf Kongressen und in Publikationen. Diese wären gemeinsam mit den länger bestehenden Pfadabhängigkeiten von Traditionen der Kunsthistoriographie als verflochtene Diskursgeschichte zu begreifen, die oft von generationellen Kontinuitäten getragen wurde und einen nachhaltigen „Denkstil“ (Ludwik Fleck) – so die These Mareks – etablierte, den die Beteiligten als Anleitung zum Sehen, wie es Gerát ausdrückte, verinnerlicht, aber auch als spezifische Expertise zum Schutz ihres sozialen Status gepflegt (Marek) hätten.

Alle Vorträge haben gezeigt, dass man keinesfalls den alten Analogieschluss übernehmen kann, im Westen sei die Wissenschaft frei gewesen, im Osten hingegen hätte sie ausschließlich der Staatsideologie zu dienen gehabt. Dennoch unterschieden sich die politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und administrativen Bedingungen beiderseits der Systemgrenze wie auch innerhalb der vermeintlichen Blöcke. Ein auf der Tagung nur angeklungener Vergleich über den Eisernen Vorhang hinweg (bei Gerát) wäre ein wichtiger nächster Schritt, um durch die Logik des Kalten Kriegs geschaffene Wahrnehmungsrahmen zu verlassen und Komplexitäten wie Konjukturen des gegenseitigen Verhältnisses in den Blick zu nehmen. Robert Born hat jüngst in einer Nebeneinanderstellung kunsthistorischer Überblickswerke aus Ost und West eine Perspektive hierfür aufgezeigt.[4]

Ansatzmöglichkeiten für eine systematische Erforschung der Kunsthistoriographie in der Ära des Kalten Kriegs sind umrissen. Ihre Tragfähigkeit wird in den Folgeveranstaltungen, die das gleichnamige Projekt vorsieht – neben Lehrveranstaltungen auch eine Summer School sowie eine zweite Tagung – getestet. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist geplant.

Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa die Beiträge der Konferenz „Questioning Cold War Art (1945-1965), 08.-09.03.2013, Universität Kopenhagen und dänische Nationalgalerie sowie den Tagungsbericht der Autorin in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 53/1 (2013), S. 178-183.
[2] Vgl. Ute Engel: Riegl on the Baroque. Alois Riegl, The Origins of Baroque Art in Rome. Edited and Translated by Andrew Hopkins and Arnold Witte. Essays by Alina Payne, Arnold Witte, and Andrew Kopkins, Los Angeles 2010, in: Journal of Art Historiography 7/12 (2012), < http://arthistoriography.files.wordpress.com/2012/12/engel-riegl-review.pdf> (21.05.2014).
[3] Robert Born / Alena Janatková / Adam Labuda (Hrsg.), Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs, Berlin 2004; Jerzy Malinowski (Hrsg.), History of Art History in Central, Eastern and South-Eastern Europe, 2 Bde., Toruń 2012. Explizit mit der tschechischen Kunstgeschichte in der sozialistischen Zeit befasst sich Milena Bartlová: Czech art history and Marxism, in: Journal of Art Historiography 7/12 (2012), < http://arthistoriography.files.wordpress.com/2012/12/bartlova.pdf> (21.05.2014).
[4] Robert Born: World Art Histories and the Cold War, in: Journal of Art Historiography 9/12 (2013), <http://arthistoriography.files.wordpress.com/2013/12/born.pdf> (14.05.2014).

Tagungsprogramm:
http://arthist.net/archive/7416

Empfohlene Zitation:
Eva Pluhařová-Grigienė: [Tagungsbericht zu:] Asymmetrische Kunstgeschichte? (Humboldt-Universität zu Berlin, 24.–25.04.2014). In: ArtHist.net, 01.07.2014. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/8119>.

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