Der britische Künstler John Akomfrah, im angloamerikanischen Raum bereits für seine mehrkanaligen Videoinstallationen bekannt, zeigt die erste Einzelausstellung in Deutschland. In der Schirn hat der Künstler vier Räume gestaltet, die hintereinander angeordnet eine Vielzahl an Referenzen bilden, zwischen Kolonialismus, Migration, Ökologie, Fernseh- und Filmsprache, Geschichtsschreibung und Zeitverständnis. Zwischen ihnen bewegt sich der Künstler seit vier Jahrzehnten.
Besucher:innen treten durch den Leseraum ein, in dem ein Interview der Kuratorin Julia Grosse mit Akomfrah großformatig an den Wänden wiedergegeben ist. In den weiteren Räumen werden drei Multi-Screen-Videoinstallationen gezeigt: „The Unfinished Conversation“ (2012, 46 Minuten), „Vertigo Sea“ (2015, 48 Minuten) und „Becoming Wind“ (2023, 32 Minuten). Die Schirn lädt das Publikum ein, mit dem erstandenen Ticket ein zweites Mal wiederzukommen. Der Leseraum ist während der Öffnungszeiten frei zugänglich, was seine Position an erster Stelle erklärt. Tatsächlich empfiehlt es sich, gleich in die Dunkelheit der Vorführungsräume abzutauchen und erst beim Hinausgehen ein Buch in die Hand zu nehmen.
Im ersten Vorführungsraum ist die dreikanalige Videoinstallation „Unfinished Conversation“ zu sehen. Sie zeigt ‚found footage‘ mit dem in Jamaica geborenen Soziologen Stuart Hall (1932-2014), der, als einer der Gründer der Cultural Studies in Birmingham, die Repräsentation diverser Gesellschaftsgruppen analytisch beschreibbar machte; zudem integrierte Hall mit anderen das Medium Film in den Kanon der wissenschaftlichen Kulturgegenstände. Akomfrah wurde mit dem Black Audio Film Collective bekannt, das im Jahr 1986 die Filmcollage „Handsworth Songs“ veröffentlichte, über die er mit dem Soziologen in persönlichen Kontakt kam. Die frühe Arbeit zeigt Material aus der Fernsehberichterstattung über die Proteste der Schwarzen Bevölkerung gegen repressive Politik und Polizeigewalt im Stadtteil Handsworth in Birmingham. Akomfrah berichtet in dem erwähnten Interview, wie die Gruppe die kommentierende Tonspur bei der Sichtung von Material abgeschaltet habe, um die Bilder jenseits der Vorverurteilung in den Kommentaren wirken zu lassen. Die Montage von Bild- und Audiospur entwickelte der Videokünstler in den Folgejahren zu einer künstlerischen Strategie, die sich einer linearen Erzählweise entzieht. In seiner Videoarbeit über Hall verwendet er Fernsehbeiträge des Soziologen für die BBC, in denen dieser die Problematik der gesellschaftlichen Diskriminierung, Identität und Migration für ein breites Publikum erklärte und auch mit seiner persönlichen Geschichte verband. Hall prägte den Begriff der „Konstruktion“ in der Debatte über Identitäten. Damit schaffte er auf einer intellektuellen Ebene die Möglichkeit der Selbstermächtigung diskriminierter Menschen ohne Anzuklagen. Akomfrah verbindet in „Unfinished Conversation“ als Zeitgenosse von Hall synchron montierte Erzählschichten. Die drei-Kanal-Installation macht es unmöglich, alles zu sehen und die zahlreichen Referenzen zu bemerken. Darin zeigt sich eine Strategie Akomfrahs, der in den Zuschreibungs- und Bewertungsdebatten dem Publikum die Wirksamkeit und Deutung seiner Bilder überlässt. Strukturen werden evident, wie die Präsenz Schwarzer Menschen in der Musik, der Unterhaltung und im Sport, sowie deren Abwesenheit in anderen gesellschaftlichen Sektoren. Je nach ihrer persönlichen Geschichte erkennen Betrachter:innen einige Referenzen, andere bleiben offen. Damit wird die Erinnerung an Ereignisse des Weltgeschehens, die jede:r Zuschauer:in mitbringt, Teil der Videocollage. Die semantische Konstruktion dessen, was man sieht, weil man es kennt und erkennt, wird erfahrbar. Mit „Unfinished Conversation“ in die Ausstellung einzuführen ist eine lehrreiche kuratorische Entscheidung, denn sie bildet eine Art Benutzerhandbuch für die intellektuelle Produktion des Videokünstlers.
Im nächsten Raum ist die drei-Kanal Arbeit „Vertigo Sea“ platziert, in der der Künstler Themen wie Kolonialismus, Migration, Menschenhandel, Umweltzerstörung um den Ort der Weltmeere herum collagiert, die er mit ästhetischen Anleihen an die Malerei des 18. Jahrhunderts rahmt. In den aufwendig produzierten Spielfilmszenen der Videoarbeit leitet eine Rückenfigur die Betrachter:innen, wie man sie aus der Malerei Caspar David Friedrichs kennt. Der Mann in einer Offiziersuniform des 18. Jahrhunderts mit Dreispitz blickt übers Meer, um ihn herum sind angeschwemmte Möbel am Ufer verteilt. Akromfrah nahm hier den früheren Versklavten und Offizier Olaudah Equiano als Beispiel für die Leerstellen in der Geschichtsschreibung. Equiano kaufte sich frei und war ein zentraler Akteur der Abolistenbewegung in den USA. In den Filmsequenzen wechseln sich epische Naturaufnahmen mit historischen Dokumentaraufnahmen ab, die unter anderem eine Ölpest zeigen. In einem Interview kommentiert der Künstler die Videoarbeit: Walfang und die Versklavung von Menschen seien moralisch nicht miteinander vergleichbar, aber ihre logistische und ökonomische Struktur historisch verwoben.
Um die Kunst Akomfrahs der letzten vier Jahrzehnte weiter aufzufächern, wäre ein früheres Werk wünschenswert gewesen, wie die Videoarbeit „The Last Angel of History“, mit der Akomfrah ästhetische Anleihen aus Computerspielen und Si-Fi-Popkultur nimmt. Das wäre aber eher die Aufgabe einer Retrospektive, wogegen diese Schau das gegenwärtige Schaffen einem weiteren Publikum vorstellt.
Die Ausstellung schließt mit der fünf-Kanal-Installation „Becoming-Wind“, in der Akomfrah spielende Kinder an einem Strand, den angespülte Teile eines Schiffwracks bedecken, zeigt. Diese Bilder sind geschnitten mit Aufnahmen von Strukturen im Sand und Stein, die von Wind und Wasser geformt wurden. In den Bewegungen der Kinder und der Wellen vermittelt sich eine Idylle, die in der gleißenden Sonne und der Gischt des Meeres eine Endzeit-Atmosphäre entwickelt. Wie so oft in seiner Kunst changiert der Künstler zwischen Gelassenheit und Beklemmung im Zeitgeschehen, erhabener Schönheit und Schrecken. Synchron zeigt die Filmcollage Trans-Menschen in ihrem Alltag und Tableaus mit der Aufschrift „We have to be quick“. Diese für Akomfrah typische, thematische Überladung entzieht sich einer Priorisierung in den gesellschaftlichen Debatten. Im Interview mit Grosse sagt er, dass nicht allein das analytische Rüstzeug über Machtverhältnisse hinweghilft. Vielmehr interessiert ihn die emotionale Fähigkeit im Alltag „zu-Wind-werden“ zu können, alle Themen und Gegenstände mit eigener Kraft und Richtung zu umspielen, in der er Differenzierung erkennt.
Was bleibt, wenn man die Mechanismen von Bewertung und Geschichtsschreibung als offene Prozesse veranschaulicht? Akomfrah scheint die Differenzen zwischen Natur, Tier und Mensch einzuebnen. Seine Filme wurden für die fehlende Aussage und den „teilnahmslosen, oder gar lethargischen Charakter“ kritisiert [1]. Dabei besteht gerade die Stärke Akomfrahs künstlerischer Arbeiten darin, dass er selten einen moralischen Duktus einnimmt, der über eine Einblendung wie, „We have to be quick“ hinausgeht. Das, was als Eindruck nach dem Ausstellungsbesuch bleibt, ist eine Einladung, ein Raum für Empathie.
Anmerkung
[1] Vgl. Andrew Stefan Weiner, John Akomfrah, 26. Juli 2016 (https://www.e-flux.com/criticism/239040/john-akomfrah)
Akomfrah, John: A space of empathy, Frankfurt,Berlin: Archive Books 2023
ISBN-13: 978-3-949973-44-4, 118 Seiten
Recommended Citation:
Sara Hillnhütter: [Review of:] John Akomfrah: A Space of Empathy (Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main, Nov 9, 2023–Jan 28, 2024). In: ArtHist.net, Jan 24, 2024 (accessed Nov 27, 2024), <https://arthist.net/reviews/41061>.
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