In einer zärtlichen Geste der Zuneigung beugt sich die marmorne Maria zum Jesuskind, das munter nach dem Schleier seiner Mutter greift: Die Pazzi-Madonna manifestiert auf Plakaten, Flyern, dem Ausstellungskatalog und in der Rotunde ikonisch den Titel der Ausstellung „Donatello: Erfinder der Renaissance“ in der Berliner Gemäldegalerie. Bis zur Begegnung mit diesem Meisterwerk müssen sich die Besucher:innen jedoch gedulden: Vor dem Zutritt zur Wandelhalle werden sie von Gipsabgüssen zweier Hauptwerke des Florentiners in Empfang genommen, dem David (Kat. 2) und dem Heiligen Georg (Kat. 3). Beide schlagen eine Brücke zur Sammlungsgeschichte des Bode-Museums und reißen die Aktivitäten der Berliner Gipsformerei an, die durch solche modernen Kopien Donatellos Werke außerhalb ihres ursprünglichen Standorts Florenz in Umlauf brachte und popularisierte.
Tritt man in die Wandelhalle, so wird im stark gedimmten Licht in sieben Kapiteln anhand der ca. 90 Werke die Erfolgsgeschichte des „Erfinders der Renaissance“ erzählt, wobei im einführenden Wandtext die Aussage des lautstarken Titels relativiert wird: „Wenn Donatello auch nicht der einzige ‚Erfinder der Renaissance‘ war, ist er doch einer der wichtigsten Protagonisten dieser Epoche […].“ Hier bahnt sich eine Ambivalenz an, die in der gesamten Ausstellung spürbar bleibt, und durch das Grundkonzept einer Chronologie, die zur Lückenlosigkeit zwingt, verstärkt wird. Dem kuratorischen Team – bestehend aus Donatello-Forscher:innen Francesco Caglioti, Laura Cavazzini und Aldo Galli unter der Leitung von Neville Rowley – scheint der bedeutungsschwangere Begriff der „Erfindung“ Unbehagen zu bereiten. So kam die Vorgängerausstellung in Florenz, kuratiert von Caglioti, ohne den Erfinderbegriff aus. Palazzo Strozzi und Museo del Bargello begnügten sich mit dem nicht weniger problematischen, aber zumindest weit fassbaren „Il Rinascimento“, während sich das Victoria and Albert Museum, wo die Ausstellung ab Februar 2023 zu sehen sein wird, für ein zweideutiges „Sculpting the Renaissance“ als Untertitel entschieden hat.
In Berlin sieht sich das Publikum nach dieser kurzen Einleitung mit dem ersten Hauptwerk, dem marmornen David (Kat. 4) konfrontiert. Dieser repräsentiert Donatellos Tätigkeit in der Florentiner Dombauhütte ab 1406 und ist das erste Objekt in der Ausstellung, welches die Versatilität des Künstlers anschaulich macht. Denn zunächst – und das verraten eine skizzierte Chronologie sowie „die Anfänge“ auf der gegenüberliegenden Seite – betätigte sich Donato di Niccolò di Betto Bardi in Lorenzo Ghibertis Werkstatt und erlernte dort den Umgang mit Metallen. Das Kunstwerk zeugt also von materiellem, technischem und stilistischem Wandel, aber auch einer thematischen Verschiebung innerhalb des Stoffs: Das traditionelle, religiöse Sujet eines Davids als Prophet, der zuvor als bärtiger Erwachsener dargestellt wurde, transformierte Donatello zu einer politisierten Idee. Der die Ideale der Florentiner Republik verkörpernde, jugendliche David triumphiert über seinen Feind Goliath, den er just dekapitierte. Bevor Donatello jedoch David für die Strebepfeiler des Florentiner Doms kreieren durfte, fertigte er Tonreliefs und Vollplastiken. Die Mantel-Madonna (Kat. 7) begegnet hier Vergleichswerken unterschiedlicher Künstler wie Nanni di Bartolo sowie der vollplastischen Thronenden Maria mit Kind (Kat. 6). Der Übergang von Ton zu Marmor, den die Objektkonstellation veranschaulicht, wird erwähnt, jedoch nicht weiter ergründet. Der addierenden bzw. subtrahierenden Bearbeitung liegen unterschiedliche Prinzipien zugrunde, die hier zu sondieren erhellend gewesen wäre: Welche Transformationen finden statt, wenn ein Künstler seine anhand von kleinformatigen Metallarbeiten und Ton erarbeiteten theoretischen und praktischen Fähigkeiten auf Marmor überträgt?
Der nächste Teil der Ausstellung kündigt die „Künste im Dialog“ an. Die Erzählung konzentriert sich stark auf Donatellos Auseinandersetzung mit der Linearperspektive. Die bereits erwähnte Pazzi-Madonna wird mit ihrer perspektivischen Marmornische zum Argument für Donatellos Erfindergeist, wobei die Herausstellung gerade dieses Moments aufgrund seiner Nichtübernahme in quattrocentesken Reproduktionen zu hinterfragen ist: Welche Rolle wurde solchen perspektivischen Illusionen außerhalb humanistisch geprägter Kreise zugestanden? In der Gegenüberstellung mit Michelozzos Orlandini-Madonna (Kat. 16), in der der Donatello-Schüler die Nische mit einer plastischen Ädikula ersetzte, ist der Diskurs augenscheinlich. Eine Hängung der beiden Werke nebeneinander hätte den Vergleich vereinfacht und bedeutende Unterschiede ins Licht gerückt, die für das Verständnis von Donatellos Arbeit mit Tiefenwirkung bei sehr geringer Materialtiefe in den „plattgedrückten“ Marmorreliefs („rilievo schiacciato“ oder „stiacciato“) und den späteren Transfer seiner Arbeitsweise in Bronze von Bedeutung sind. Denn häufig konstruierte der Florentiner keinen Raum im eigentlichen Sinne, wie er beispielsweise im ebenfalls ausgestellten Eselswunder (Kat. 63) zu sehen ist, sondern arbeitete mit gleich mehreren Kunstgriffen, die im Zusammenspiel zu einer beeindruckenden Tiefenwirkung führen. Man vergleiche hierfür die Ausführung der linken Hand Mariens in der Pazzi-Madonna, die mit einer perspektivischen Verkürzung, die man eher der Malerei zuschreiben würde, simultan zu plastischem, ausformuliertem Volumen arbeitet, mit der in eine Ebene gedrehten, flacher wirkenden Linken der Orlandini-Madonna. Der gleiche Effekt zeigt sich bei Donatello crossmedial gedacht: in den Händen der Piot-Madonna (Kat. 53) und Seggiolino-Madonna (Kat. 59) aus Terrakotta, und den Körpern der links und rechts neben Christus Gehängten in der bronzenen Kreuzigung (Kat. 75).
Solche technischen Raffinessen in Kombination mit kompositorisch-ikonografischen Neuerungen erklären die Lobesreden von Zeitgenossen wie Leon Battista Alberti, aber auch die zahlreichen „nach Donatello“ entstandenen Werke, die die Ausstellung durchwirken. Der versprochene Dialog erscheint einseitig; im Vordergrund steht die Vorreiterschaft des Meisters, gespiegelt in Werken von Nachahmern und Kopisten. Ein Narrativ, das über die nächsten Kapitel bis hin zum Spätwerk des Florentiners fortgeführt wird, jedoch beim traditionellen Thema der Antikenrezeption, den „spiritelli“, in den Hintergrund rückt. In der Antike im Kontext des dionysischen Kultes sowie der römischen Sepulkralkultur ein häufig anzutreffendes Motiv, tauchten die teil- oder vollentblößten, geflügelten Knaben in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunächst als Girlandenträger auf toskanischen Sarkophagen auf, so beispielsweise im Falle des Grabes der Ilaria del Carretto in Lucca von Jacopo della Quercia. Dieser zeichnete sich zusammen mit Donatello und weiteren Künstlern für einen Auftrag verantwortlich, der das Sujet erstmals in vollplastischer Ausführung aufgriff: das Taufbecken im Baptisterium des Doms von Siena. Donatello sollte zeit seines Lebens viele Variationen der Putti umsetzen, von denen namhafte Exemplare in der Gemäldegalerie präsent sind. Dazu gehören die Reliefplatten der Prato-Kanzel (Kat. 37, 38) sowie das dazugehörige Kapitell (Kat. 36), welche in Kooperation mit Michelozzo entstanden sind. Der fröhliche Reigen der „spiritelli“ kann in der Ausstellung im Detail ergründet werden; ein auf dem Fußboden angebrachter Spiegel offenbart die Raffinessen des Abakus vom Prato-Kapitell und deutet die ursprüngliche Betrachtungssituation vor der südwestlichen Ecke der Domfassade an. Dem wohl sonderbarsten aller donatellischen Putti wurde ein ganzes Separee der Wandelhalle zugeteilt. Den sog. Amor-Attis (Kat. 42) ungehindert umschreitend, kann das Publikum diesem eklektischen und deshalb rätselhaften Werk nahekommen.
Nach der Erkundung zahlreicher Madonnen und Werke aus Donatellos Paduaner Zeit endet die vielseitige Schau mit dem Abschnitt „Pathos“. Gemeint sind damit die emotional aufgeladenen Sujets, die sich nunmehr auf die Leidensmomente im Leben Christi und seine Beweinung konzentrieren. Weiterhin stehen hier spätere Interpretationen des altbekannten Themas um David und Goliath mit einem neuen Exkurs in die Tätigkeiten der Mäzenatenfamilie Martelli in Verbindung. Die von Jenö Lányi und Gino Malenotti angefertigten Fotografien der Judith mit Holofernes (Kat. 84) irritieren leicht aufgrund ihrer im Sinne der medienspezifischen Reproduzierbarkeit, die mehrfach in der Ausstellung angerissen wurde, nicht kontextualisierten Präsentation. Sie wecken jedoch die Lust auf einen Florenz- oder auch Paduabesuch, denn trotz einer so ambitionierten und einmaligen Versammlung bedeutender Werke Donatellos können einige Chefs d'Œuvre nur an ihren Aufstellungsorten bestaunt werden.
Wer mehr Informationen zu den ausgestellten Objekten sowie kunstgeschichtlichen Debatten erhalten möchte, kann den reich bebilderten, hochwertigen Ausstellungskatalog in die Hand nehmen. Neben einem schwergewichtigen Katalogteil, der die in der Gemäldegalerie präsentierten Kapitel um „Restaurierungen im Bode-Museum“ ergänzt und damit die Schau in den museumshistorischen Kontext Berlins einbindet, finden sich darin sieben Essays namhafter Forscher:innen.
Die verschriftlichte „Führung durch die Ausstellung“ von Neville Rowley anstelle einer typischen Einleitung mit wissenschaftlichem Duktus macht deutlich, dass beide – Ausstellung und Katalog – vornehmlich an ein interessiertes Publikum gerichtet sind, etwa durch das Fehlen von Hinweisen auf den Forschungsstand einerseits und die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt andererseits. Aus der Fachperspektive betrachtet, zeigt sich auch der zweite Beitrag von Francesco Caglioti, der in Form eines Interviews präsentiert ist, ungewöhnlich. Dem breiten Publikum gewährt er informative Einblicke in die Arbeit eines Kunsthistorikers, der sowohl in der Forschung als auch in der Kuration tätig ist. Gleichzeitig spiegelt er, wie schwer mitunter unterschiedliche Interessen und (wissenschaftliche) Standpunkte bei der Konzeption einer Ausstellung zu verbinden sein können. Beide Autoren werfen Licht auf kuratorische Entscheidungen, die ohne die Erläuterungen nicht offenkundig wären, lösen allerdings nicht die Spannung in dem sich selbst revidierenden Umgang mit dem Erfinderbegriff und der „Legende Donatello“. Auch die folgenden fünf Aufsätze greifen diese Frage nicht auf, da sie sich mit spezifischen Aspekten rund um die Kunst Donatellos sowie ihre Rezeptions- und Sammlungsgeschichte befassen.
In toto zeigt „Donatello: Erfinder der Renaissance“, wie komplex das Oeuvre eines einzelnen Künstlers sein kann, dessen Arbeitsweise sich weder durch ein Material noch durch eine einzelne Technik definieren lässt. Facettenreich wird dies in der Gemäldegalerie beleuchtet. Dass und warum Donatello einen nachhallenden Einfluss auf seine und nachfolgende Künstler:innengenerationen ausübte, wird Besucher:innen der Ausstellung deutlich, die die Chance erhalten, die versammelten Objekte in einmaliger Konstellation zu inspizieren.
Neville Rowley, Francesco Caglioti, Laura Cavazzini, Aldo Galli (Hrsg.): Donatello - Erfinder der Renaissance, Leipzig: E.A. Seemann Verlag 2022
ISBN-13: 978-3-86502-482-4, 344 Seiten, EUR 39.00, Inhaltsverzeichnis
Recommended Citation:
Karina Pawlow: [Review of:] Donatello: Erfinder der Renaissance (Staatlichen Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Sep 2, 2022–Jan 8, 2023). In: ArtHist.net, Jan 3, 2023 (accessed Nov 27, 2024), <https://arthist.net/reviews/38209>.
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