REV 01.10.2003

David Campany (Hrsg.): Art and Photography

Rezensiert von Stefan Gronert, Kunstmuseum Bonn
Redaktion: Rainer Donandt

Die bemerkenswerte Buchreihe „Themes and Movements“ des Phaidon Verlages, in der u.a. die vorwiegend stilgeschichtlichen Überblicksbände zur „Land Art“, zur „Arte Povera“, zum „Minimalism“ und zur „Conceptual Art“ erschienen [1], welche sogleich zu unverzichtbaren Referenzen bei der Beschäftigung mit dem jeweiligen Themenbereich avancierten, wartet mit „Art and Photography“ nun bereits mit dem siebten Titel auf. Auch dieser erneut 304 Seiten starke Band wird bei den Kunstinteressierten auf Interesse stoßen, kommt er doch einem anscheinend großen Bedürfnis nach Überblicksdarstellungen entgegen.

Dies gilt um so mehr für die nach wie vor unterentwickelte kunsthistorische Literatur zur Fotografie, die lange Jahre ihre theoretischen Stützen in den Essays von Walter Benjamin (1936), Susan Sontag (1977) sowie Roland Barthes (1980) fand und sich bei entwicklungsgeschichtlichen Fragen vielfach auf Beaumont Newhalls erstmals 1937 und danach häufig ergänzte „History of Photography“ berief [2]. Dem durch weitgehende Ignoranz hervorgerufene Mangel an Grundlagenwerken konnte zuletzt ansatzweise die von Michel Frizot herausgegebene Aufsatzsammlung mit dem Titel „Neue Geschichte der Fotografie“ abhelfen, nicht jedoch Boris von Brauchitschs wissenschaftlich unbrauchbare „Kleine Geschichte der Fotografie“ [3]. Ungeachtet einer Flut nicht selten fragwürdiger Ausstellungskataloge zur Fotografie scheint dieses alte „neue“ Medium nach wie vor ein Stiefkind der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung zu sein.

Da die angelsächsische, vor allem - was oft vergessen wird - die amerikanische Forschung eine ganz andere Bild-Geschichte kennt, in welcher der Status der Fotografie nicht von einer derart strikten Trennung zwischen Alltag und Kunst geprägt ist wie in Europa, können die englischen Untersuchungen zur Fotografie auf breitere Voraussetzungen zurückgreifen. Das belegten zuletzt bereits die beiden Handbücher, die Liz Wells zunächst mit „Photography: A Critical Introduction“ und jüngst mit „The Photography Reader“ vorlegte [4].

Im Vergleich dazu nimmt sich der vierte Band der in deutscher Sprache erschienenen „Theorie der Fotografie“ in vielerlei Hinsicht eher bieder aus. Und es ist wohl auch bezeichnend, dass diese Fortsetzung einer lange solitär erscheinenden und einst so zügig gestarteten Buchreihe in Folge des schwindenden Interesses des einstigen Pioniers der deutschen Fotoforschung Wolfgang Kemp erst nach siebzehn Jahre einen neuen Herausgeber fand [5]. Zu hoffen ist, dass die durch den Kunstmarkt gesteigerte Aufmerksamkeit für die Fotografie auch der deutschsprachigen kunsthistorischen Forschung neue Impulse verleihen wird. In Bezug auf die Foto-Theorie sind dafür soeben durch die beiden von Herta Wolf editierten Bände „Paradigma Fotografie“ sowie „Diskurs der Fotografie“ zumindest die Grundlagen geschaffen worden [6].

Was die historische Sichtweise und vor allem auch die ganz simple Kenntnis von Bildern selbst betrifft, so durfte man sich durch den bezeichnenderweise in England publizierten Phaidon-Band „Art and Photography“ nun also einiges erhoffen. Der von David Campany editierte Band wiederholt ganz bewusst den Titel des 1968 erschienen Standardwerkes von Aaron Scharf (S. 16). Doch während Scharfs Buch sich auf das 19. Jahrhundert und die klassische Moderne bis zum zweiten Weltkrieg konzentrierte, die Entwicklung nach 1945 hingegen nur auf zehn Seiten abhandelte [7], nimmt sich Campanys Darstellung die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts überhaupt erst zum Ausgangspunkt. Im Unterschied zu Scharf fokussiert der bislang eher wenig hervorgetretene Fotohistoriker [8] seinen Blick daher auch nicht allein auf den Paragone zwischen Malerei und Fotografie, sondern berücksichtigt die komplexen Funktionen des Fotos. Dabei beschränkt sich Campany zu Recht auf den künstlerischen Diskurs. Entsprechend nennt er mit der Subjektiven Fotografie, Pop und Conceptual Art in einer stichwortartigen Vorgeschichte seines vier Dezennien umfassenden Überblicks grundlegende Ansätze und gibt auch Hinweise zu einer noch ungeschriebenen Rezeptionsgeschichte der künstlerischen Fotografie im angelsächsischen Raum (S. 16-20).

Den historischen Schnitt dabei bereits in den sechziger Jahren anzusetzen, ist aus fotogeschichtlicher Perspektive sicherlich zu früh [9], doch eine puristische Foto-Geschichte will Campanys Buch auch nicht sein. In diesem Sinne stehen im Bildteil neben den großformatigen Ikonen des Kunstmarktes von Jeff Wall, Cindy Sherman, Andreas Gursky oder Thomas Struth auch solche Fotos, die - wie im Falle von Carolee Schneemann (S. 96) oder Richard Long (S. 100) - eher Dokumentationen von Performances u.ä. darstellen.

Dabei sind die relativ gut reproduzierten Bilder - nach dem bekannten Muster dieser Phaidon-Reihe - immer mit Kurzkommentaren versehen. Ihre Abfolge entspricht einer Struktur, die Campany in seiner recht ausführlichen Einführung (S. 12 - 45) vorgibt, und der dann, analog zur 160 Seiten umfassenden Bildstrecke, auch das abschließende Kompendium der Quellentexte folgt (S. 206 - 287). Campany hat hier nicht zu einer konventionellen historischen Einteilung gefunden, was anhand der von ihm zu Recht so betonten Disparatheit des Materials vielleicht jedoch gerade eine originelle Perspektive eröffnet hätte. Vielmehr ordnet er die Fotografie seit den sechziger Jahren acht inhaltlichen Kapiteln zu: „Memories and Archives“, „Objective Objects“, „Traces of Traces“, „The Urban and the Everyday“, „The Studio Image“, „The Arts of Reproduction“, „'Just' Looking“ und „The Cultures of Nature“.

Bereits anhand dieser Überschriften offenbart sich, dass die Leitidee der klassischen Bildgattungen Landschaft, Portrait und Stilleben bisweilen nur spärlich verhüllt wiederkehrt - was der künstlerischen Produktion diverser zeitgenössischer Fotografen durchaus entspricht und darauf hindeutet, dass die Macht einer jahrhundertealten Bildtradition mit einer „neuen“ Technik nicht gleich vollständig ad acta gelegt wird.

Campany erkennt innerhalb der Kategorien durchaus noch weitere Differenzierungen und unterscheidet (wenn auch nicht sehr klar) z.B. zwischen drei Strategien des archivarischen Ansatzes (S. 21 f.). Doch bleibt nicht nur hier die historische Perspektive ebenso zweitrangig wie die Auswahl, so dass der Leser bei weiterem Interesse nach wie vor auf den Campany offenbar unbekannten Ausstellungskatalog „Deep Storage“ zurückgreifen sollte [10]. Andere Kategorien scheinen dagegen eher auf ein Potpourri der Theorie zurückzugehen, wenn unter der Überschrift „Traces of Traces“ Rosalind Krauss' Topos des Index (S. 25) ebenso bemüht wird, wie Benjamin den unvermeidlichen Ausgangspunkt zu „The Arts of Reproduction“ liefert (S. 33).

Noch wichtiger aber scheint für Campanys Einleitung Roland Barthes späte und keineswegs mehr luzide Schrift von 1980, „La chambre claire“ (S. 19, 22 f.). Die nicht nur hier zu beobachtende Verehrung eines kunsttheoretisch völlig überschätzten Buches, in dem Fotografie überhaupt nicht in künstlerischer Hinsicht thematisiert wird, verstärkt die Zweifel am Wert dieses Überblicks nicht unerheblich. Fragt man sich nach einer alternativen Referenz zu Barthes so wäre es historisch doch sehr viel interessanter, die in den siebziger Jahren einsetzende künstlerische Autonomisierung der Fotografie einmal mit der 1967/68 (Barthes) bzw. 1969 (Foucault) publizierten These vom „Tod des Autors“ [11] in Verbindung zu bringen und zu fragen, ob hier nicht gemeinsame Anknüpfungspunkte auszumachen sind, welche zugleich Campanys verwunderlicher Stilisierung des Atelierbildes durch die Kategorie „The Studio Image“ widersprechen und sogar gerade dessen Funktionswandel erläutern könnten. Hier nimmt sich der Autor mit seiner „diskursiven“ Lesart die Möglichkeit einer historischen Betrachtung, mit Hilfe derer sich die veränderte ästhetische Funktion einer nun als Kunst etablierten Fotografie seit den ausgehenden siebziger Jahren hätte erweisen lassen können.

Bei aller Kritik muss man Campany allerdings zu Gute halten, dass er sich der relativen Beliebigkeit der von ihm gewählten Kategorien durchaus bewusst ist und dies auch anspricht (S. 11, 20). Nach der immerhin lesenswerten Einführung bleibt im anschließenden Bildteil das Ärgernis eines Suchspiels zwischen Kategorien. Dabei dürfte den mit der deutschen Kunst vertrauten Leser nicht selten die Auswahl unter den künstlerisch durchweg exzellenten Bildern überraschen. Denn obgleich die Bildstrecke mit einem Detail aus Gerhard Richters „Atlas“ einsetzt, führt sie primär eine angelsächsische Perspektive vor Augen.

Verabschiedet man sich einmal von Campanys Kategorien und betrachtet seine Auswahl - was methodisch nicht minder problematisch sein mag - im Hinblick auf individuelle künstlerische Ansätze, so wird erneut der Preis seiner Strukturierung deutlich. Zwar ist es verständlich, dass Künstler und Theoretiker wie Victor Burgin, Martha Rosler oder Allan Sekula im angelsächsischen Sprachraum eine zentrale Rolle spielen (S. 19) und hierzulande unbekannte Künstler wie Susan Haller (S. 95), Elinor Carucci (S. 185) oder Joan Fontcuberta (S. 199) in diesem Band hervorgehoben werden. Dies ist gewiss eine interessante Erweiterung des üblichen Horizontes. Aber kann man - so darf man sich aus der Perspektive des deutschsprachigen Lesers legitimer Weise auch fragen - bei einer anspruchsvollen Übersicht tatsächlich auf Positionen wie die von Sigmar Polke, Arnulf Rainer, Jürgen Klauke, Floris Neusüss, Timm Rautert, Hans-Peter Feldmann, Rudolf Schwarzkogler, Michael Schmidt, Jean Le Gac oder - kurioserweise - gar Gilbert & George verzichten und auch innovative junge Positionen wie die von Patrick Tosani, Thomas Demand oder Jörg Sasse verschweigen?

Zweifellos dürfte es indes bei einer derartigen Publikation unmöglich sein, Klagen über fehlende Namen gänzlich zu vermeiden. Und bei aller Kritik am Aufbau des Buches handelt es sich doch um ein Standardwerk, welches auf Ablösung wartet. Fraglos sollte es zumindest in jeder Fachbibliothek vorhanden sein, denn es gilt einem Thema, zu dem noch viel zu sagen sein wird.

Dabei sollten allerdings zukünftige Forschungen zur Kunst seit den sechziger Jahren vielleicht nicht unbedingt erneut an Aaron Scharfs unzeitgemäße Frage nach der Beziehung zur Kunst anknüpfen. Denn seit den siebziger Jahren hieße dies, lediglich ein rhetorisches Phantom zu jagen, das von der Realität längst überholt ist. Eben diese Absurdität einer Diskussion zeigt sich auch, wenn man sich - um einen vergleichbaren Fall zu konstruieren - darüber klar wird, wie undenkbar ein Buch mit dem (nicht minder tautologischen) Titel „Art and Video“ wäre. Bei der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit Fotografie sollte es vielmehr darum gehen, das Medium zu entmystifizieren und nach dessen Bedeutung im Unterschied zu anderen künstlerischen Bildern zu fragen: the message ist the art!

[1] Vgl. Jeffrey Kastner (Hg.): Land and Environmental Art, London 1998; Carolyn Christov- Bakargiev (Hg.): Arte Povera, London 1999; James Meyer (Hg.): Minimalism, London 2000; Peter Osborne (Hg.), Conceptual Art, London 2002.
[2] Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: (ders.): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1963; Susan Sontag: On photography, New York 1977 (deutsch: München/Wien 1978); Roland Barthes: La chambre claire. Notes sur la photographie, Paris 1980. (deutsch: Frankfurt a.M. 1985); Beaumont Newhall: The History of Photography, New York 1937, 5. Auflage: 1982 (deutsch: München 1984).
[3] Vgl. Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998 (zuerst: Paris 1994); Boris von Brauchitschs: Kleine Geschichte der Fotografie, Stuttgart 2002.
[4] Vgl. Liz Wells (Hg.): Photography: A Critical Introduction, London 1997, 2. Auflage: 2000; Dies. (Hg.): The Photography Reader, London 2003.
[5] Vgl. Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie. Bd. I: 1839-1912, München 1980; ders. (Hg.): Theorie der Fotografie. Bd. II: 1912-1945, München 1979; ders. (Hg.): Theorie der Fotografie. Bd. III: 1945-1980, München 1983; Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie. Bd. IV: 1980-1995, München 2000.
[6] Vgl. Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2002, sowie dies. (Hg.): Diskurs der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2003.
[7] Vgl. Aaron Scharf : Art and Photography, Harmondsworth 1968, S. 312-321.
[8] Vgl. jedoch jüngst: David Campany: „Almost the Same Thing“. Some Thoughts on the Collector-Photographer, in: Cruel and Tender. The Real in the Twentieth-century Photography, hg. v. Emma Dexter/Thomas Weski, Ausst. Kat. Tate Modern, London 2003, S. 33-35.
[9] Vgl. vom Verfasser: Die Bildlichkeit des Abbildes. Die mediale Reflexion der Fotografie bei Gerhard Richter und Jeff Wall, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 47, 2002, S. 37-72 sowie: Alternative Pictures. Conceptual Art and the Artistic Emancipation of Photography in Europe, in: Douglas Fogle (Hg.), The Last Picture Show: Conceptualism and Photography 1960 - 1985, Ausst. Kat. Walker Art Center, Minneapolis 2003, S. 33-44.
[10] Vgl. Deep Storage. Arsenale der Erinnerung, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München u.a.O. 1997
[11] Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors sowie Michel Foucault: Was ist ein Autor, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-229.

Campany, David (Hrsg.): Art and photography, London [u.a.]: Phaidon Press 2003
ISBN-10: 0-7148-4286-9, 304 S., ca. 200 Abb., 75 €

Empfohlene Zitation:
Stefan Gronert: [Rezension zu:] Campany, David (Hrsg.): Art and photography, London [u.a.] 2003. In: ArtHist.net, 01.10.2003. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/25910>.

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