TAGUNGSBERICHT
"Barock als Aufgabe. Fischer von Erlach, der Norden und die zeitgenoessische
Kunst"
Wolfenbuettel, Herzog-August-Bibliothek, 12.-14.09.2001
Von M. v. Engelberg, Universitaet Augsburg
<Meinrad.vonEngelbergphil.uni-augsburg.de>
fuer H-Arthist
So weitgespannt wie der Titel der Veranstaltung waren auch die Themen der
Beitraege zu diesem in angenehmer informeller Atmosphaere stattfindenden
Arbeitsgespraech. Der ungewoehnliche Spagat zwischen barocker Architektur in
Wien, Nordeuropa und der bildenden Kunst von der fruehen Moderne bis zur
Gegenwart verdankt sich den vielseitigen Interessen und Arbeitsgebieten der
beiden Initiatoren der Tagung, Andreas Kreul von der Kunsthalle Bremen und
Friedrich Polleross von der Universitaet Wien. Waehrend Polleross seinen
Forschungsschwerpunkt vor allem in der fruehen Neuzeit, der Ikonographie der
Habsburger und dem oesterreichischen Barock ausbildete [1], ist Kreul nach
seiner 1988 abgeschlossenen Dissertation zu Fischer von Erlach [2] seit 1992
als Kustos an der Bremer Kunsthalle fuer die Skulptur des 16. bis 20. Jh.
verantwortlich. Die Frage nach den Beziehungen des oesterreichischen
Architekten zum Norden wurde vermutlich durch den Tagungsort auf halber
Strecke zwischen Stockholm, London und Wien nahegelegt.
In seinem Eroeffnungsvortrag versuchte Andreas Kreul, eine Bruecke vom Wiener
Barock zur Gegenwartskunst zu schlagen, und forschte unter dem Titel "Eine
barocke Party in Wien. Zu Last und Lust eines geistesgeschichtlichen
Vergleichs"nach subtilen Wahlverwandtschaften barocker und moderner
Kunstaeusserungen, wobei bemerkenswerterweise die Architektur ebenso
ausgespart blieb wie allzu simple thematische oder ikonographische
Reminiszenzen. Er verglich die "Formgedichte" des Barock mit Texten von
Mallarme und Gombringer und betonte die formale Verwandtschaft des
ornamentalen Charakters abstrakter Kompositionen z.B. von Frank Stella
und Jasper Johns mit den "nichtgegenstaendlichen Gegenstaenden"
auf Ornamentstichen des Rokoko. Kreul verwies ausserdem auf die analoge
Verbindung von Bild und Text zu einer Sinneinheit im surrealistischen Bild und
im barocken Emblem.
So anregend Kreuls Thesen fuer eine andere "barocke" Lesart der Moderne sein
moegen, so vermisste man doch den Bezug zu Fischer von Erlach und seiner
Architektur, dem eigentlichen Kernthema der Tagung. Vielleicht gelang es am
letzten Tag des Kongresses, [an dem der Referent leider nicht mehr teilnehmen
konnte] diesen Bogen zu spannen.
Dem Werk des Wiener Architekten im (nord-) europaeischen Kontext war der
anschliessende erste Kongresstag gewidmet.
Anders Hammarlund aus Uppsala stellte zunaechst Carl Gustav Heraeus (1671-1725)
vor, den aus Stockholm gebuertigen Inspektor des kaiserlichen Muenzkabinetts
und
Freund Fischers in Wien, dessen Biographie er gerade schreibt[3]. Das Referat
zeichnete die "Bildungsgeschichte des Konzeptverfassers" der Wiener Karlskirche
und seinen Weg an den Kaiserhof nach. Hammarlund schilderte die Herkunft und
das
geistesgeschichtliche Umfeld des Sohnes eines aus Pommern eingewanderten
protestantischen Wahlschweden und Hofapothekers. Er betonte, dass die
staatliche
Identitaet des im 17. Jh. zur Vormacht des Ostseeraums aufgestiegenen
Koenigreiches Schweden als Kunstprodukt einer gebildeten europaeischen Elite in
jenen Jahren erst geschaffen worden sei. Der Kernbegriff dieses Projekts einer
uebernationalen Staatsideologie koenne mit dem antikisch-antiquarischen
Adjektiv
"Svecus" benannt werden.
Ueber die Stationen Paris und Sondershausen gelangte Heraeus schliesslich 1708
nach Wien, wo er konvertierte und Fischer wichtige Anregungen fuer den
"Entwurff
einer historischen Architektur" lieferte, deren Erlaeuterungstexte er
redigierte. Hammarlunds Ueberlegung, ob der Einfluss des Schweden auch fuer
Fischers "klassizistische Wende" ab ca. 1710 verantwortlich gemacht werden
koenne, leitete ueber zu einem Kernthema des Kongresses, naemlich der Frage
nach
dem "politischen" Charakter bzw. den internationalen Stileinfluessen im Werk
des
Wiener Architekten.
Barbara Arciczweska aus Warschau widmete ihren Beitrag dem Baugeschehen in den
welfischen Herzogtuemern bis zur Vereinigung der Linien Hannover und
Braunschweig. Sie stellte dort eine bemerkenswerte Vorliebe fuer palladianische
Bauformen fest, die auch von Fischer bei seinem Entwurf einer Villa fuer den
Hannoeverschen Gesandten in Wien (1709) beruecksichtigt worden sei. Arciczewska
deutete die eigenartige Form der Wolfenbuetteler Bibliothek - ein ovaler, in
einen Kubus eingeschriebenen Kuppelbau - als programmatischen Rueckgriff auf
den
Typus der Villa Rotonda, und begruendete dies mit den traditionellen
genealogischen Verbindungen der Welfen mit den Este, die um 1685 nicht nur zu
Heiratsplaenen, sondern auch zu einer Studienreise des Erbprinzen nach
Oberitalien gefuehrt haette. Durch die Uebersiedelung des welfischen Hofes nach
London 1714 sei dieser unmittelbare Rezeptionsstrang von der Forschung bisher
uebersehen oder unzutreffend mit dem englisch-niederlaendischen Palladianismus
zweiter Hand identifiziert worden.
Diese Deutung blieb nicht unwidersprochen: Joseph Imorde bemerkte, dass in der
zeitgenoessischen Architekturtheorie der Villenbau der Terra Ferma mit dem
"Otium" identifiziert und als Ausdruck buergerlich-republikanischer Lebensweise
verstanden worden sei, und somit nicht als dynastische Repraesentationsform
gedeutet werden koenne. Guido Hinterkeuser warnte mit einem Blick auf die
franzoesische Formen bevorzugende Bauherrin von Schloss Charlottenburg, Sophie
Charlotte von Hannover, vor einer allzu eindeutigen Identifikation von Stil und
Ideologie.
Dass die Forschung zu Fischer von Erlach auch heute noch durch die kontroverse
Diskussion der von Hans Sedlmayr eingefuehrten Termini gepraegt wird, belegten
die folgenden Beitraege von Friedrich Polleross und Guido Hinterkeuser, die
sich
beide mit der These des angeblich von Fischer begruendeten habsburgischen
"Reichs-" oder "Kaiserstils"[4] auseinandersetzten. Polleross schlug vor, statt
unhistorischer nationaler Indentitaetsmodelle auf die Ideologeme der Zeit
zurueckzugreifen und erkannte in der Selbstdarstellung des Wiener Kaiserhofes
eine klare Tendenz zur ostentativen Betonung der "Romanita": Roemische
Bodenfunde beim Bau der Hofburg oder aus dem von den Tuerken zurueckeroberten
Alba Julia wurden in die neuerrichteten Palastbauten der "Roemischen Kaiser" in
Wien integriert. Bei dieser "Erfindung von Erinnerung" spielte die von Fischers
Freund Heraeus betreute Muenz- und Gemmensammlung des Kaisers eine
hervorragende
Rolle als Katalog vorbildlicher Motive. Die zunehmende Kritik am Schwulst
"Jesuitischer Rhetorik" und die neue Hochschaetzung der "delicaten
Simplicitaet"
- der von Heraeus gepflegten klassischen Latinitas - koennten als Analogie zum
entsprechenden Wandel der "Idiome" bei Fischer gedeutet werden, welcher
vielleicht durch den Herrscherwechsel von Leopold I. zu Josef I. (1705)
befoerdert wurde. Polleross verwies ausserdem auf das von den Habsburgern
gefoerderte Patrozinium der roemischen Kirche S. Maria di Loreto, die als
Kuppelbau in direkter Nachbarschaft zur Trajanssaeule eine wichtige Anregung
fuer die Karlskirche Fischers geliefert haben koennte.
Guido Hinterkeuser (Berlin) wagte in seinem Beitrag im Widerspruch zu namhaften
Autoren[5], die "Reichsstil"-These nicht sofort als unhistorisches und
nationalistisches Konstrukt zu verwerfen, sondern zunaechst zu ueberpruefen, ob
der von Sedlmayr unterstellte Vorbildcharakter der zwischen Frankreich und
Italien synthetisch vermittelnden Architektur Fischers fuer das Reich
nachweisbar ist. Hierbei kam er zu dem Umkehrschluss, dass nicht Fischer auf
Schlueter, sondern vielmehr die Berliner auf die Wiener Architektur eingewirkt
habe, was durch die 1923 erstmals belegte Berlin-Reise Fischers im Jahre 1704
plausibel zu erklaeren sei. Dieser Zusammenhang sei zwar schon frueh erkannt,
aber je nach "grossdeutscher" (Ilg) oder "kleindeutscher" (Gurlitt) Gesinnung
der Interpreten verworfen oder akzeptiert worden. Hinterkeuser betonte, dass
die
ideologisch-politische Lesart der Bauten Fischers offensichtlich auf eine
Anregung Gustav Steinboemers zurueckzufuehren sei, der den Begriff
"Reichsstil"
1933 gepraegt hatte: Sedlmayr habe in seinen fruehen, rein formanalytischen
Arbeiten[6] die Naehe des oesterreichischen Architekten zum "Genie" Borromini
betont und erst 1938 unkritisch die "nationale" Deutung dieses Stils
uebernommen.
Christian Benedik (Wien) versuchte, Fischer von Erlachs Bedeutung fuer die
ephemere Architektur des Wiener Barocks zu klaeren. Waehrend diese Baugattung
ueber Jahrzehnte in immer gleichen Stereotypen befangen blieb, lag die
innovative Qualitaet von Fischers Entwuerfen im Verzicht auf dekoratives
Beiwerk
und in der Neukombination vertrauter Elemente wie Obelisk und Triumphbogen.
Der Beitrag von Martin Raspe (Trier) kehrte noch einmal zur Frage der
"nordeuropaeischen" Spezifika bei Fischer zurueck, indem er vorschlug, dessen
Architektur einmal mit den durch Albertis Theorie "italienisch" geschulten
Augen
zu betrachten und hierfuer Termini und Deutungsmuster der Entstehungszeit zu
verwenden. Am Beispiel von Berninis Katafalk fuer Carlo Barberini (1630)
erlaeuterte Raspe die den Gesetzen konstruktiver Logik unterworfenen Prinzipien
des orthodoxen Vitruvianismus: Alle Steinarchitektur sei vom Holzbau abzuleiten
und muesse daher in ein primaeres Geruest - ihre "ossatura" - und in sekundaere
Fuellungen oder Oeffnungen aufzugliedern sein. In diesem Prinzip von "Fleisch
und Knochen" begruende sich zugleich der antropomorpher Charakter jedes guten
Gebaeudes.
In Fischers Salzburger Sakralbauten sei diese Regel dagegen bewusst missachtet
worden, indem einzelne Bauteile als "addierte Raumprismen" ohne konstruktive
Logik mit anderen verbunden wuerden: So fusse in der Dreifaltigkeitskirche eine
achtteilige Kuppel auf einer Vierpfeileranlage. Nach Raspe formte Fischer seine
Bauten somit nicht als Architekt, sondern als Plastiker. Seine Fassaden der
Kollegienkirche und im Innenhof des Palais Trautson zeigten ausserdem ein
gaenzlich unitalienisches Desinteresse am gleichgewichtigen horizontalen
Abschluss der isoliert ineinandergefuegten Baukoerper.
Raspes Analyse wurde von einigen Diskussionsteilnehmern als ungerechtfertigte
Kritik an Fischer verstanden, sollte aber wohl eher der deutlichen Benennung
von
Differenzen und somit der Betonung der formalen Autonomie seiner Architektur
dienen.
Zum Abschluss des Tages berichtete Eric Gaberson (Richmond) ueber den Versuch
der deutschen Kunsthistoriographie um 1900, auch den Barock als typisch
deutschen, nationalen Stil aufzuwerten und hierdurch die politisch
neugeschaffene nationale Identitaet durch "invented traditions" (Hobsbawn) zu
festigen. Gaberson betonte, dass Nationen "imaginaer" seien, naemlich
historisch
kontigent und willkuerlich-willentlich geschaffen, aber keineswegs, wie im 19.
Jh. angenommen, als "Blut- und Schicksalsgemeinschaften" praeexistent. Im
Zeitalter Meineckes und Dehios versprach man sich dagegen, durch das
kuenstlerische Erbe jedes Landes Aufschluss ueber den scheinbar
"unveraenderlichen Charakter des Volkes" gewinnen zu koennen. Der Barockstil
erschien hierbei im protestantisch gepraegten (Nord-) Deutschland traditionell
als untauglich, galt er doch als fremdstaemmig und degeneriert. Wilhelm Pinder
gelang es in seinem immer wieder aufgelegten Buch[7], durch allerlei "geistige
Akrobatik" (Gaberson) dieses Verdikt umzukehren, indem er den Stil Schlueters
und Fischers zur "fuer Deutschland charakteristischen Hochbluete eines
individualistischen Spaetstils" nobilitierte.
Gabersons Beitrag lenkte die Diskussion noch einmal auf das die Mehrzahl der
Vortraege verbindende Generalthema, naemlich die Frage nach der Moeglichkeit
"politischer Identitaetsstiftung" durch die Baukunst des Barock. Joseph Imorde
verwies auf die meist zu wenig beachteten konfessionellen Gegensaetze in
Deutschland, aus denen der pejorative Begriff "Jesuitenstil" herzuleiten sei.
Guido Hinterkeuser und Friedrich Polleross betonten dagegen, dass es um 1700
bereits deutliche Hinweise fuer ein "deutsches" Selbstverstaendnis der
Baukuenstler gaebe - etwa die Suche nach einer "Deutschen Saeulenordnung" oder
Wagner von Wagenfels' "Ehren-Ruff Teutschlands" (1691) mit einer Eloge auf
Fischers Triumphbogenentwurf, der mit diesem Bau einen "sehr herrlichen Sieg
der
teutschen Kunst" errungen habe[8]. Anders Hammarlund nannte zuletzt das
Beispiel
Schwedens, dessen "nationale Identitaet" tatsaechlich im Sinne Gabersons als
synthetische Staatsideologie durch eine Gruppe kosmopolitischer Lateingelehrter
geschaffen worden sei - Nicodemus Tessins Stockholmer Schloss als Gruendungsbau
eines "Schwedischen Reichsstils"?
Der Fischer von Erlach gewidmete erste Kongresstag bestaetigte, dass bei weitem
nicht alle Fragen zum Werk dieses Architekten und zum deutschen Barock in
seinem
internationalen Kontext beantwortet sind. Gerade die Diskussion um "nationale"
bzw. politische Identitaet als Fakt oder Artefakt, die nach 1990 vielleicht
wieder aktueller erscheint als in den Jahren zuvor, belegt, dass manche
scheinbar schon ad acta gelegte These ("Reichsstil") immer noch Stoff zu
anregenden Auseinandersetzungen bietet.
Anmerkungen:
[1] Friedrich Polleross (Hg.): Fischer von Erlach und die Wiener
Barocktradition. Wien 1995.
[2] Kreul, Andreas: Ueber die allmaehliche Verfertigung der Gebaeude beim
Sehen.
Studien zur Kunst Johann Bernhard Fischer von Erlachs. Bochum 1988
(Microfiche).
[3] Anders Hammarlund: Famam servare - the adventures of Carl Gustav Heraeus
(1671 - 1725) ; politics and art in the Baroque of Vienna. (Institutionen foer
Oesteuropastudier <Uppsala>: Arbetsrapporter ; 48) Stockholm and Uppsala
1999.
[4] Hans Sedlmayr: Die politische Bedeutung des deutschen Barock: Der
Reichsstil. in: Festschrift fuer Heinrich v. Srbik. Muenchen 1938, S. 126-140.
ND in: Ders.: Epochen und Werke, Bd. II, 1959, S. 140-156.
[5] Hellmut Lorenz: Dichtung und Wahrheit. Das Bild J.B. Fischers [...] in der
Kunstgeschichte. in: Polleross 1995, [wie Anm. 1] bes. S. 129-134. Ders.:
Johann
Bernhard Fischer von Erlach. Zuerich 1992, S. 16.
[6] Hans Sedlmayr: Oesterreichische Barockarchitektur 1690-1740. Wien 1930;
Ders.: Fischer v. Erlach der Aeltere. Wien 1925.
[7] Wilhelm Pinder: Deutscher Barock. 1. Aufl. Koenigstein 1911.
[8] Hellmut Lorenz: Johann Bernhard Fischer von Erlach, Zuerich 1992, S. 70.
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Recommended Citation:
Meinrad von Engelberg: [Conference Report of:] Fischer v. Erlach - Kolloquium (Wolfenbuettel, Sep 12–14, 2001). In: ArtHist.net, Sep 27, 2001 (accessed Oct 6, 2024), <https://arthist.net/reviews/24633>.
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