Madonna (nicht die Muttergottes, sondern die Pop-Ikone des 20. Jahrhunderts mit dem bürgerlichen Namen Madonna Louise Ciccone), besingt in ihrem Song mit dem Titel „Sky Fits Heaven“ im Chorus: „Traveling down this road/ Watching the signs as I go/I think I’ll follow the sun“. Metaphorisch werden die Zeichen (‚signs‘) in eins gesetzt mit unserem Leitgestirn.
Der Himmel der Naturanschauung und der Himmel des Glaubens beschreiben in der deutschen Sprache das Gleiche und sehen es doch radikal unterschiedlich. In der englischen Sprache gibt es dafür zwei Begriffe: ‚sky‘ und ‚heaven‘. Wir finden eine Tradition der Fragestellung von der Renaissance bis heute. Kunstgeschichtlich beginnt sie mit dem Zurücktreten des Goldgrundes als Ort religiöser Symbolik und der Freigabe für die Darstellung empirischen Tiefenraumes.
Das Erscheinen der Landschaft in der Malerei des 15. Jahrhunderts markiert einen Paradigmenwechsel, der sich weder als Bruch mit dem sogenannten Mittelalter, noch als Rückkehr zur Antike zureichend erfassen lässt. Die Darstellung der Landschaft in Bildern Giovanni Bellinis ist Ausdruck einer neuen Weltzuwendung und Naturnachahmung, die gleichzeitig auch Raum für die traditionellen Werte der Gläubigkeit bietet. In Gemälden sakraler Thematik ersetzte Giovanni Bellini den flachen Goldgrund durch die Darstellung atmosphärisch strahlender, leuchtender Landschaften, die sich in die Tiefe der Bildgründe erstrecken. Seine unübertroffene Leistung war es, die Landschaften mit Bergen, Seen, Dörfern und vor allem Horizont und Himmel in die Stimmung verschiedener Tages- und Jahreszeiten zu versetzen, Sonnenaufgänge, das Sfumato von Luftfeuchtigkeit, Nebelschlieren etc. wiederzugeben. Dies war durch die neue Technik der Beimischung des Bindemittels Öl überhaupt erst möglich. Bellinis Landschaftshintergründe sind Wegbereiter für die fortschreitende Ästhetisierung der Landschaftsdarstellungen eines Giorgione, Lorenzo Lotto, Tizian oder Campagnola, sie bleiben aber gleichzeitig einer tiefen Religiosität verhaftet. Es ist das Verdienst der Arbeit von Lars Zieke erstmals die innovativen Bildhintergründe in Bellinis Gemälden in den Vordergrund zu rücken.
Wie geht nun Giovanni mit diesem unausweichlichen Paradoxon (Konflikt) weitest möglicher Naturnachahmung einerseits und anderseits der Darstellung des Transzendenten, Unfassbaren, Göttlichen um? Diese Frage haben sich schon mehrere Kunsthistoriker gestellt. Dass Giovanni eine besondere Fähigkeit hatte, das ‚Göttliche‘ darzustellen, entwickelte die Bellini-Forscherin Carolyn Wilson (gest. 2020) bereits 1977.[1] Sie hat die Landschaft als Darstellung des Himmels im „Pesaro Altar“ beschrieben, die Burg als Metapher für das himmlische Jerusalem, Gottes Stadt, den Throndurchblick als Himmelspforte begriffen. Das Untersuchungsinteresse von Eugenio Battisti und Augusto Gentili hat sich motivgeschichtlich der Landschaft als Gefäß für Symbolwerte von Architekturformen, wie Burg, Tor, Tieren, Pflanzen, Felsformationen, etc. zugewandt, bei Battisti in Bezug auf die damalige liturgische Praxis und historische Texte.[2] Rona Goffen beschreibt die Präsenz Gottes als atmosphärische Werte von übernatürlichem Licht, die in Bellinis Kompositionen sichtbar werden.[3]
Hier setzt die Untersuchung von Lars Zieke an, indem sie anstelle des Lichtes, das nach Rona Goffen die Landschaften Bellinis in eine sakrale Stimmung taucht, den Begriff des Atmosphärischen einführt als Medium einer ‚Sichtbarmachung‘ der göttlichen Offenbarung und die Fragestellung in einer begriffskritischen und theoretischen Verortung vor dem Hintergrund theologischer und naturphilosophischer Diskurse vertieft. Der Begriff des Atmosphärischen (‚atmosferico‘) findet im Quattro- und Cinquecento keine Verwendung. In einem interessanten Kapitel „Begriffliche Zugänge“ wird der Begriff des Atmosphärischen als ein Konzept der Naturwahrnehmung der Romantik lokalisiert, das dann im Vokabular der Kunstgeschichte fortgeschrieben wird. Anstatt des aus dem Altgriechischen ‚atmós‘ (Dampf, Dunst) und ‚sfaira‘ (Kugel) hergeleiteten Begriffs, der die gasförmige Hülle um einen Himmelskörper bezeichnet, wird im Quattro- und Cinquecento der lateinische etwas disparatere Begriff ‚aria‘, Luft, aber auch Luftbewegung, Wind oder im erweiterten Sinne als Anschein/ Ausstrahlung verwendet. Zieke untersucht die Verwendung von ‚aria‘ in Texten von Leonardo, Leon Battista Alberti und in dem berühmten Brief von Pietro Aretino an Tizian.
Die Arbeit untersucht die verschiedenen Formen atmosphärisch komponierter Bildräume, welche die religiöse Ikonographie, das eigentliche Thema des Bildes erfahrbar machen sollen. Zieke stellt sich die Aufgabe, Darstellungen des Atmosphärischen in ihrer Relation zu Naturerfahrungen des historischen Betrachters zu analysieren, um zu zeigen, wie diese Bezüglichkeit für die Produktion von Wirklichkeitseffekten im Gemälde und die Vergegenwärtigung des religiösen Inhalts beim Rezipienten genutzt wird. Dies wird in drei Kapiteln untersucht. Im ersten Hauptkapitel „Raum und Passion“ wird das Ausdruckspotential von Bildräumen untersucht, die einen semantischen Bezug zur Passion Christi und zur damit verbundenen ‚compassio‘ aufweisen, also die Landschaftshintergründe von Pietà-, Kreuzigungs- und Christus am Ölberg-Darstellungen. Das zweite Hauptkapitel „Die atmosphärische Landschaft als Erscheinungsform des Mysteriums“ analysiert die Bildräume in Bildern mit dem Thema der Transfiguration, der Auferstehung und der Taufe Christi. Im abschließenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie das Atmosphärische in Landschaftsausblicken durch bildinterne Rahmungen inszeniert wird, z.B. durch Öffnungen in Felsformationen.
In allen drei Kapiteln veranschaulichen Einzelanalysen die These. Der Fokus liegt hier hauptsächlich auf Gemälden Giovanni Bellinis, aber auch von Andrea Previtali, Giovanni Buonconsiglio, Bartolomeo Montagna, Antonello da Messina, Cima da Conegliano u.a. für Venedig und das Veneto, sowie Andrea Solario, Giovanni Boltraffio und Marco d’Oggiono, und auch Leonardos selbst für den ‚sfumato‘-Effekt, das Atmosphärische durch ‚Verblauen‘ oder ‚Verblassen‘ in der Lombardei. Dabei wird die auffallende – durch analoge Chromatik erzeugte – Verbindung von religiösem Gegenstand im Vordergrund und dem Himmelsgeschehen im Hintergrund festgestellt. Die entsprechende Literatur wird sorgfältig und umfassend miteinbezogen.
Die vorliegende Studie ist die Publikation der 2017 an der Eberhard Karls Universität Tübingen eingereichten Dissertation. Zieke selbst nennt die Forschungen und die Methodik von Klaus Krüger als zentrale Grundlage seiner Studien.[4] Die Drucklegung einer Dissertation ist meist einer Wartezeit von mehreren Jahren unterworfen, in denen oft nichts mehr geändert werden kann. Dennoch ist es schade, dass Zieke die Publikationen, die nach Abgabe der Arbeit erschienen sind, nicht mehr eingearbeitet hat. Insbesondere der Katalog zur faszinierenden Ausstellung über Giovanni Bellinis Landschaften im J. Paul Getty Museum, Los Angeles (Oktober 2017 – Januar 2018) mit Beiträgen von Davide Gasparotto und Hans Belting wäre hier zu nennen. Davide Gasparotto stellt die Entwicklung und Bedeutung der Landschaft in Giovanni Bellinis Bildern dar, von den ersten Landschaftshintergründen in privaten Andachtsbildern zum Einzug der Landschaft ins offizielle Altarbild. Er untermauert diese Entwicklung mit Bellinis Auffassung der Landschaft als ‚fantasia‘ (Fantasie) und vor allem als künstlerische ‚invenzione‘ (Erfindung) samt ‚poesia‘ (Poesie), indem er den von zeitgenössischen Quellen und vor allem von Giovanni Bellini selbst verwendeten Begriffen und dem von mir selbst aufgezeigte Konzept der ‚lontani‘ (Fernen, als früheste Bezeichnung von Landschaft, aber auch als Bezeichnung des Ominösen) weiterentwickelt.[5]
Ob man die Transzendenz im Licht, in der Ferne, in der Fiktion oder dem Atmosphärischen findet, ist vielleicht einfach eine Frage der Benennung der Evidenz von Dingen jenseits des Darstellbaren. Das Verdienst von Ziekes Studie sind die vielen differenzierten, ungemein erhellenden Bildanalysen, die Tageszeit und Stimmung, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Lichtstrahlen, Wolken und Gewitter, systematisch in Beziehung zum Bildgeschehen im Vordergrund und der damit zu erzeugenden Stimmung und den Vergegenwärtigungsstrategien beim Betrachter setzen.
[1] Wilson, Carolyn C.: Giovanni Bellini’s Pesaro Altarpiece: A Study in Context and Meaning, New York, NY, Univ., Diss., 1976, Ann Arbor 1977.
[2] Battisti, Eugenio: Le orgini religiose del paesaggio veneto, in: Venezia Cinquecento 1 (1991), S. 9–25; Gentili, Augusto: Bellini and Landscape, in: Humfrey, Peter (Hrsg.): The Cambridge Companion to Giovanni Bellini, Cambridge 2004, S. 167–181.
[3] Goffen, Rona: Giovanni Bellini, New Haven/London 1989, bes. S. 106 und S. 111: „[...] landscape is a second protagonist of Bellini’s composition, as expressive of God’s presence as the explicitly supernatural rays of light. Not only those golden shafts but the diffuse naturalistic light that illuminates the scene confirms God’s presence in every particle of his creation.“ Aber auch schon Goffen, Rona: Icon and Vision. Giovanni Bellini’s half-lenght Madonnas, in: The Art Bulletin 57 (1975), S. 487–514, bes. S. 492–493 und S. 503 zu den Madonnenbildern: „The purposeful illogic of landscape-figure relationships of the paintings indicates that the world must be understood to have symbolic meaning, signifying the Paradise [...].“
[4] Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusionen in der Kunst der frühen Neuzeit, München 2001; Krüger, Klaus: Malerei als Poesie der Ferne im Cinquecento, in: Ders./Nova, Alessandro (Hrsg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, S. 99–121.
[5] Blass-Simmen, Birgit: „Qualche lontani“. Distance and Transcendence in the Art of Giovanni Bellini, in: Wilson, Carolyn C. (Hrsg.): Examining Giovanni Bellini. An Art „More Human and More Divine“, Turnhout 2015, S. 77–91.
Zieke, Lars: Natur und Mimesis. Visualisierungen des Atmosphärischen in der religiösen Malerei Venedigs und Mailands um 1500 (= Studi. Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig), Regensburg: Schnell & Steiner 2020
ISBN-13: 978-3-7954-3443-4, 69,00 EUR, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Brigit Blass-Simmen: [Rezension zu:] Zieke, Lars: Natur und Mimesis. Visualisierungen des Atmosphärischen in der religiösen Malerei Venedigs und Mailands um 1500 (= Studi. Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig), Regensburg 2020. In: ArtHist.net, 27.01.2021. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/23617>.
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