29.06.2013

Norbert Huse (1941-2013)

Monika Melters, Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design

Im Fluss der Geschichte

Norbert Huse, * 16. Dezember 1941, † 01. Juni 2013

Wenn ein Kunsthistoriker Architektur nicht nur als einen formalästhetischen Gegenstand betrachtet, der in den Debatten der Fachdisziplin aufgeht und dort seine Grenzen findet, sondern in erster Linie als ein gesellschaftliches Phänomen, verlässt er vorgezeichnete Bahnen. Er überschreitet Fachgrenzen und verbindet Wissenschaft mit kultureller Verantwortung. Diesen ungewöhnlichen Weg hat Norbert Huse beispielhaft beschritten.
Er war davon überzeugt, dass jegliche Vergangenheit sich gerade in Form von Denkmalen in die Morphologie eines kollektiven Gedächtnisses einschreibt und damit dem dynamischen Prozess kultureller Identitätsstiftung dient. Damit geriet er zunehmend in Widerspruch zu einer gegenwartsfixierten Zeit, die das bauliche Zeugnis der Historie vornehmlich als Ornament und Zitat betrachtet. Norbert Huse hat diese architektonische Amnesie sehr genau erkannt und wurde nicht müde, auf die Folgen der historischen Entkernung für die Gegenwart aufmerksam zu machen. Denn er wusste, dass in dem Augenblick, in dem das überkommene Bauwerk zum vermeintlichen Nutzen der Gegenwart verdrängt wird, auch die Gegenwart erstarrt.

Aus dieser Einsicht heraus versuchte er positive Impulse zu setzen, indem er immer wieder Debatten über das Verhältnis von Architektur und Geschichte anstieß – und diese in Fluss hielt: Mit Blick auf die baulichen Hinterlassenschaften der NS-Geschichte ebenso wie auf die der noch weitgehend unentdeckten Moderne forderte er dazu auf, gute Architektur nicht ausschließlich in ihrer vorderhand ansprechenden Oberfläche zu suchen; nicht nur, weil ein solches Urteil im streng wissenschaftlichen Sinne ›unhistorisch‹ wäre, sondern vor allem, weil es immer nur die aktuellen ästhetischen Ansprüche einer Zeit widerspiegeln kann, die sich mit ihrer Einschätzung an der Spitze wähnt.
Nach einer Dozentur in den USA (1968-70) und begleitet durch eine Reihe von Aufsätzen fanden diese in den 1970er Jahren noch sehr unkonventionellen Überlegungen ihren Ausdruck vor allem in dem Werk »Neues Bauen 1918-1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik« (1975) sowie in der Studie »Le Corbusier in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten« (1976). Im Jahr 2008 hat er sich in der »Geschichte der Architektur im 20. Jahrhundert« noch einmal monographisch mit der baulichen Gegenwart auseinandergesetzt.
Eingebettet war diese Beschäftigung in der profunden Kenntnis der neuzeitlichen Kunstgeschichte. So hatte er in seiner Münchener Dissertation Gianlorenzo Berninis römischen Vierströmebrunnen (1967, bei Erich Hubala) analysiert. Die Habilitation galt dem malerischen Werk Giovanni Bellinis (1972, bei Wolfgang Braunfels).
Italien, insbesondere die Architektur Venedigs, blieb neben der Moderne einer seiner Schwerpunkte. Zusammen mit Wolfgang Wolters verfasste er das Standardwerk »Venedig. Die Kunst der Renaissance« (1986). Die Serenissima war auch der Gegenstand seines vielleicht persönlichsten Buches: »Venedig: Von der Kunst eine Stadt im Wasser zu bauen« (2005). Im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und architektonischer Moderne versucht es die fließenden Gesetzmäßigkeiten des Bauens im Wasser zu ergründen. Insofern ist es nicht nur Norbert Huses Bilanz und Vision zur Architektur der Lagunenstadt, sondern zugleich auch Dokument seines dritten Schwerpunktes, der Denkmalpflege. Im Jahr 2001 wurden diese Verdienste mit dem Karl-Friedrich-Schinkel-Ring ausgezeichnet, der höchsten Ehrung, die das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz vergibt.
1980 wurde Norbert Huse auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Technischen Universität München berufen, wo er seine spezifische Herangehensweise an das Verhältnis von Architektur und Geschichte bis zur Pensionierung im Jahr 2007 an die zukünftigen Gestalter der Gegenwart, angehende Architekten, weitergab. Von hier aus formulierte er seine wegweisenden Überlegungen zur Denkmalpflege. In der 1984 erschienenen, kommentierten Textsammlung »Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten« - auch dies längst ein Standardwerk - machte er die theoretischen Ansätze der deutschsprachigen Denkmalpflege erstmals nach 1945 wieder für die aktuelle Debatte verfügbar. 1997 folgte »Unbequeme Baudenkmale. Entsorgen? Schützen? Pflegen?«. Dieser Traktat zur Denkmalpflege thematisierte erstmals die politisch unliebsamen Erblasten der NS-Zeit, der DDR und nutzlose Industriebrachen, wie die stillgelegten Stahlhütten in Völklingen und Duisburg. Indem er diese schwierigen Denkmäler den glanzvollen Rekonstruktionskunststücken der Dresdner Frauenkirche oder des Hannoveraner Leibnizhauses gegenüberstellt, forderte er zum Entwurf einer Strategie in der Kooperation von Denkmalpflege, Bauforschung, Planung und Umweltschutz auf. Er verzichtete dabei auch auf den Originalzustand als konservatorische Norm und war damit bereit, den vergänglichen Charakter des Denkmals im Fluss der Geschichte hinzunehmen. Für den »Erhalt des Gewordenen« im dynamischen Gefüge der Gegenwart initiierte er parallel zu diesem Werk einen neuen TU-Studiengang für Konservierungswissenschaft, mit dem er 1997 Maßstäbe für eine fächerübergreifende Kooperation zwischen der Kunstgeschichte und den anwendungsorientierten Fächern setzte.

In einer Zeit, in der die universitäre Kunstgeschichte sich mehr und mehr auf das Analysieren von Bildern beschränkt und die Denkmalpflege sich in einer vielfach als Krise begriffenen Umbruchphase erlebt, haben beide einen authentischen und herausragenden Vertreter verloren. Am 1. Juni 2013 ist Norbert Huse nach schwerer Krankheit mit 71 Jahren in München gestorben.

Monika Melters

Quellennachweis:
Norbert Huse (1941-2013). In: ArtHist.net, 29.06.2013. Letzter Zugriff 19.05.2025. <https://arthist.net/archive/5672>.

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