Jahr der Geisteswissenschaften 2007
Im Blickpunkt
Geisteswissenschaften:
Institutionalisierte Kommunikation
In der Süddeutschen zieht Johann Schloeman Bilanz des Jahrs der
Geisteswissenschaften und diagnostiziert Veränderungen der Institution
Universität: "Interessant ist nun, dass die Nachfrage nach jenen 'typischen
Kommunikatoren' in außeruniversitären Berufen sich mehr und mehr in den
Anforderungen an die Beschäftigten innerhalb des akademischen Systems zu
spiegeln beginnt. Man hat fast den Eindruck, die intensive Forschung der
letzten Jahrzehnte über Kommunikation, die theoretische Aufwertung von
Dialog und Interaktion hätten selbst einen neuen Typus des Akademikers
generiert. Das einstige Ideal der Vertiefung und Versenkung, das die
Philologien, die historischen Wissenschaften, die Philosophie pflegten,
weicht jedenfalls auch wissenschaftsorganisatorisch der
institutionalisierten Kommunikation."
SZ, 12.12.
Wahrheiten des Glaubens und UnglaubensDer Philosoph James Gray geht in der
SZ mit den neuen radikalen Atheisten ins Gericht. Nicht zuletzt, meint er,
finden sich auch bei ihnen Glaubensstrukturen: "Dieser Atheismus ist ein
einfacher Glaube. Seine Anhänger gehen davon aus, Religion werde vom
Erdboden verschwinden, sobald alle Menschen ihre religiösen Überzeugungen
über Bord geworfen haben. Religion ist indes weit mehr als nur Glauben.
Auch legen viele unter den militantesten Atheisten Denkweisen an den Tag,
die vom Christentum abstammen. In seinem Buch 'Das egoistische Gen'
plädiert Dawkins leidenschaftlich für die Darwinsche Ansicht, die
menschliche Spezies sei ein Produkt natürlicher Auslese. Menschen, schreibt
er, sind 'Genmaschinen', von der Evolution dazu programmiert, sich
fortzupflanzen. Doch in demselben Buch erklärt er: 'Wir sind die einzigen
Wesen auf der Welt, die gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren
rebellieren können.' Woher hat Dawkins eigentlich diesen Glauben an die
menschliche Freiheit?"Der Tagesspiegel hat den Medienwissenschaftler Jochen
Hörisch und den Philosophen Herbert Schnädelbach ebenfalls zum neuen
Atheismus befragt. Hörisch antwortet ähnlich wie Gray: "Ist Gott offenbar?
Zustimmungspflichtigerweise muss man sagen, dass es offenbar ist, dass Gott
nicht offenbar ist. Denn sonst gäbe es keine Atheisten. Atheismus heißt
allerdings, fromm zu sein. Warum? Weil die atheistische Grundbotschaft
lautet: Ich habe dieses eine Leben, und danach kommt nichts mehr."Und in
der FR erläutert der Religionswissenschaftler Gerd Lüdemann
historisch-kritische Wahrheiten über die Bibel-Evangelien: "Die
Weihnachtsgeschichten enthalten überwiegend fiktive Elemente, die mit dem
wirklichen Hergang nichts zu tun haben. So gab es weder eine reichsweite
Schätzung unter Kaiser Augustus noch einen Kindermord in Bethlehem. Die
Engel entstammen primitiver Mythologie, und die Hirten auf dem Felde ebenso
wie die Magier aus dem Morgenland sind Idealpersonen. Die Erzählung über
den Stern von Bethlehem ist eine Fiktion. Überdies wurde Jesus nicht in
Bethlehem, sondern in Nazareth geboren."
Süddeutsche Zeitung, 17.12.Tagesspiegel, 16.12.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/Glauben-Atheismus;art772,2440060Frankfurter
Rundschau,
20.12.http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1261007
Themen der Woche
Tanz festhaltenIn einem letzten Beitrag zur "Jahr der
Geisteswissenschaften"-Reihe des Tagesspiegels erläutert Deutschlands
einzige Professorin für Tanzwissenschaft Gabriele Brandstetter die
Schwierigkeiten, die flüchtige Körperkunst Tanz schriftlich festzuhalten:
"Die Erinnerung an einen Tanz ist nicht technisch kopierbar: Der Körper ist
der Ort des Gedächtnisses, und der ganze Mensch ist an der Aneignung,
Vermittlung, Übertragung von Bewegungen beteiligt. Wer je Tänzer bei der
Erarbeitung einer Choreographie beobachtet hat, weiß, wie eindrucksvoll
rasch und genau sie Bewegungsfolgen, Raumfiguren, Dynamiken des Ablaufs
aufnehmen, erinnern und variieren. In diesem körperlichen Prozess werden
Tänzer und Choreographen oft selbst zu Forschern. Dabei geht es nicht um
sterile Rekonstruktion 'alter Tänze', sondern um die Verlebendigung einer
vielleicht schon fremden Tradition."Tagesspiegel,
17.12.http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2440506
Hölderlin, Schelling, Hegel: Geburt des Idealismus im Tübinger Stift
In der Reihe der Zeit zum Bildungskanon schildert Thomas Assheuer die
Geschichte der großen Geister, die seit 1788 im Tübinger Stift versammelt
waren: "Hölderlin, Schelling, Hegel: Was für eine Konstellation, was für
eine 'einzigartige Fügung der Geistesgeschichte' (Manfred Frank). Fast über
Nacht hat sie auf allen Feldern - in der Philosophie, in der Politik und
der Kunst - die geistige Situation der Zeit verändert, und ihre Ausläufer
sind noch heute zu spüren. Im Oktober 1788 zieht Hölderlin zusammen mit
Hegel ins Stift ein; Schelling wird, gegen anfängliche Bedenken, im Herbst
1790 im Alter von erst 15 Jahren aufgenommen. Er bleibt fünf Jahre lang
Stubengefährte Hegels und Hölderlins und bildet mit ihnen zusammen das, was
man später die Keimzelle des deutschen Idealismus nennen wird."
Zeit, 20.12.
http://www.zeit.de/bildungskanon/geist
Balzacs semiotischer Realismus
In der NZZ feiert der Romanist Karlheinz Stierle anlässlich einer deutschen
Neuausgabe von Honoré de Balzacs "Menschlicher Komödie" den Autor als einen
Begründer der Moderne: "Die Stadt ist lesbar und für den Flaneur Gegenstand
unablässiger Entschlüsselungen. Man könnte in dieser Hinsicht von Balzacs
semiotischem Realismus sprechen. Das Einzelne verweist in unendlich
vielfältigen Brechungen auf das Ganze, das Allgemeine, den Geist der
gegenwärtigen Stadt, der gegenwärtigen Gesellschaft. Aber es ist zugleich
Spur, Anzeichen, Vorzeichen, das die Phantasie in Gang setzt und den Leser
in den Sog narrativer Erwartungen zieht, denen der dramatische Gang der
Ereignisse antwortet. Die Stadt wird so zum Schauplatz vom Schicksal
illuminierter Wege durch die Stadt, die sich kreuzen und wieder verlieren."
NZZ, 15.12.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/honore_de_balzac_kompakt_1.599113.html
Darwin mit Foucault
In der taz lobt Cord Riechelmann den "Versuch des in Zürich lehrenden
Historikers Philipp Sarasin, den Einfluss Darwins auf die
Geschichtskonzeption und das Geschichtsdenken Michel Foucaults
freizulegen". Sarasin hat einen bisher unveröffentlichten Text Foucaults
entdeckt, der Foucaults nominalistische Lektüre der Evolutionstheorie
belegt: "Am vergangenen Mittwoch zog Sarasin im Berliner Zentrum für
Literaturforschung unter dem Titel 'Foucault liest Darwin - Bemerkungen zu
einer stillen Referenz' eine erste Bilanz seiner Arbeit. Man kann schon
jetzt sagen, dass es sich dabei neben Julia Voss' bereits erschienener
Studie 'Darwins Bilder - Ansichten der Evolutionstheorie' um einen der
avanciertesten Versuche handelt, Darwin vor den falschen Logiken des
Biologismus und des Sozialdarwinismus zu schützen."
taz, 17.12.
Konstrukt Mutter
Im Interview mit dem Spiegel meint die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth
Bronfen, dass man beim Nachdenken über die jüngsten Kindstötungen nicht
vergessen sollte, dass "Mutterschaft" ein historisches Konstrukt ist: "Ich
würde bei dem kulturellen Konzept 'Mutter' beginnen. In der Renaissance gab
es weder 'die Mutter' noch 'das Kind' als kulturelles Konzept. Die
semantische Aufwertung der Mutter als die Reine, Gute, Schützende und
Nährende ist ein Resultat der bürgerlichen Kultur. Sie kommt aus dem 18.
Jahrhundert, aus der Empfindsamkeit und der Romantik. Rousseau hat in
seinen Texten zum Naturzustand als einer der Ersten behauptet, es gebe ein
harmonisches Bündnis zwischen Kind und Mutter, ablesbar an Begriffen wie
'Muttermilch' oder 'Muttersprache': Was wir heute Mutter nennen, ist also
ein Konstrukt."
Spiegel, 17.12.
Von Rom lernen
Der Althistoriker Martin Jehne spricht im Interview mit Berthold Seewald
über die US-Fernsehserie "Rom", über die Realitäten im antiken Imperium und
über die Frage, wie sich heutige "Imperien" von denen der Antike
unterscheiden: "Die Kommunikationsbedingungen und Partizipationschancen in
der Antike waren so, dass es nur einen Imperator an der Spitze geben
konnte. Heute, denke ich, ist ein demokratisches Imperium durchaus denkbar,
immer vorausgesetzt, die Zentrale akzeptiert, dass es unterschiedliche
Lebenschancen und -formen in den einzelnen Regionen gibt. Rom war es egal,
wie die Leute in Gallien oder Syrien lebten, solange sie Ruhe hielten und
ihre Steuern zahlten."
Welt, 17.12.
http://www.welt.de/kultur/article1468657/Rom_das_ist_Groessenwahn_und_Blutorgie.html
Der Schrank in der Wissenschaft
Von einer wirklich originellen Ausstellung des Tübinger Universitätsmuseums
weiß in der SZ Thomas Thiemeier zu berichten, in ihrem Zentrum steht - der
Schrank: "Es geht um die Schränke der Universität Tübingen, um ihre
Funktion als Ordnungssysteme, Präsentationsmöbel und Sicherheitsbehälter.
In dieser Ausstellung treffen sich Geist und Materie und werden auf einen
gemeinsamen Nenner gebracht: die Suche nach Systemen und Klassifikationen,
die Grundlage jeglicher Theorie und Existenzberechtigung des Schrankes in
der Wissenschaft sind. (...) Die Ausstellung ist im ehemaligen Wohnhaus
eines Hausmeisters der Universität untergebracht, weil das zukünftige
Museumsgebäude noch nicht hergerichtet ist. Ein Glücksfall, denn ohne den
Zwang zur Improvisation bei geringen finanziellen Mitteln wäre diese kleine
und sensibel kuratierte Ausstellung wohl nur halb so originell geworden."
Süddeutsche Zeitung, 17.12.
Website der Ausstellung: www.unimuseum.uni-tuebingen.de.
Bücher und Rezensionen
Johann Hinrich Claussen ist in der FAZ sehr beeindruckt von Albrecht
Beutels auf den ersten Blick eher unscheinbarem Buch "Aufklärung in
Deutschland": "Es kommt als gewöhnliches Fachbuch daher und ist doch ein
Ereignis. Denn seit vor fünfzig Jahren Emanuel Hirsch seine
fünfbändige'Geschichte der neuern evangelischen Theologie' veröffentlichte,
hat sich kein evangelischer Theologe mehr getraut, die Geschichte dieser
Epoche zu erzählen. In einem wichtigen Forschungsbericht erklärte Kurt
Nowak, dass die Aufklärungszeit 'zwar keine terra incognita mehr,
allerdings auch kein besiedeltes Gelände' sei. Nun gibt Beutel einen
Überblick, der über die politischen und sozialen Kontexte, die theologische
Bedeutung, die Protagonisten und die kulturellen Auswirkungen der
evangelischen Aufklärung verlässlich informiert."
FAZ, 19.12.
Als Standardwerk preist Eckhard Jesse in der NZZ den vom Historiker
Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Doppelband zur Geschichte der RAF.
Besonders überzeugt ihn seine Multiperspektivität und Interdisziplinarität:
"Der Themenbogen ist weit gespannt. Einer Analyse des Phänomens Terrorismus
schließen sich Kapitel zu seinen ideologischen Wurzeln an, Porträts von
Protagonisten wie der 'Hochstaplerexistenz' Andreas Baader, Ulrike Meinhof,
Horst Mahler und Gudrun Ensslin und von anderen terroristischen
Gruppierungen (etwa der in Westberlin beheimateten 'Bewegung 2. Juni'). Es
folgen Kapitel zu den Faktoren und Dimensionen der RAF (mit einem
instruktiven sprachwissenschaftlichen Beitrag von Olaf Gaetje über das
'info'-System der RAF), zu den internationalen Parallelorganisationen und
ihren Vernetzungen, zur Rolle des Staates, der Polizei und der Justiz,
ferner zum Zusammenhang von Terrorismus und Medien und zum
Terrorismus-Phantom."
NZZ, 14.12.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/buchrezensionen/rote-armee-fraktion__morde_und_mythen_1.598603.html
Erfrischend und lehrreich findet Florian Kessler in der SZ einen von Ralf
Klausnitzer und Carlos Spoerhase herausgegebenen Band zu "Kontroversen in
der Literaturtheorie": "Der israelische Doyen einer fachübergreifenden
Theorie der Kontroverse, Marcelo Dascal, hat Mindeststandards formuliert,
die eine waschechte wissenschaftliche Auseinandersetzung erfüllen müsse.
Dascal, dem Wissenschaft vor allem als 'Republik des Streits' gilt, hätte
gewiss seine Freude an den insgesamt zwanzig detaillierten Analysen
literaturtheoretischer Kontroversen von 'Wilamowitz-Moellendorf contra
Nietzsche' über 'John Searle gegen Jacques Derrida' bis hin zu
'Old-style-Feminismus versus poststrukturalistische Gender-Theorie'."
SZ, 20.12.
Konferenzen und Tagungen
Die Zukunft der Prognose
Für die FAZ hat Gerald Wagner eine Berliner Tagung besucht, die sich mit
dem Thema "Prognose" befasste - und danach fragte, wie es um prognostische
Kompetenzen der Kunst steht: "Wird die Macht der Prognostik nachlassen?
Wenn es um Klima, Bevölkerungswachstum und andere sozionaturale
Verhängnisse geht, bestimmt nicht. Gefasst werden die Szenarios der
wissenschaftlichen Politikberater vom maßvoll alarmierten Wähler zur
Kenntnis genommen. Was bleibt ihm übrig? Und an wen sonst als die Politik
sollte ihre Bewältigung delegiert werden? Darauf fand auch diese Tagung
keine Antwort. Die Umkehrrufe prophetisch Begabter bleiben skurril und
finden Erfüllung nur im Sektiererischen. Die Kunst mag kurzfristig
irritieren, das Publikum aber bleibt distanziert und zerstreut sich beim
Event."
FAZ, 19.12.
Blumenberg edieren
Im Literaturarchiv Marbach trafen sich die Editoren des Philosophen Hans
Blumenberg und konnten sich, wie Patrick Bahners in der FAZ berichtet,
weder über die Editionsprinzipien noch über die politische und
geistesgeschichtliche Einordnung des Denkers einigen: "[Anselm] Haverkamp
sieht für Blumenberg eine andere, respektabler ausgeleuchtete Ecke der
Gelehrtenrepublik reserviert, in die ihn die Editoren mit vereinten Kräften
bugsieren sollen. 'Wie sortieren wir Blumenberg in die französische
Theorieformation ein?' Als 'verkappter französischer Philosoph' habe er
schließlich sein Leben lang gegen Schmitt, Gadamer und Joachim Ritter
'angearbeitet'. Ziel der Werkabrundung aus dem Nachlass müsse sein,
Blumenberg 'als epochal wirksamen Philosophen zu etablieren'."
Jürgen Busche bemüht sich in der SZ, den Nachlass auseinanderzusortieren:
"In Blumenbergs Nachlass gab - und gibt es - einerseits die druckfertigen
Manuskripte, wie der Kieler Philosoph und langjährige Blumenberg-Assistent
Manfred Sommer berichtete, ebenso Manuskripte, die mehr oder weniger kurz
vor der Fertigstellung zum Druck standen. Sie bereiteten niemandem
Probleme. Dann habe es aber auch Manuskripte gegeben, von denen Hans
Blumenberg in nächtlichen Gesprächen mitgeteilt habe, dass er sie soeben in
die Papiermülltone geworfen habe. Welche hätte er noch gern dort entsorgt,
wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte, lässt sich da fragen."
SZ, 12.12.
Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (12-20 Dec 07). In: ArtHist.net, 21.12.2007. Letzter Zugriff 10.05.2025. <https://arthist.net/archive/29929>.