CFP 08.11.2007

9. Int. Barocksommerkurs "Barock / Bewegung" (Einsiedeln, 29.6.-3.7.2008)

Philipp Xaver Enea Tscholl

Call for papers

Neunter Internationaler Barocksommerkurs der Stiftung Bibliothek
Werner Oechslin vom 29.06. - 03.07.2008

Thema: "Barock / Bewegung"

Einführung:

Natürlich dreht sich das Gewölbe des Oktogons über der Gnadenkapelle
der Einsiedler Klosterkirche nicht wie das vom Genueser Ingenieur
Invernizzi ersonnene und erstellte 'Girasole'-Haus bei Verona. Es
fehlen ihm der Drehmechanismus und der Antrieb. Ein 'Geistiges' oder
eben auch ein 'Hirngespinst' ist es, was sich Linus Birchler (1924)
in seiner Apotheose des Ordensbruders und Architekten Kaspar
Moosbrugger - und dessen "um die Kapelle rotierenden Zentralraums" -
ausgedacht hat. Modern sind seine Vorstellungen, die ihn die "freie
Raumsteigerung" und die in sie hineingedachte "Dramatik" erkennen
lassen, die sich dann gemäss seinem Verständnis als "Formwillen", als
"Dithyrambus einer barocken Raumsteigerung und Raumverschmelzung"
manifestieren. Hermann Sörgel, der spätere Erfinder von 'Atlantropa',
der die Birchlersche Monographie von 1924 rezensierte, ergänzte diese
emphatische Darstellung mit der Feststellung, dass wohl nur in einer
religiös erfüllten Zeit "dieses ganze Drama räumlich kämpfender
Ausdruckskräfte" entstehen konnte. Das kompliziert unsere Vorstellung
von 'Bewegung' mehr, als dass sie sie verdeutlichen würde. Birchler
selbst bemühte die Musik und griff zum Höchsten; er fühlte sich an
Chorsätze Bachs erinnert und fasste diese als 'Bewegung', "in denen
hundert Arme sich nach dem Unendlichen erheben".

Musikalische oder architektonische Bewegungen, oder eben beides! Das
'Bewegende' ist insofern wohl in erster Linie Metapher, denn der Bau
ist fest gefügt, und selbst die "schwebenden" Stuckengel und Putten
sind fest im Mauerwerk verankert. Bewegt, 'in Bewegung' ist ohnehin
der Betrachter, der auf diese Weise, den Raum durchschreitend, das
Ganze sehend aufnimmt und begreift. (Das haben übrigens Architekten
und Interpreten der Architektur schon lange bedacht und mit ins
Kalkül genommen.) Schnell ist man bei der Einsicht angelangt, dass es
ohne 'solche' Bewegungen, ob das nun das "movetur" oder den "movens"
meint, gar nicht geht. In Raum und Zeit äussert sich alles sich
Ändernde oder Verändernde als Bewegung. Und dies betrifft natürlich
auch die Wahrnehmung selbst, die das Momentum (und das "Auf-einen-
Blick"!) genauso kennt wie die Sukzession, die bezogen auf Zeit
'Geschichte' voraussetzt oder generiert. Nicht umsonst haben Bewegung
und stetige Veränderung einer 'Geschichtlichkeit' als einem
Grundverständnis geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise zugedient.

"Panta rei"! Betrifft das jetzt Physik oder Philosophie? Natürlich
beides. Ohne Bewegung lässt sich kaum etwas denken. Und die Objekte
und deren Wahrnehmung sind aufs Innigste miteinander verbunden. "Cum
omnis scientia sit in intellectu: per hoc autem aliquid fit
intelligibile in actu", leitete ein Kommentator die Physik
Aristoteles' ein. Die Bewegung führt natürlich aus der intellegiblen
äusseren in unsere innere Welt der Vorstellung hinein. Solche
'Übersetzungen' spiegeln sich in unseren Begriffen; für motus steht
dann beispielsweise die alteratio, was eben 'grundsätzlich'
Veränderung meint. Bei Aristoteles bilden aedificatio und medicatio,
zwei alte und durchaus verwandte menschliche Befähigungen und
Tätigkeiten, Instanzen eines entsprechenden 'Veränderungs-Werkes'.
Bewegung ist umfassend. In dem Masse in dem sie nach 'universaler'
Bedeutung strebt, ist sie auch - unvermeidbar - eine grundlegende
'causa' in der geisteswissenschaftlichen Betrachtung.

Natürlich 'schlägt sich' Bewegung in kulturellen Formen 'nieder'. Sie
lässt sich nicht nur wahrnehmen - eben auch als einem dem "visus",
dem Sehsinn zugeordnete, über Distanz und Nähe Auskunft gebende
Kategorie; sie lässt sich auch abbilden, nicht nur im 'bewegten
Bild', sondern - paradoxerweise - im fest gefügten, auf den Moment
konzentrierten Bild, das sich deshalb 'anderweitiger' Formen und
Zeichen bedienen muss, um der Bewegung ihre Bewegung mitzuteilen. Das
allerdings ist längst den kulturellen Formen von Bildern - und deren
"Sichtbarkeitsverhältnissen" - eingegeben. Schliesslich gesteht man
ja auch dem Auge "Griffigkeit", also haptische Qualitäten zu. So
besehen "rotiert" das Einsiedler Oktogon also doch! In den
Vorstellungen eben! Zutreffend ist jedenfalls, dass Bewegung weit
über das hinausreicht, was sich physikalisch oder mechanisch als
solche beschreiben lässt.

Insofern überrascht es nicht, dass gerade der Barockbegriff mit
Bewegung und verwandten Vorstellungen immer mal wieder verbunden
wurde. Man wollte etwa im Kontrast gegen 'statische' Auffassungen
(der Renaissance) 'barocken' Vorstellungen auf den Leib rücken.
Heinrich Wölfflins exemplarischer Vergleich der Projekte Vignolas und
Giacomo della Portas für die Fassade des Gesù in Rom (Renaissance und
Barock, 1888) setzt ja gerade dort an, wo bei gleichem "System"
einmal "renaissancemässig" ruhig gegliedert wird, und wo andererseits
in "scheinbar wenig abweichender Ausdrucksweise" Bewegung,
'Dynamisierung' erzeugt wird. Wölfflins Darlegung der "Auflösungder
Renaissance" kulminiert im Kapitel "Bewegung", in dem Begriffe wie
'Kraft', 'Hochdrang', 'Rhythmus', 'Steigerung', 'Schwingung' und
'Spannung', aber auch 'Unübersehbarkeit' und 'Unbegrenztheit'eine
Rolle spielen. Ein anderer Gründungsvater der modernen
Barockforschung, Alois Riegl, hat andererseits am Begriff des
"Konvulsivischen" 'verdrehter' Skulpturen die Schwierigkeit einer
adäquaten Erfassung und Deutung 'barocker' Kunstäusserung dargelegt.
Fremdartig oder gar befremdlich würde das ekstatisch Zuckende wirken!
'Bewegung' erscheint somit ebenso nachvollziehbar wie unverständlich
zu sein, je nachdem man die Dinge angeht. Und das ist nur ein Hinweis!

Es soll - wie immer - Ausgangspunkt und Anregung und vielleicht auch
ein besonderer 'Beweggrund' sein, um den Bewegungen auf hoffentlich
vielfältigste Weise - bis hin zu ihren mehr oder minder verborgenen
"é-motions" - nachzugehen.

PS: ... und natürlich denken wir beim Begriff 'Bewegung' genauso an
Theater und Tanz, an das Ephemere wie an das Festgefügte, an
Keplersche Bahnen wie an die Entdeckung des Blutkreislaufes, an 'Oben
und Unten' genauso wie an das Verborgene und an das ans Licht
Drängende, an das Versteckte wie an das Offensichtliche der
"ostentatio", an die Motorik und die Gliedmassen und an Einfall und
Phantasie. Auch aus dem Gegensatz 'muss' Bewegung entstehen. Und
'kontrastreich' ist die 'barocke' Welt genauso wie sie unberechenbar
und doch fest gefügt ist. Gott und die "materia prima", sind gemäss
Scipio Gabrielli aus Siena (Aurea Mundi Catena, 1604) die einzigen
feststehenden Gründe, die den Rest der Welt in ewige Bewegung
stürzen, um dann alles wieder als "catena aurea" zusammengefügt
erstehen zu lassen. Die 'Fiktion' wird zur Notwendigkeit der
Vergegenwärtigung und zum Tummelfeld aller Kunst: in deren Bemühung,
die "möglichen Erfahrungen" auszuloten und zu erreichen. 'Analogie'
ist alles, und sie lebt - nur - von der Bewegung.

10.2007 Werner Oechslin

Wie üblich soll der Diskurs fächerübergreifend angelegt sein, sodass
wir uns eine rege Teilnahme von Wissenschaftlern und Promovierenden
aus verschiedenen Disziplinen erhoffen.

Wir möchten Sie bitten, Ihre Bewerbung bis spätestens 10. Dezember
2007 per e-mail an tschollbibliothek-oechslin.ch zu senden.

Angaben zur Organisation sind einsehbar unter: www.bibliothek-
oechslin.ch, Rubrik Veranstaltungen.

Anschriften:

Stiftung Bibliothek Werner Oechslin
Luegeten 11
CH-8840 Einsiedeln
Tel: +41 55 418 90 40, Fax: +41 55 418 90 48
(Frau Karin Peterhans, Sekretariat)
Tel: +41 44 633 75 16
Fax:+41 44 633 10 26

(Ph. Tscholl, ETH Zürich)

Quellennachweis:
CFP: 9. Int. Barocksommerkurs "Barock / Bewegung" (Einsiedeln, 29.6.-3.7.2008). In: ArtHist.net, 08.11.2007. Letzter Zugriff 29.04.2024. <https://arthist.net/archive/29792>.

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