ANN 21.03.2002

Digitale Kunstgeschichte (Schule des Sehens)

Hubertus Kohle

Replik von Hubertus Kohle (Institut fuer Kunstgeschichte der LMU Muenchen)
zu:
Thomas Lackner, Logistik statt Inhalt. Zu aktuellen Konzepten der
Wissensorganisation in der digitalen Kunstgeschichte. In: kritische
berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Heft 1/2002 [im
Erscheinen].
Online-Version:
http://www.kunstgeschichte.de/kgs/publikationen/km1.html

Ich nutze diese Liste, um in eine Diskussion einzusteigen, die von dem sehr
interessanten Artikel angeregt ist, den Thomas Lackner fuer das naechste
Heft der Kritischen Berichte verfasst hat.

Bei der Einschaetzung der momentan vom BMBF unterstuetzten Projekte zur
Anwendung neuer Medien in der Kunstgeschichte teile ich die Einschaetzung
des Autors, dass es sich bei dem einen (Prometheus) um ein logistisch
orientiertes, bei dem anderen (Schule des Sehens) um ein inhaltsbasiertes
handelt. Auch die Affinitaet des ersten Projektes zu dem, was man eine
digitale, des zweiten zu dem, was man eine digitalisierte Kunstgeschichte
nennen koennte, scheint mir angemessen. Ich glaube nur, dass der Gegensatz
der beiden Konzepte bei naeherem Hinsehen nicht so strikt ist, wie das
insbesondere von den Matadoren einer radikal erneuertern (und das waere die
digitale) Kunstgeschichte gerne behauptet wird.

Bezug nehmen moechte ich vor allem auf die folgende Passage, mit der Lackner
die Schule des Sehens charakterisiert:

"Andererseits bleiben sie einem hierarchisch defininierten Qualitaets- und
Inhaltsbegriff verhaftet: Im Gegensatz zur logistischen Vorgehensweise von
Prometheus (Phase 1) planen sie in erster Linie die Konzeption
inhaltsbasierter Komponenten: So dienen der Schule des Sehens das ueber
offizielle Instanzen qualitativ verriegelte Funkkolleg Kunst, die in ihm
bereits bewaehrten Studieneineiten sowie die Fachautoren der Studientexte
als materielle Grundlage, waehrend eine spezifische Softwareentwicklung im
groesseren Umfang nicht stattfindet. Eine redaktionelle Bearbeitung der
Inhalte findet selbstverstaendlich statt. "Best-practice"-Konzepte, denen im
Wissensmanagement eine so zentrale Bedeutung beigemessen wird, sind zwar
theoretisch im Vollzug einer Lehreinheit moeglich, werden hingegen nicht
explizit zur Projektgrundlage gemacht. Der Workflow der Wissensverteilung
erfolgt in den klassischen hierarchischen Strukturen von Lehrer (top) zu
Schueler (down). Um es vereinfacht und in Analogie zum Medium der
Lichtbildpraesentation auszudruecken: artcampus und Schule des Sehens
liefern neuartige Dias, Prometheus konstruiert einen neuen Dia-Projektor.
artcampus und Schule des Sehens denken an die Optimierung der
kunstgeschichtlichen Lehre auf Basis neu zu erstellender, transformierter
Inhalte, Prometheus denkt an die Optimierung der kunstgeschichtlichen Lehre
auf Basis eines neuen Zugriffskonzepts auf vorhandene Ressourcen."

Das gesamte Projekt wird von dem Muenchener Lehrstuhl fuer Empirische
Paedagogik (Mandl) begleitet, der sich bisher intensiv um internet-basierte
Wissensmanagement-Systeme bemueht und diese erfolgreich in die Lehrpraxis
eingefuehrt hat. Ausgangspunkt dieser Paedagogik ist eine der
konstruktivistischen Lerntheorie verpflichtete Grundueberzeugung, die auch
zumindestens in einige der Projekte der Schule des Sehens einfliesst. Um es
schlagwortartig zusammenzufassen: Nicht mehr die vorgefertigten Lerninhalte
stehen im Mittelpunkt, die in einem gaengigen top-down Verfahren an die
Studierenden vermittelt werden. Wir stellen statt dessen tendenziell eher
Materialien zur Verfuegung, die durch (hoffentlich) geschickt gestellt
Fragen erschlossen werden und die Studierenden zu einer aktiveren Produktion
und Verinnerlichung des Wissens anhalten sollen. Zentrales Instrument dieser
Form von Wissensgenerierung ist das Diskussionforum, das hier zur
eigentlichen Vermittlungsinstanz wird. Die Rolle des Lehrenden wandelt sich
unter diesen Bedingungen ganz entschieden. Er verliert den Status des
autoritativ dozierenden und wird zum Tutor, so dass die Formulierung
Lackners "Der Workflow der Wissensverteilung erfolgt in den klassischen
hierarchischen Strukturen von Lehrer (top) zu Schueler (down)" von der Idee
her obsolet wird.

Wir glauben, dass diese Art der Lehre zwar grundsaetzlich auch in der
traditionellen Form moeglich ist (und in guten Seminaren ja auch praktiziert
wird), dass aber die spezifische mehrkanalige Struktur der online-Medien
insbesondere geeignet ist, sie zu realisieren. Auch eine digitalisierte
Kunstgeschichte kann unter dem produktiven Einfluss des neuen Mediums mehr
sein, als nur eine Uebertragung alter Inhalte in eine neue Form.

Hubertus Kohle
Institut fuer Kunstgeschichte der LMU Muenchen
Georgenstr. 7
80799 Muenchen
Tel: 089 21805317
Fax: 089 21805316

Quellennachweis:
ANN: Digitale Kunstgeschichte (Schule des Sehens). In: ArtHist.net, 21.03.2002. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/archive/24934>.

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