CFP 14.10.2018

Ästhetischer Genuss als Metapher populärer Kunstvermittlung (Bonn, 21-22 Mar 19)

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 21.–22.03.2019
Eingabeschluss : 18.11.2018

Andreas Zeising

Ästhetischer Genuss als Metapher populärer Kunstvermittlung

Gemeinsamer Workshop des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Universität Siegen und des Kunstgeschichtlichen Instituts der Ruhr-Universität Bochum am Kunsthistorischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Organisiert von Andreas Zeising, Stephanie Marchal und Joseph Imorde

"Es ist ja (…) möglich, dass Genie hinter Ihnen steckt, aber warum wollen Sie’s zum Schaffen verwenden, denken Sie vielleicht, dass zum Genießen weniger Genie gehört (…)!" [1]

"So erhöhen wir in edler Weise durch die Beschäftigung mit der Kunst unsere Freude am Leben, unseren Lebensgenuss, denn dies ist etwas Höheres und Edleres als jener Genuss, den so viele Leute haben oder sich einbilden zu haben, wenn sie politisierend hinter dem Bierkrug sitzen." [2]

Die Metapher vom "Genuss" und damit die Auffassung, dass Kunst in erster Linie ein Gegenstand des sinnlichen Genießens sei, ist ein Gemeinplatz, der in Kunstkritik, Kunsterziehung und populärer Kunstvermittlung der Zeit um 1900 allgegenwärtig ist.[3] Hans Robert Jauß zufolge avancierte Genuss vor dem Ersten Weltkrieg in Dichtung und Kritik, in Ästhetik und Kunstwissenschaft zu einem Hauptthema.[4] Die Konjunktur ist Indiz einer zunehmenden Polarisierung von wissenschaftlichem Intellekt und intuitivem Erleben, die seither nachhaltig die Wahrnehmung und den Umgang mit Kunst bestimmt hat.
Noch für Jacob Burckhardt, der seinen "Cicerone" (1855) bekanntlich als "Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens" verstanden wissen wollte, galt diese strikte Trennung nicht. Mit Genuss beschrieb Burckhardt, so Wilhelm Schlink, in erster Linie eine Erkenntnisleistung, nämlich das vollständige Verständnis (kunst-)historischer Zusammenhänge.[5] Seine Auffassung war ein Nachhall des "klassischen" Begriff vom Genuss als "Einverleibung", demzufolge sich leibliche Lust des Subjekts mit erkennender Teilnahme am Objekt verbindet.[6]

Unter dem Eindruck der Kritik am Wissenschaftsparadigma, die seit der Jahrhundertwende virulent wurde, und beeinflusst durch die Einfühlungstheorie (Theodor Lipps‘ Rede vom ästhetischen Genuss als "objektiviertem Selbstgenuss"), die psychologische Ästhetik und die Kunsterziehungsbewegung, verschoben sich um 1900 die Maßstäbe. Auf dem Feld der Kunstkritik, die, initiiert durch die französische Modernetheorie, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert den sensualistischen Zugang zu Kunst verabsolutierte, wollte man Genuss als Aktivierungsleistung und ästhetische Aneignung verstanden wissen. Kunstgenuss wurde zunehmend aufgefasst als ein innerlich nachschaffendes Genießen, das jedem unvoreingenommen Betrachter zugänglich war, im Gegensatz zum wissenschaftlichem Bemühen der Kunstgeschichte, die etwa von Vertretern der Volksbildungsbewegung als distanzschaffende Verstandesleistung kritisiert wurde.

Voraussetzung für den Genuss war dabei weder ein antrainierter "Geschmack", noch bloßes Bildungswissen, sondern zuallererst die disziplinierte Schulung des rezeptiven Sensoriums: Der Genuss, das heißt die Delikatesse und Köstlichkeit von Form und Farbe, hatte das genussfähige Auge zur Voraussetzung, weshalb "Sehen lernen" und "Augengymnastik" überall dort zum Leitbild avancierten, wo es galt, bildungsferne Schichten an die Kunst heranzuführen, so zum Beispiel in der Volksbildung, der Museumsdidaktik und dem schulischen Kunstunterricht. Während die bürgerlich-progressive Kunstkritik zur Zeit des Wilhelminismus darin konform ging, dass Kunstgenuss als einzig legitimer Gradmesser ästhetischer Rezeptivität das Auszeichnungsmerkmal einer schmalen Elite kultivierter Kenner sei, galt in der kunstpädagogischen Breitenbildung die idealistische Maxime, dass die stufenweise Hinwendung zum "Genuss der Werke" einer Selbsterhöhung gleichkam, die aus den zivilisatorischen Niederungen des Daseins in die lichten Höhen wahren Menschentums führte.

Der geschäftstüchtige Verleger Artur Seemann, der um die Jahrhundertwende das wachsende Interesse breiter Schichten an Kunst mit billigen Druckerzeugnissen befriedigte, registrierte denn auch einen "Hunger nach Kunst" und wollte die "Erziehung zur Genussfähigkeit" als Grundrecht einer an geistigen Gütern darbenden Masse verstanden wissen.[7] Die Rede vom Genuss war auch Reflex auf die Erfahrung einer nivellierenden Massengesellschaft, welche Möglichkeiten "demokratischer" Teilhabe eröffnete und zugleich, im bürgerlichen Sinne, innerlich nobilitierend und "erhebend" wirken sollte.

Den Facetten und konkreten Bedeutungsdimensionen der Metapher vom "Genuss" für die Kunstkritik und populäre Kunstvermittlung will der Workshop im Sinne eines Sondierungsgesprächs nachgehen. Dabei soll es einerseits um die Bedeutungsschichten des Begriffs gehen, der naturgemäß unterschiedliche Diskursfelder (Ästhetik, Kunsttheorie, Physiologie, Psychologie) semantisch verklammert. Andererseits soll auch der Bedeutungswandel beleuchtet werden, den der Begriff seit der Philosophie der Aufklärung erfahren hat und der von einer ihm ursprünglich eingeschriebenen spezifischen Erkenntnisdimension hin zu der bis heute geläufigen, eher indifferenten Verengung auf ein rein sinnliches Vergnügen führte. Am Beispiel unterschiedlicher Positionen will der projektierte Workshop den Genuss in diachroner Perspektive in den Blick fassen und zu klären versuchen, inwieweit sich damit eine spezifische Erfahrungs- und Rezeptionsstruktur der kulturellen Moderne verbindet und welche ästhetischen Erlebnis- und Erkenntnisziele an ihn herangetragen wurden.


Der Workshop wird am 21./22. März 2019 vom Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Siegen und der Lichtenberg-Professur Kunstkritik und Krisenrhetorik des kunstgeschichtlichen Instituts der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam ausgerichtet und findet am kunsthistorischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn statt.

Bitte senden Sie eine Vortragsskizze (max. 3.000 Zeichen) mit kurzen Angaben zum Werdegang bis zum 2. Dezember 2018 an Andreas Zeising (zeisingkunstgeschichte.uni-siegen.de), Stephanie Marchal (Stephanie.Marchalruhr-uni-bochum.de) und Joseph Imorde (imordekunstgeschichte.uni-siegen.de).

PD Dr. Andreas Zeising
Kunsthistorisches Institut der Universität Bonn
Regina-Pacis-Weg 1
D-53113 Bonn

Jun.Prof. Stephanie Marchal
Ruhr-Universität Bochum
Kunstgeschichtliches Institut
Universitätsstraße 150
D-44801 Bochum

Prof. Dr. Joseph Imorde
Universität Siegen
Fakultät II, Lehrstuhl für Kunstgeschichte
Adolf-Reichwein-Strasse 2
D-57068 Siegen

Anmerkungen:
[1] Julius Meier-Graefe: Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente, hrsg. von Catherine Krahmer, Göttingen 2001, S. 25–26.
[2] Wilhelm Fechner: Wie ich mit Primanern Gemälde der Casseler Galerie besprach. Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Friedrich-Gymnasiums, Kassel 1914, S. 2.
[3] Vgl. Cordula Hufnagel: Genuß/Vergnügen, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2010, S. 709–730.
[4] Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München 1977.
[5] Wilhelm Schlink: Jacob Burckhardt über den "Genuß der Kunstwerke", in: Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, 11 (1982), S. 47–55.
[6] Vgl. Wolfgang Binder: "Genuß" in Dichtung und Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 17 (1973), S. 66–92.
[7] Artur Seemann: Der Hunger nach Kunst. Betrachtungen, Leipzig/Berlin 1901.

Quellennachweis:
CFP: Ästhetischer Genuss als Metapher populärer Kunstvermittlung (Bonn, 21-22 Mar 19). In: ArtHist.net, 14.10.2018. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/archive/19244>.

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