Der durch Globalisierung geweitete Blick auf die Welt hat auch dem Interesse an einer über den engeren Horizont hinausgehenden Wahrnehmung in der Vergangenheit neue Aufmerksamkeit beschert. Insbesondere das Erlebnis des Anderen und Irritationen durch ungewohnte Eindrücke fanden Resonanz in der Forschung und stehen seit einiger Zeit im Zentrum einer Wissenschaft, die sich mit Eigenem und Fremden sowie dem Bewusstsein für Individualität und Identität befasst.
Auch das schön gedruckte und reich illustrierte Buch von Elizabeth Ross über die Pilgerreise des Mainzer Domdekans Bernhard von Breydenbach ordnet sich hier ein. Wobei zu betonen ist, dass der 1486 herausgebrachte Reisebericht als Gegenstand der Forschung zwar perfekt zur modernen Stimmungslage passt, aber schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Anlass zu teilweise ausführlichen Studien bot und die Autorin deshalb ein gut bestelltes Feld vorfindet, auf dem bis heute permanent gearbeitet wird.[1] Pilgerschaft im späten Mittelalter, das Verhältnis von Text und Illustration, Sehen als Autorität, die Auseinandersetzung mit Fremdheit und die Transformation von Erlebnissen in Bilder, die sich bei Breydenbach speziell in den Wiedergaben großer Städte von Hand des Zeichners Erhard Reuwich konkretisiert, und alles dies im Kontext kirchlich bestimmter Medienhoheit: Diese Themen sind nicht neu; sie werden bei Ross aber noch einmal aufgegriffen und in eine moderne Perspektive gestellt. Dabei gilt das Hauptaugenmerk nun den vielfältigen zeittypischen (Entstehungs-)Bedingungen der Schrift und den Verfahrensweisen frühneuzeitlicher Kommunikation. Bemerkenswert ist zudem der auffällige Versuch zu aktualisieren und durch Vergleiche mit heutigen Seherfahrungen der Spezifik des Erlebens im 15. Jahrhunderts vor dem Hintergrund religiöser Konflikte Kontur zu verleihen.
Bevor dies vor allem im letzten Kapitel anhand von Reuwichs religiös bestimmtem Blick auf Jerusalem demonstriert wird, führt die Autorin den Leser in vier Abschnitten durch die Welt der Reisenden, durch deren gelenkte Wahrnehmung und die Strategien der Vermittlung ihrer Erlebnisse. So kann das ungewöhnliche Titelblatt von Breydenbachs Buch, das als Hauptfigur eine herausgeputzte Venezianerin zeigt, zum Musterbeispiel einer Verdichtung aus sehr heterogenen Bedingungen werden. Manche der von Ross präsentierten Einsichten bleiben gleichwohl assoziativ und verlangen nach Schärfung der Argumente und Differenzierung der Aussagen. Denn Breydenbachs illustrierter Reisebericht steht ja in seiner Zeit keineswegs allein. Zahlreiche Konkurrenzunternehmungen demonstrieren, wie groß das Interesse an dieser Art von (Abenteuer-)Literatur war und welche Wege beschritten wurden, um dieses Interesse zu decken, das wesentlich von einer im späten Mittealter um sich greifenden „curiositas“ herrührte, die nicht zuletzt Theologen Kopfzerbrechen bereitete, weil sie sich immer stärker dem Wunsch nach handfesten Beweisen auch für bis dahin geglaubte Wahrheiten ausgesetzt sahen.
Für diese Themen und Fragen wie für viele andere mehr ist die Beschäftigung mit der bis in jüngste Zeit ungebrochenen Forschung zwingend erforderlich. Doch hier tun sich bei Elizabeth Ross gravierende Lücken auf. Denn sie stützt sich auf eine teilweise eher willkürlich anmutende Auswahl der Literatur. Askese, Bequemlichkeit oder Dialogverweigerung? Darüber kann man streiten. Nicht aber über die Folgen. Denn die Nichtbeachtung wichtiger, gerade auch neuerer Studien führt zu allzu hermetischer Abgeschlossenheit in vielen Bereichen, die zwar wortreich verhandelt werden, aber eben nicht mit der wünschbaren Diskursbereitschaft. Über kartographische Verfahren und das Porträt von Städten in der frühen Neuzeit lässt sich beispielsweise kaum ohne Rücksicht auf die zahlreichen Arbeiten von Cesare de Seta und Lucia Nuti sprechen.[2] Darüber hinaus traten Ästhetik, Ikonographie und Wissenschaftlichkeit solcher Bilder in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit.[3] „Globalisierung“ und „Medienrevolution“ des 15. Jahrhunderts hätten es ebenso verdient gehabt, im Lichte wenigstens einer Auswahl neuerer Überlegungen aus unterschiedlichen Disziplinen diskutiert und für das Verfahren des „picturing“ berücksichtigt zu werden. Gleiches gilt für die Umsetzung konditionierten Sehens auf der Grundlage heimischer Erfahrung, die Arnold Esch schon vor mehr als 20 Jahren in einer klassischen Studie untersucht hat.[4]
Weil aber die Vertrautheit mit der und die Anregung durch die Meinung anderer oftmals fehlen, bleiben immer wieder empfindliche Leerstellen in der Präsentation: So stellt sich die Frage, inwieweit wir angesichts der Verwandtschaft vieler Pilgerberichte untereinander mit einem Basistext rechnen dürfen und was dies für das Buch Breydenbachs bedeutet.[5] Ein notwendiger und zielführender Vergleich mit den Reisebeschreibungen von Felix Fabri, der sich 1480 und 1483 ebenfalls im Heiligen Land aufhielt, erforderte die Auseinandersetzung mit der jüngsten fundamentalen Studie über die Werke des Ulmer Dominikaners.[6] Und um den Stellenwert der Bilder Reuwichs einzuschätzen, hätte die neue kommentierte Ausgabe von Konrad Grünembergs Reisebericht, der dem Buch Breydenbachs unmittelbar zeitlich folgt, zum wissenschaftlichen Ansatz- und Ausgangspunkt werden müssen.[7] Denn Grünemberg bezieht eine eigene Position: Er nutzt nicht nur die (veränderten) Bilder Reuwichs, er bringt auch eigene ein. Selbst im Detail macht sich die aus der Blindheit gegenüber der Forschung resultierende mangelnde Umsicht bemerkbar: Die Analyse des bekannten Holzschnitts mit den Tieren des Heiligen Landes wäre erheblich weiter zu fassen und in eine Tradition einzubetten gewesen, die Naturwissenschaft, Religion und Fremderfahrung als Aktanten miteinander verschmilzt und so „picturing experience“ als System aus sehr unterschiedlichen Faktoren ernst nimmt.[8]
Die andere Seite des Fehlens einer souveränen Beherrschung der Materie zeigt sich in oftmals apodiktischen Aussagen, die unter Berücksichtigung einschlägiger Arbeiten sicherlich differenzierter ausgefallen wären. Bereits die aufklärerisch anmutende Anamnese „Breydenbach knows because he saw“ (S. 44) ist für das späte 15. Jahrhundert so richtig wie unscharf. Denn selbstverständlich und mindestens ebenso sicher gilt der Satz auch umgekehrt. Der Mainzer Domherr war ja davon überzeugt, allein durch Glauben in rechter Weise sehen zu können. Auch hier könnten Fabri und seine nicht widerspruchsfreien Ansichten über Juden und Moslems als Kontrastfolie dienen. Wenn das bei Ross kaum ausreichend geschieht, dann deshalb, weil sie aus Breydenbach einen Zeitgenossen machen will, der als einer der ersten moderne Wahrnehmung vorführt und modern handelt. Diesbezüglich klar ist schon ihre Aussage über die Beschäftigung des Zeichners: „Taking an artist on such a reconnaissance mission was unprecedented“ (S. 1). Leider aber völlig falsch. Denn ähnliches ist schon aus der Mitte des 15. Jahrhunderts bekannt, und man darf auch an Jan van Eyck erinnern, der ab 1426 an wichtigen Gesandtschaften Philipps des Guten von Burgund teilnimmt, um beweiskräftige Bilder und damit eine Sicherheit zu liefern, die gesprochene oder geschriebene Worte nicht bereitstellen konnten. Van Eyck aber wäre auch im Zusammenhang mit Reuwichs Karte vom Heiligen Land und seiner und Jerusalemansicht wichtig gewesen. Denn dessen Rolle als Kartograph von einzigartiger Genauigkeit war um die Mitte des 15. Jahrhunderts – wenn wir Bartholomäus Facius Glauben schenken dürfen – unumstritten.
Das Fazit fällt also zwiespältig aus: Interessant im individuellen Zugriff auf die Materie, aber merkwürdig isoliert und damit vielfach der jüngeren Forschung enthoben, besser ausweichend. Positionierung hätte man sich anders gewünscht.Anmerkungen
[1] Zuletzt ausführlich Frederike Timm, Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breydenbach und die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Die „Peregrinatio in terram sanctam“ (1486) als Propagandainstrument im Mantel der gelehrten Pilgerschrift, Stuttgart 2006.
[2] Città d’Europa. Iconographia e vedutismo dal XV al XVIII secolo. Hrsg. von Cesare de Seta, Neapel 1996; L’europa moderna. Cartographia urbana e vedutismo. Hrsg. von Cesare de Seta u. Daniela Stroffolino, Neapel 2001; Lucia Nuti, Ritratti di città. Visione e memoria tra Medioevo e Settecento, Venedig 1996.
[3] Vgl. etwa die Beiträge in: Aufsicht – Ansicht – Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Tanja Michalsky u. Felicitas Schmieder, Berlin 2009 sowie Tanja Michalsky, Projektion und Imagination. Die niederländischen Landschaften der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München 2011.
[4] Arnold Esch, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253, 1991, S. 281-321.
[5] Vgl. Josephie Brefeld, A Guidebook for the Jerusalem Pilgrimage in the Late Middle Ages. A Case for Computer-Aided Textual Criticism, Hilversum 1994.
[6] Stefan Schröder, Zwischen Christentum und Islam. Kulturelle Grenzen in den spätmittelalterlichen Pilgerberichten des Felix Fabri (Orbis mediaevalis, 11), Berlin 2009.
[7] Andrea Denke, Konrad Grünembergs Pilgerreise ins Heilige Land 1486. Untersuchung, Edition und Kommentar (Stuttgarter historische Forschungen, 11), Köln – Weimar – Wien 2011.
[8] Klaus Niehr, „als ich das selber erkundet vnd gesehen hab“. Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in Bernhard von Breydenbachs Peregrinationes in Terram Sanctam und anderen Pilgerberichten des ausgehenden Mittelalters, in: Gutenberg-Jahrbuch 2001, S. 269-300.
Ross, Elizabeth: Picturing Experience in the Early Printed Book. Breydenbach's Peregrinatio from Venice to Jerusalem, Pennsylvania State University Press 2014
ISBN-13: 978-0-271-06122-1, 235 S., EUR 63,15
Recommended Citation:
Klaus Niehr: [Review of:] Ross, Elizabeth: Picturing Experience in the Early Printed Book. Breydenbach's Peregrinatio from Venice to Jerusalem, 2014. In: ArtHist.net, Feb 23, 2015 (accessed Dec 22, 2024), <https://arthist.net/reviews/8099>.
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