Seine ersten künstlerischen Erfolge feierte er in New York City, doch vor allem das wilhelminische Berlin repräsentierte für ihn das "Ultramoderne" schlechthin. Mit den Augen eines US-amerikanischen Homosexuellen, der zudem dicht vernetzt war, lernte er die Berliner Kunstszene und Subkulturen kennen, während er zu einem eigenwilligen, vom Expressionismus und Kubismus inspirierten Stil fand. Dort entstanden während drei Aufenthalten zwischen 1913 und 1915 auch seine bekanntesten Werkgruppen, aus denen 30 exponierte Beispiele in der Neuen Nationalgalerie Berlin unter dem Titel "Die deutschen Bilder" vorgestellt werden. In seinem Heimatland firmiert der Maler Marsden Hartley (1877–1943) als Protagonist der Moderne, in Europa ist er bislang weitgehend unbekannt. Deshalb ist die von Dieter Scholz initiierte und kuratierte Ausstellung bestens für das Themenjahr "1914. Aufbruch. Weltbruch" geeignet, mit dem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Umbrüche des Ersten Weltkriegs aus unterschiedlichen und zum Teil neuen Blickwinkeln beleuchten möchte.
Bereits der Grundriss des Ausstellungsparcours in Form eines Eisernen Kreuzes ist eine originelle Lösung, um die nicht allzu üppige Anzahl an Werken optimal zur Geltung zu bringen und vielschichtig im Spannungsfeld historischer ebenso wie kunst- und kulturgeschichtlicher Kontexte zu erkunden. Man betritt den Raum an den Schnittstellen der Kreuzarme, wo schräg gestellte Wände im 45-Grad-Winkel einen direkten Zugang zur Mitte verhindern. Man muss sich in der von außen nicht überschaubaren Architektur im Erdgeschoss der Neuen Nationalgalerie also zunächst orientieren, um dann die Bedeutung des Grundrisses im Abgleich mit den Exponaten zu erschließen.
In drei Kreuzarmen sind jeweils zehn Gemälde Hartleys aus den Jahren 1912 bis 1916 zu sehen, die tendenziell zu inhaltlichen Gruppen arrangiert wurden. Der erste enthält Werke von 1912 bis 1914, mit denen die Anregungen des Kubismus und Wassily Kandinskys für Hartleys stark abstrahierte Farb- und Formenverschachtelungen, die als visuelle Pendants zur Musik gedacht sind, nachvollziehbar werden. Besonders deutlich tritt die Faszination für Militärparaden zutage, die etwa in der an eine Majestas Domini erinnernden Komposition von "The Warriors" (1913) ornamental gefasst und mit mystischer Vagheit überhöht werden. Religiöse Anspielungen und wiederkehrende, symbolisch aufgeladene Motive verdeutlichen, warum Hartley unter anderem die Bezeichnung "kosmischer Kubismus" für seine damaligen Bilder wählte.[1]
Die zweite Abteilung rechts davon gewährt Einblicke in Hartleys Werke der Jahre 1913 bis 1915. In der Mitte der Stirnwand hängt sein prominentestes Gemälde, das 1914 entstandene "Portrait of a German Officer", das als Kulminationspunkt der Ausstellung inszeniert ist. Mit 173,4 x 105,1 cm gehört es zu seinen größten Leinwänden und eröffnet zudem seine berühmteste Serie, die sogenannten "War Motifs". Die Sonderstellung des 'Porträts' ist nicht zuletzt der gravierenden biografischen Zäsur geschuldet, die Hartley zu diesem Bild bewogen hat. Es ist eine Art Epitaph für den Deutschen Carl von Freyburg, der mit seinem frühen Tod am 7.10.1914 zu den frühen Opfern des Ersten Weltkriegs zählt. Wie aus seinen Briefen hervorgeht, liebte der Maler den jungen Offizier innig, doch da konkretere Hinweise fehlen, bleibt es bis heute offen, ob die beiden tatsächlich liiert waren.
Der interessanteste Aspekt von "Portrait of a German Officer" ist die verschlüsselte Darstellung von Freyburgs durch eine flächig-ornamentale Schichtung von Militärabzeichen auf schwarzem Grund, die von US-amerikanischen Stilllebenmalern wie William Michael Harnett, aber auch durch Trophäenständer motiviert worden sein könnte.[2] Die Zahlen und Motive verweisen zum Beispiel auf die Regimentszugehörigkeit oder das Alter des Offiziers. Das Porträt entpuppt sich somit als originelles Erinnerungsbild an einen Toten, der nur noch indirekt fassbar ist. Ein Eisernes Kreuz, wie es von Freyburg kurz vor dessen Tod verliehen wurde, positionierte Hartley zentral, jedoch nicht nur zum Gedenken, sondern auch weil er sich von dessen Form angesprochen fühlte.[3] Der Ausstellungsgrundriss reflektiert also neben politisch-historischen auch vielschichtige biografische und ästhetische Bezüge, die für Hartleys Deutschlandaufenthalt prägend waren. Flankiert wird das Porträt von weiteren "War Motifs", aber auch von früheren Leinwänden mit abstrahierten Tierdarstellungen. Deren spirituelle Ikonografie erinnert entfernt an Werke Franz Marcs, mit dem Hartley tatsächlich in Kontakt stand.
Der dritte Kreuzarm ist vorrangig den Gemälden der "Amerika"-Serie vorbehalten, in denen Hartley um 1913/14 Motive nordamerikanischer Ureinwohner adaptierte. Im Zentrum der Abteilung prangt "Indian Fantasy" von 1914, dessen Titel Hartleys Formen- und Motivwahl wohl am besten charakterisiert. In der Tat handelt es sich durchgehend um verklärend-ornamentale Fantasiestücke voller Stereotypen. Die durchaus eindrucksvollen Bilder der "Amerika"-Serie werden gemeinhin als Versuch des ständig unter Geldmangel leidenden Künstlers verstanden, aus seiner Herkunft und der 'Indianer'-Faszination vieler Deutscher Kapital zu schlagen – Hartley wählte den Obertitel "Amerika" übrigens bewusst in der deutschen Schreibweise. Die Serie ist zugleich auch Bestandteil seiner lebenslangen Suche nach einer genuin amerikanisch verwurzelten Kunst. Indigenen Nordamerikanern sollte Hartley erst 1918 persönlich begegnen, als er in den Südwesten der USA reiste.[4]
Den Abschluss dieser Abteilung bildet das 1916 entstandene "One Portrait of One Woman", das als Stillleben den Porträtansatz der "War Motifs" mit klareren Kompositionen weiterführt. Dieses Bild ist goldrichtig platziert, um eine Verbindung zwischen den "deutschen Bildern" und der anschließenden New Yorker Phase anzudeuten. Allerdings wünschte man sich den in der Forschung anerkannten Hinweis darauf, dass es sich um ein Krypto-Porträt von Gertrude Stein handelt.[5]
Eine maßgebliche Strategie, um Hartleys Werkgruppen zueinander ins Verhältnis zu setzen, beruht darauf, dass sie eben nicht trennscharf auf die drei Kreuzarme verteilt sind. Mit den schrägen Wänden der quadratischen Mittelsektion werden diagonale Blickachsen etabliert, die für visuelle Zusammenhänge zwischen den drei Abteilungen sensibilisieren. Man erkennt beispielsweise, dass Hartley unabhängig vom Inhalt gern ähnliche Kompositionsschemata aufgreift, oftmals achsensymmetrische Arrangements mit runden oder annähernd pyramidenförmigen Formen im Zentrum. Dergestalt wird evident, dass etwa die Affinität des Künstlers für militärische Rituale und Objekte, die sich bereits vor Carl von Freyburgs Tod manifestiert, nicht als kriegsverherrlichender Militarismus misszuverstehen ist. Vielmehr ist sie Bestandteil eines mystisch aufgeladenen synkretistischen Konzepts, das Hartley mit evokativen Flächenornamenten auszufüllen sucht, wobei er auch die Rahmen bemalte und in sein ästhetisches Kalkül einbezog.
Dass Hartley als Suchender präsentiert werden soll, bestätigen die Exponate im Zentrum der Ausstellung. Sie wurden aus Berliner Sammlungen zusammengetragen, um das Repertoire, aus dem Hartley seine Anregungen schöpfte, zu umreißen. Dazu gehören religiöse Darstellungen aus Europa und dem fernen Osten ebenso wie bayerische Hinterglasbilder. Ferner rangieren darunter Artefakte indigener nordamerikanischer Kulturen, die er für die "Amerika"-Bilder verwendete. Diese studierte Hartley nämlich insbesondere in den ethnologischen Museen von Paris und Berlin.[6]
Den Kern dieser Ausstellungszone bildet eine Vitrine mit vorrangig militärischen Objekten aus dem Deutschen Historischen Museum, wie sie Hartley in "Portrait of a German Officer" verarbeitet hat. Sie bildet mit dem Gemälde eine Achse und ragt schräg auf, sodass sie den direkten Vergleich zwischen der Bildkomposition und der daran orientierten Anordnung von Realien ermöglicht. Dieser kleine Geniestreich veranschaulicht Hartleys Inspirationsquellen für das "Portrait" mit überzeugender Systematik und führt darüber hinaus eindrucksvoll die Verdichtungsarbeit vor Augen, mit der er seine Vorbilder einer collageartigen Synthese unterzogen hat: Das Raffinement von "Portrait of a German Officer" erschöpft sich nicht in der aufzählenden Entzifferung seiner Motive, so viel wird deutlich. Gerade dieser ästhetische Aspekt könnte expliziter thematisiert werden, übrigens auch im Ausstellungskatalog.
Der vierte Kreuzarm schließlich, der den "War Motifs" und der Vitrine direkt gegenüberliegt, dient als Filmkabine. Hier erhält das Schaffen Hartleys mit Aufnahmen von Militärparaden und der Mobilmachung in Berlin sowie mit Fragmenten von "Anders als die anderen" (1919), dem ersten deutschen Film über Homosexualität, eine historische und kulturgeschichtliche Grundierung.
Ein kleiner Wermutstropfen im insgesamt überzeugenden Ausstellungskonzept ist die Reduktion von Hartleys vielfältigem, mehr als vier Jahrzehnte überspannendem Oeuvre auf die kurze, wenngleich bedeutende Phase von drei Jahren. Ein Blick über den Tellerrand seiner ersten Deutschlandaufenthalte hätte zu zeigen vermocht, wie sehr sich die Suche nach einer persönlichen, künstlerischen und nationalen Identität auch durch ständige Stilbrüche äußerte. Ein entsprechender zusätzlicher Beitrag im Katalog wäre hilfreich gewesen. Ansonsten werden dort die Umstände von Hartleys "deutschen Bildern" umfassend erörtert, von den biografischen Hintergründen über seine spirituelle Entwicklung, seine Beziehung zum preußischen Militär und zur Berliner Homosexuellenszene, sowie zu den Besitzern seiner wenigen in Deutschland verkauften Werke, bis hin zur Tradition der US-amerikanischen Künstlerreise nach Europa. Der umfassende multiperspektivische Ansatz des Katalogs führt zwar gelegentlich zu Wiederholungen, doch gemeinsam mit Materialien wie Postkarten Hartleys aus Berlin oder Übersetzungen seiner Korrespondenz mit Künstlern des Blauen Reiters machen sie den Band zum potenziellen Standardwerk, das hoffentlich anlässlich der zweiten Etappe im Los Angeles County Museum of Art auch in den USA angemessen rezipiert wird. Erstaunlich ist freilich die Zurückhaltung des Verlages Walther König auf Rezensionsanfragen, denn der Katalog bedarf mitnichten eines Feigenblatts – im Gegenteil: Er ist äußerst lesenswert, sehr gut recherchiert und dazu noch ansprechend gestaltet!
Alles in allem ist "Marsden Hartley: Die deutschen Bilder 1913–1915" eine konzentrierte und präzise Ausstellung, die durch ein überzeugendes Raum- und Präsentationskonzept besticht, auf gelungene Weise Exponate aus amerikanischen und Berliner Sammlungen zusammenbringt und vom Katalog nahezu optimal ergänzt wird. Leider gibt es keine zweite deutsche Station, wie Museumsdirektor Udo Kittelmann auf der Eröffnungspressekonferenz am 4. April 2014 eigens hervorhob, da entsprechende Verhandlungen aufgrund der "mangelnden Popularität" des Künstlers gescheitert seien. Dabei wird gerade hier der Beweis erbracht, dass mehr Offenheit für Nicht-Kanonisches spannende (Wieder-)Entdeckungen und differenzierte Einsichten zu zeitigen vermag. Von Ausstellungen wie dieser können Besucher und Experten auf beiden Seiten des Atlantiks profitieren.
Anmerkungen
[1] Vgl. Marsden Hartley. [Ausst.-Kat.]. Hrsg. von Elizabeth Mankin Kornhauser. New Haven, London: Yale University Press, 2002, S. 295.
[2] Vgl. Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913¬–1915. [Ausst.-Kat.]. Hrsg. von Dieter Scholz. Köln: Walther König, 2014, S. 137.
[3] Vgl. ebd., S. 136.
[4] Vgl. Wanda M. Corn: "Marsden Hartley's Native Amerika." In: Marsden Hartley. Hrsg. von Elizabeth Mankin Kornhauser. [Ausst.-Kat.]. New Haven, London: Yale University Press, 2002, S. 69–85.
[5] Vgl. Heather Hole: Marsden Hartley and the West. [Ausst.-Kat.]. New Haven, London: Yale University Press, 2007, S. 21.
[6] Vgl. Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913–1915. [Ausst.-Kat.]. Hrsg. von Dieter Scholz. Köln: Walther König, 2014, S. 119.
Dieter Scholz (Hrsg.): Marsden Hartley. Die deutschen Bilder. 1913-1915, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2014
ISBN-13: 978-3-86335-540-1, 207 S., 29,90 EUR
Empfohlene Zitation:
Ralf Michael Fischer: [Rezension zu:] Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913-1915 (Berlin) (Berlin, Neue Nationalgalerie, 05.04.–29.06.2014). In: ArtHist.net, 13.06.2014. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/7991>.
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