REV-CONF 20.02.2004

IMITATIO ARTIS im Mittelalter

Dresden, 06.–07.02.2004

Bericht von Cornelia Logemann
Ulrich Pfisterer, LMU München
Redaktion: Rainer Donandt

IMITATIO ARTIS im Mittelalter. Dresdner Arbeitsgespräche zur Kunstgeschichte II

'Nachahmung der Kunst' als wissenschaftliche Kategorie wurde wenn nicht in Dresden erfunden, so doch zumindest für ein breiteres Publikum eingeführt. Denn dort veröffentlichte Johann Joachim Winckelmann sowohl 1755 seine ihn über Nacht berühmt machende Erstlingsschrift "Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst" als auch 1764 seine "Geschichte der Kunst des Althertums", die den 'Stilfortschritt', d.h. das Streben nach der idealen Natur, u.a. als verbessernde Nachahmung bzw. Abfall von Vorbildern entwickelt. So zählt die Frage der 'Nachahmung' zwar zu den ältesten methodischen Ansätzen der Kunstgeschichte, aber wohl gerade deshalb auch zu den in den vergangenen, an neuen Methoden und Ansätzen reichen Jahrzehnten verhältnismäßig wenig kritisch hinterfragten. Man versuche nur, in einem der großen kunsthistorischen Lexika präzise Definitionen für so fundamentale und allgegenwärtige Begriffe wie Nachahmung und damit zusammenhängend Vorbild, Kopie, Zitat, Variation, Motiv usw. zu finden - theoretische Vorarbeiten dazu wie die von Donat de Chapeaurouge ("Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive", 1974) fanden zunächst wenig Anklang. Erst in letzter Zeit zeichnet sich ein neues Interesse für alle Mechanismen der Tradierung und Anverwandlung von Vorbildern und Wissen, für das 'Bildgedächtnis' sowie für Intertextualität und verwandte Phänomene im Bereich der Anschauung ab, wenn auch vor allem auf Frühe Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert konzentriert.

Um so willkommener mußte daher das Dresdner Arbeitsgespräch 'Imitatio artis im Mittelalter' erscheinen, das zweite einer auf mehrere Veranstaltungen angelegten und noch bis in die Gegenwart ausgreifenden, interdiziplinären Tagungs-Reihe unter Federführung der Kunstgeschichte, diesmal organisiert von Bruno Klein.

[Das Programm unter: www.tu-dresden.de/phfikm/Kunstgeschichtefinal/Aktuellesframe.html]

Die Ausgangslage für die Untersuchung mittelalterlicher Nachahmung von Kunst unterscheidet sich dabei grundlegend von der vorausgehenden antiken und aller späteren: In den zeitgenössischen Quellen wird zwar das aristotelische Diktum von der Natur-Nachahmung, dem "ars naturam imitat", allenthalben und in verschiedenen Modifikationen wiederholt, für die in der Praxis vielfach aufscheinende Nachahmung von Architektur, Malerei oder Skulptur existieren jedoch unter dem theoretischen Konzept 'imitatio artis' keine Nachweise (Götz Pochat) - eine Situation, wie sie sich im übrigen ganz ähnlich in der Musik der Zeit präsentiert, die ebenfalls vielfältige Formen der Nachahmung verwendet, aber erst aus dem Jahr 1643 einen konkreten Hinweis auf nachahmenswerte 'klassische Komponisten' des vorausgehenden 16. Jahrhunderts kennt (Michael Heinemann). Anders dagegen die Literatur (Ludger Lieb): Hier läßt sich etwa für die deutschsprachigen Autoren nachweisen, daß sie im Zuge der Übersetzung und Übernahme von Erzählungen der Romania ab dem späten 12. Jahrhundert ein Bewußtsein dafür entwickeln, daß sie (1.) autorisierte Vorbilder in (2.) zeitlicher Distanz aufgreifen und zwar (3.) in betonter Differenz und Abwandlung zum Imitierten. Dieses hier skizzierte, enger gefaßte Verständnis von 'imitatio artis', das dann auch zu Petrarcas Bild vom 'Umschmelzen' des vorbildlichen Werkes zu etwas Eigenem im 'Brennofen des Geistes' und den neuzeitlichen Definitionen des Imitatio-Begriffs führen wird, hätte - auf die Künste übertragen - den Vorteil, für die Forschung eine klare Abgrenzung zu anderen Phänomenen wie Kopien, Zitaten und rein 'produktionsimmanenten' Übernahmen von Vorlagen (Beispiel Musterbücher) zu schaffen: Lassen sich doch einerseits bei mittelalterlichen Kopien und Zitaten (und eingedenk ihres im Vergleich zur modernen Vorstellung völlig anders gearteten Charakters) nur schwer Indizien für eine absichtsvolle Umarbeitung und damit reflektierte Distanzierung des Imitierten erkennen, wogegen andererseits bei 'produktionsimmanenten' Übernahmen der Betrachter in der Regel das Vorbild des Künstlers überhaupt nicht erkennen sollte und brauchte - und also etwa eine konkrete Musterbuch-Vorlage dem Kunstwerk auch kaum einen semantischen Mehrwert verschaffte.

Es sei gleich vorweggenommen, daß alle folgenden Beiträge der Dresdner Tagung, je zur Hälfte den Bildkünsten und der Architektur gewidmet, nicht mehr auf dieses spezifische Verständnis von imitatio artis zurückkommen sollten, sondern praktisch jeder Vortrag eine neue Variante weiter gefaßter Nachahmung von Kunst vorstellte.

Martin Büchsel entwickelte an zwei Beispielen des frühen und späten Mittelalters, den 'ersten Christusporträts' und Jan van Eycks Bildnis des Kanonikus van der Paele, wie den in unseren Augen formelhaften Gesichtszügen der Christusdarstellungen Porträtstatus zuwachsen konnte und wie umgekehrt die so lebensecht beobachtete Hinfälligkeit im Porträt des van Eyck'schen Stifters (oder vielleicht genauer: wie der Verzicht auf idealisierende Verjüngung in dessen Porträt), nur aus Erlösungs- und Hoffnungs-Topoi des Alters zu verstehen ist - beidesmal fällt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und von entgegengesetzten Ausgangspunkten her, die imitatio von Bildformeln mit der imitatio naturae zusammen.

Um 'intermediale Nachahmung' ging es Klaus Krüger in seinem Abendvortrag zu "Präsenz und Repräsentation im deutschen Altarbild des 13. Jahrhunderts": An den frühen Altartafeln aus Soest und Quedlinburg, heute in der Berliner Gemäldegalerie, zeigt sich eine Form der imitatio, in deren Verlauf figurale Typen und medienspezifische Gestaltungen einst am Altar zusammengebrachter Kunstwerke, etwa der Goldschmiedekunst, zunächst 'freigesetzt' und dann zu einer neuen, experimentellen Synthese visueller Anschauungsordnungen im Ensemble des Retabels wieder vereint werden.

Harald Wolter-von dem Knesebeck zeigte die Varianzbreite produktionsimmanenter Imitatio am Beispiel der Umsetzung mittelalterlicher Musterbuch-Vorlagen auf, wobei eine 'perfekte' Integration solcher Bild-Chiffren in einen neuen Gesamtkontext höchsten Künstlerstolz beanspruchte, wie die Inschrift des Johannes Gallicus zu den Wandmalereien des Braunschweiger Doms belegt.

Dagegen bestritt Ulrike Heinrichs-Schreiber für Schongauers Stiche mit Darstellungen von Ornamenten und Goldschmiedewerken, daß diese als Mustervorlagen oder Visierungen gefertigt wurden. Vielmehr seien sie als elaborierte Aussagen des Künstlers über das Verhältnis von Natur- und Kunst-Nachahmung zu verstehen.

Eine 'hermeneutische Nachahmung' glaubte Reindert L. Falkenburg für Boschs 'Garten der Lüste' aufzeigen zu können: Im Rezeptionsprozeß würde sich das Rätsel des Bildes erschließen (bis zu diesem Punkt denkt man an Salvatore Settis' Deutung von Giorgiones 'Gewitter'), der Betrachter sollte sich dabei aber auch des Gegensatzes von äußerem und innerem Sehen und seiner potentiellen Gottebenbildlichkeit bewußt werden.

Wurde in dieser Interpretation zumindest noch andeutungsweise auf das Verhältnis zu anderen Kunstwerken eingegangen, so hatte sich, wenn Bruno Boerner den Appell-Charakter mittelalterlicher Skulpturen am Außenbau von Kirchen unter dem Stichwort 'imitatio Christi, imitatio virtutis' präsentierte, das Verständnis der 'imitatio artis' ganz von der Kunst, die Kunst nachahmt, auf den Betrachter verschoben, der in seinem Verhalten dem im Bild dargestellten positiven oder negativen Exemplum nachstrebt.

In der ebenfalls auf die Tugend-Nachfolge von Erbauer und Betrachter zielenden 'imitatio morum' - als der dritten, seit der Antike geläufigen Form von Nachahmung neben der imitatio naturae und der imitatio auctorum - sah Christian Freigang dann auch ein zentrales Movens mittelalterlicher Baukunst begründet: Wenn in den Textquellen zu gotischen Kathedralen häufig Verweise auf den Tempel Salomons, aber auch auf andere mittelalterliche Bauten zu finden sind, dann wurde dieser Vergleich nicht primär auf formal-künstlerischer Ebene verstanden, sondern als (topisches) Indiz dafür, daß religiöse Gesinnung und materieller Aufwand der Erbauer eine entsprechende Tugendleistung und gottgefällige Handlung in der Nachfolge Salomons oder anderer Vorbilder darstellten.

Die weiteren drei Beiträge zur Architektur behandelten dagegen formale Dimensionen von Nachahmung: Wolfgang Schenkluhn unternahm eine Präzisierung des Zitat-Begriffs, den er erst ab den 1950er Jahren - und in Absetzung von Richard Krautheimers früheren Ausführungen zur Architekturkopie - u.a. mit den Arbeiten von Günter Bandmann und Hans-Joachim Kunst begründet sieht, womit deren Diskussion um das 'Architektur-Zitat' in Verbindung mit der Krisis der modernen Architektur stünde. Anhand des Aufgreifens der Aachener Pfalzkapelle in Ottmarsheim, Essen und dem Magdeburger Chor mit seinen eingestellten Säulen unterscheidet Schenkluhn dann die Möglichkeiten eines 'wiederholend imitierenden', eines 'zitierenden' und eines 'variierenden' Aufgreifens eines Vorbildes.

Auf die Frage, welche Faktoren die Wahl einer dieser Möglichkeiten beeinflußen konnten, antwortete Dany Sandron mit dem Beispiel von Notre Dame in Paris und ihrem Einfluß auf die kleineren Kirchen der Diözese, d.h. mit der Bedeutung der kirchlichen Organisationsstruktur.

Bewußte Nachahmung verlangt schließlich als entscheidenden Gegenpart immer auch Vorstellungen zu Innovation und Fortschritt. Am Beispiel der spätgotische Architektur Obersachsens entwarf Stefan Bürger ein Modell, wonach in diesem geographischen Kontext künstlerische Entwicklung nicht aus einem kontinuierlichen und aus sich selbst hervorgehenden Wechsel- und Zusammenspiel von imitatio und inventio resultiert, sondern aller Innovationsschub durch von außen zu neuen Aufgaben herangezogene Meister bewirkt wird, deren Nachahmung spätestens in der Schülergeneration dann zu sinkendem Qualitäts-Niveau führt, bis der nächste auswärtige Meister Rettung bringt.

Drei weiterführende Fragenkomplexe zeichneten sich am Ende des Arbeitsgesprächs ab - die teilweise bereits von Bruno Klein in seiner abschließenden Zusammenfassung und kritischen Bilanz benannt wurden: (1.) Autorität und Wert - wodurch wird ein bestimmtes Bild- oder Bauwerk überhaupt zum autoritativen Vorbild? Worin besteht dessen Legitimation bzw. Wert und in welcher Relation steht dazu das 'Nachbild' bzw. die imitierende Umarbeitung, auch im Hinblick auf die Inventions- im Vergleich zur Imitationsleistung? Denkbar wäre etwa, daß sich ähnlich der später geläufigen, aus der antiken Rhetoriklehre entlehnten Steigerung von imitatio, aemulatio und superatio auch im Mittelalter Formen wettstreitender Nachahmung feststellen lassen. (2.) Ähnlichkeit und Stilbewußtsein - welche Kriterien mußten erfüllt sein, damit ein mittelalterliches Werk als imitatio eines anderen wahrgenommen wurde; welche Kategorien und Grade für Ähnlichkeit ließen sich unterscheiden? Für diese bislang vor allem am Beispiel der Architektur erörterten Fragen, die insgesamt auf eine umfassende Geschichte des historischen 'Sehhorizontes', 'Stil- und Medienbewußtseins' im Mittelalter zielen, bestehen hinsichtlich der Bildkünste noch erhebliche Forschungsdefizite. (3.) Wie immer zwingen solche umfassenden Fragen vor dem Hintergrund begrenzter mediävistischer Material- und Quellenbasis zu noch größerer Interdisziplinarität - so ließen sich etwa flankierende Indizien zur imitatio artis aus der Diskussion über die translatio studii und etwa der damit verbundenen literarischen Übersetzungspraxis, aus dem Streit zwischen antiqui und moderni und allgemein der Antikenrezeption oder aber aus Äußerungen über das Fremde und das Eigene erwarten.

Macht man sich schließlich bewußt, daß diese in Dresden unter dem Banner der 'Imitatio artis' erfolgreich und innovativ angegangene Erhellung von Wertsetzung, Stil und historisch-geistesgeschichtlichem Kontext von Kunst ansatzweise bereits das Ziel Winckelmanns dargestellt hatte, wird aber auch nochmals deutlich, welche zentralen oder neutraler: in langer Tradition begründeten Aufgabenfelder einer zukünftigen Kunstgeschichte immer noch bevorstehen.

Empfohlene Zitation:
Cornelia Logemann, Ulrich Pfisterer: [Tagungsbericht zu:] IMITATIO ARTIS im Mittelalter (Dresden, 06.–07.02.2004). In: ArtHist.net, 20.02.2004. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/446>.

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