645 Augenpaare schauen den Besucher aus weißen Köpfen an, wenn er zur Zeit die Abguss-Sammlung antiker Plastik in Berlin-Charlottenburg durchschreitet. Ein Wald von Figuren, ein Panorama bekannter und unbekannter Persönlichkeiten einer langen Periode von 600 vor Christus bis 600 nach Christus hat sich hier versammelt. So wurde eine drangvolle Enge erzeugt, die den Betrachter in einen Statuenwald entführen und ihn an Aufstellungssituationen auf antiken Plätzen, in Gymnasien und in Nekropolen erinnern soll. Die neueste Ausstellung der Abguss-Sammlung hat sich nicht mehr - aber auch nicht weniger - zum Ziel gesetzt, als ausschließlich anhand vorhandener Abgüsse die Geschichte des antiken Porträts von seinen Anfängen im archaischen Griechenland bis hin zur Zeit des frühen Christentums zu präsentieren.
Innerhalb der Abguss-Sammlung wurden einzelne Zeit- und Themengruppen in die Masse der Gipse als Inseln eingebettet. Graphisch abgesetzte Objektbeschriftungen heben hierbei die relevanten Stücke ebenso hervor wie die erläuternden Tafeln, die - teilweise etwas zu ausführlich - zentrale Aspekte der jeweiligen Epoche thematisieren.
Enge und Fülle einerseits und Chronologie andererseits sind die tragenden Pfeiler des Ausstellungskonzeptes. So simpel dies klingt - sind doch dicht gedrängte Gipse und chronologische Sortierung das Rückgrat nahezu jeder archäologischen Abgusssammlung - so überzeugend ist dieses Konzept in der Stringenz seiner Durchführung. Der moderne Besucher, der es gewohnt ist, im Porträt die individuellen Züge des Dargestellten zu wieder zu erkennen, beginnt seinen Rundgang in der Archaik, einer Epoche, in der die individuelle Charakterisierung nahezu völlig hinter der Repräsentation überindividueller Kriterien der Verkörperung adliger Tugenden verborgen blieb; zum Porträt gehörten nicht nur das Gesicht und eine Büste, sondern Statuen des ganzen Körpers. Eine Selektierung war nicht vorgesehen. Katalog und Ausstellung zeichnen auf der Grundlage der Periodisierung der antiken Kunst die Durchgangsphasen von Darstellungsweisen in Abhängigkeit zu jeweiligen übergeordneten Menschenbildern ebenso wie zum sogenannten ,Zeitgesicht' nach. So kann das Bild des Perikles mit dem charakteristischen korinthischen Helm (Kat. Nr. 59, S. 34) ihn einerseits als Strategen, andererseits durch die Zurücknahme individueller Züge als vorbildlichen Polisbürger charakterisieren. Eine Gratwanderung, die sich auch auf den Darstellungen griechischer Grabreliefs gut nachvollziehen läßt (S. 38-39).
Das Herausbilden von Darstellungstypen - so etwa die Fülle der bärtigen Gelehrten, Wissenschaftler und Dichter (S. 46 ff.) oder auch des stürmischen jugendlichen Alexander, der eine immense Auswirkung auf die Porträts seiner Nachfolger als Könige der hellenistischen Welt hatte - sind weitere Effekte, die nicht nur beim Durchwandern der Ausstellung, sondern besonders auch beim Blättern im Katalog eindrucksvoll visualisiert werden (so ca. 60 ff.).
Erst die Bildnisse der Elite des römischen Bürgertums, die durch ,harte Arbeit zu Wohlstand gekommen' war (Klaus Stemmer im Katalog S. 8), scheinen von einem manchmal geradezu brutalen Verismus geprägt zu sein (z.B. S. 107, Kat. 267) und brechen diese Überhöhung und Glättung auf. Mit der römischen Kaiserzeit und der Etablierung der jeweiligen Kaiserserien wird die Angleichung an vorbildliche, durch die Mitglieder des Kaiserhauses vorgegebenen Zeitgesichter zum Leitfaden für ehrgeizige Selbstdarstellung (S. 115 ff.). Daß mit dem Niedergang der heidnischen Religion eine Transzendentierung der Bildnisse, ein Abwenden vom Betrachter und Entgleiten des Blickes nach oben einhergeht zeigt das letzte Kompartiment der Ausstellung.
Die Abkehr vom Porträt in dieser Epoche und das Überbetonen des Visuellen heutzutage lassen an dieser Stelle den Besucher besonders stark in die Leere fallen. Die massive Konfrontierung mit immer gleich scheinenden und doch so verschiedenen Gesichtern veranschaulicht eindrucksvoll, wie stark die Antike von Bildern geprägt war. Wie in jedem guten Werbemanagement konnten Bildnisse konsequent genutzt werden, um unterschiedlichste Ansprüche an Repräsentation zu wecken, zu bedienen und zu befriedigen. Auch Münzen, Gemmen und Prachtkameen (S. 191 ff., Kat. 516-549) verbreiteten in anderem Format diesen Anspruch und trugen ihn weit über die engen Grenzen einer Stadt hinaus.
Besonders auffällig ist an dieser Ausstellung, daß es trotz des eher sachlichen Zugriffs der Macher leicht möglich ist, sich einfach treiben zu lassen und über die drangvolle Enge hinausgehend unterschiedlichste Assoziationen und Eindrücke zuzulassen.
Ein Gegengewicht zu diesem intuitiven Zugang bildet der aufwendige Katalog, der gleich mehrere Besonderheiten aufweisen kann. Zum einen darf er wohl als Bestandskatalog der Porträts der Abguss-Sammlung gelten, zugleich ist jeder Katalognummer eine Abbildung beigegeben, ebenso wie ein Zugriff auf diejenige Literatur, die es ermöglicht, das Stück wissenschaftlich zu erschließen. Zum anderen spiegelt sich in ihm die Anordnung der Ausstellung selbst wider, was dadurch besonders reizvoll ist, daß alle Katalogbeiträge etwa gleich kurz gehalten sind. Der Blick auf die antiken Portraits wird damit enthierarchisiert und egalitär, was es ermöglicht, sich ihnen unvoreingenommen und ohne gezielten Focus auf mondäne oder berühmte Einzelpersönlichkeiten zu widmen.
Die kurze Einleitung von Klaus Stemmer (S. 5-10) gibt einen Überblick über die Geschichte des antiken Porträts ebenso wie über das Konzept und das Zustandekommen der Ausstellung. Hierüber sei abschließend ein Wort verloren: Schon zuvor hat sich die Abguss-Sammlung verschiedentlich darum verdient gemacht, Studenten in die Vorbereitung von Ausstellungen einzubinden. Angesichts der Neuordnung der Ausbildung in BA-Studiengängen dokumentiert sie erneut die besondere Bedeutung der Integration von Berufspraxis in den Universitätsalltag. Diese Ausstellung zeigt, daß eine Bündelung von Ausbildungsteilen dabei überraschend komplexe Ergebnisse erzielen kann.
Das Potential, über das Institutionen wie die Abguss-Sammlung verfügen, ist dabei noch lange nicht ausgeschöpft.[1] Die unglaubliche Fülle, die es ermöglicht, unter unterschiedlichsten Fragestellungen immer wieder Material zu vereinen, es auch akzidentell mit Leihgaben anderer Sammlungen zu ergänzen, scheint schier unbegrenzt. Abgusssammlungen erhalten dadurch weit über das Anfang des 21. Jahrhunderts prognostizierte Ansteigen ihrer Wertschätzung aufgrund des "instrumentalen Charakters"[2] eine kreative Aufgabe in der archäologischen Lehre
[1] Stellvertretend für zahlreiche andere, größtenteils viel beachtete Unternehmungen sei hier auf das Projekt ,Gips nicht mehr' (Bonn) verwiesen: Gips nicht mehr: Abgüsse als letzte Zeugen antiker Kunst; Sonderausstellung von Studierenden des Archäologischen Instituts der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in Zusammenarbeit mit dem Akademischen Kunstmuseum, Antikensammlung der Universität Bonn ; 14. Dezember 2000 bis 25. März 2001, hg. von Johannes Bauer,Bonn/ Köllen 2000.
[2] Frank Matthias Kammel: Der Gipsabguss. Vom Medium der ästhetischen Norm zur toten Konserve der Kunstgeschichte, in: Ästhetische Probleme der Plastik im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Andrea M. Kluxen, Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, Band 9, Nürnberg 2001, S. 65.
Katalog: Schau mir in die Augen ... Das antike Porträt, Ausstellung in der Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität Berlin, Katalog hg. von Friederike Fless, Katja Moede, Klaus Stemmer. Berlin: Abgußsammlung Antiker Plastik der Freien Universität Berlin 2006, 238 S., zahlreiche Abbildungen. Katalog für 15.- EUR in der Ausstellung erhältlich.
Abguss-Sammlung antiker Plastik, Schloss-Str. 69b, 14059 Berlin
Öffnungszeiten: Do - So 14 - 17 Uhr
Eintritt frei
Empfohlene Zitation:
Schreiter Charlotte: [Rezension zu:] Schau mir in die Augen ... Das antike Porträt (Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität Berlin, 20.10.2006–18.02.2007). In: ArtHist.net, 02.01.2007. Letzter Zugriff 29.12.2024. <https://arthist.net/reviews/381>.
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