Anzuzeigen ist eine Berliner Promotionsschrift, die nicht nur wegen ihres Umfangs, sondern vor allem aufgrund ihres Gehalts bemerkenswert ist. Kristina Kratz-Kessemeier widmet sich der staatlichen Kunstpolitik Preußens in der Weimarer Zeit. Im Mittelpunkt steht das Wirken des preußischen Kultusministeriums, das nach der Abdankung des Monarchen und der Errichtung der parlamentarischen Demokratie nunmehr oberste staatliche Entscheidungsbehörde wurde und sich zugleich in ihrem Verhältnis gegenüber den Künsten neu definieren musste. Kratz-Kessemeier konzentriert sich in ihrer umfangreichen Untersuchung ausschließlich auf die bildende Kunst und klammert andere kunstpolitischen Zuständigkeiten des Ministeriums (Musik, Theater, Literatur, Urheberrecht, Ausgrabungen, volkstümliche Kunstpflege, Denkmalpflege) bewusst aus. Diese thematische Schwerpunktsetzung überzeugt durch die von ihr bewältigte Quellen- und Materialfülle und die Stringenz der vorgelegten Analyse. Sie fußt auf der Auswertung schriftlicher Quellen, vornehmlich der kultusministeriellen Überlieferung, der Materialien staatlicher Kunsteinrichtungen, einzelner Nachlässe sowie der zahlreichen zeitgenössischen (Kunst-)Publizistik. Die Arbeit entspricht zudem einem seit langem beklagten Desiderat der Forschung.
Kratz-Kessemeier geht von der Grundthese aus, dass der preußische Staat in deutlicher Abgrenzung zur vorherigen einseitigen Kunstpolitik des deutschen Kaisers und preußischen Königs, des Hohenzollern Wilhelm II., nach dem 9. November 1918 eine demokratisch ausgerichtete Kunstpolitik anstrebte. Als Handlungs- und Entscheidungsmaxime hierfür diente dem preußischen Staat die staatlich garantierte Kunstfreiheit. Die Untersuchung widmet sich zunächst ausführlich den mit der Novemberrevolution gegebenen Rahmenbedingungen für eine neue Kultur- und Kunstpolitik, auf denen unmittelbar auch die Konzipierung des kunstpolitischen Anspruchs im preußischen Kultusministerium basierte. Dem schließt sich eine überzeugende Darstellung der ersten praktischen Neuerungen im Bereich der Museen, der Kunstakademien, des Ausstellungswesens und der staatlichen Kunstverwaltung bis 1921 an. Hier stehen die Vorgänge um den Aufbau, die Eröffnung und Gestaltung der weltweit ersten öffentlichen Staatssammlung zeitgenössischer moderner Kunst im Berliner Kronprinzenpalais, aber auch die Auseinandersetzungen um die Große Berliner Kunstausstellung und die personelle Erneuerung der Berliner Akademie der Künste im Zentrum der Darstellung. Aus zahlreichen zeitgenössischen Quellen werden hierzu die unterschiedlichsten Positionen, wie sie innerhalb des Ministeriums und der preußischen Regierung, von den großen Parteien, verschiedenen Künstlergruppen und -verbänden, von Museumsexperten sowie Kunstkritikern artikuliert und vertreten worden sind, zusammengetragen, miteinander in Beziehung gesetzt und auf mögliche Handlungs- und Entscheidungsspielräume hinterfragt. Analyse und Darstellung insgesamt erfolgen dabei auf mehreren Ebenen. Unter dem Zugriff „Kunstpolitik“ werden die jeweils vorhandenen herrschenden Kunstauffassungen, Ästhetikkonzepte und Vermittlungsprojekte miteinander betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt.
In ihrem Hauptteil beleuchtet die Arbeit auf mehr als 300 Seiten für das Jahrzehnt zwischen 1921 und 1932 die großen kunstpolitischen Handlungsstränge des Ministeriums. Kratz-Kessemeier gelingt dabei eine inhaltlich klar gegliederte, gut lesbare Analyse des ministeriellen Wirkens gegenüber den institutionalisierten Bereichen wie auch den Kunstakademien und Museen. Ebenso untersucht werden die Anstrengungen des Ressorts, das Verhältnis von „Kunst und Volk“ durch neue Bildungskonzepte und Popularisierungsmodelle auf eine breite Basis zu stellen sowie die zeitgenössische deutsche Kunst durch neue Formen der Künstlerhilfe und eine staatliche wie private Ankaufs- und Auftragspolitik zeitgemäß zu fördern. Schwerpunkte der ministeriellen Arbeit in den zwanziger Jahren waren die Modernisierung der hauptstädtischen Akademie der Künste, die grundlegende Reform der Künstlerausbildung, der internationale Kulturaustausch, eine sozialpolitisch ausgerichtete Förderung von Kunst und Künstlern sowie ganz wesentlich die Fertigstellung der Bauarbeiten am Berliner Pergamonmuseum. Dabei auftretende Konflikte mit dem immer noch einflussreichen früheren Generaldirektor der jetzt Staatlichen Museen zu Berlin, Wilhelm v. Bode, einerseits sowie Auseinandersetzungen mit Akademiepräsident Max Liebermann um die Zusammensetzung der Ankaufskommission der Nationalgalerie andererseits offenbarten, dass der demokratisch verfasste preußische Staat und sein Kultusministerium sich nicht mehr nur als administrativer Sachwalter und Förderer der Künste verstanden. Vielmehr machten die Kontroversen unmissverständlich deutlich, dass man im preußischen Kultusministerium jetzt den Anspruch erhob, das Kunst- und Museumsleben im Interesse der Künste auch politisch und inhaltlich mit zu gestalten.
Für die über 13 Jahre lang agierende Reihe der demokratisch legitimierten preußischen Kultusminister von Konrad Haenisch, über Carl Heinrich Becker und Otto Boelitz bis hin zu Adolf Grimme werden Kontinuitätslinien in der Kunstpolitik ebenso plausibel herausgearbeitet wie auch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die Inflation, Währungsstabilisierung und Weltwirtschaftskrise und die sich dadurch ändernden sozialen Rahmenbedingungen erzwangen. Anders als in der vorangegangenen, knapp 100-jährigen Geschichte der Kunstpolitik des preußischen Staates [1] verfolgte dieser nach dem November 1918 eine dezidiert konzeptionelle Kunstpolitik, die auf eine pädagogisch intendierte Heranführung der Bevölkerung an die Künste abzielte. Dem preußischen Kultusministerium als Behörde ist es dabei in achtenswerter Weise gelungen, deutschnationale und später nationalsozialistische Angriffe auf die Moderne abzuwehren und das hohe Gut der Kunstfreiheit tatsächlich bis 1932 als den Lebensnerv seiner Politik wach zu halten.
Preußen hat mit seiner Kunstpolitik zwischen 1918 und 1932 den Beweis erbracht, so der Grundtenor der Studie, dass der Staat durchaus Kunst und Künstler ohne Bevormundung, Gängelung und Ausgrenzung wirkungsvoll fördern und dabei gleichzeitig für die bestehende Staatsform eintreten kann. Es war allein die Finanzsituation, durch die sich das Ministerium letztendlich in seinem Willen, die noch junge parlamentarische Demokratie mit Hilfe der Kunstpolitik verteidigen zu wollen, gehindert sah.
Die Studie ist in einem ebenfalls umfänglichen Anhang mit mehreren Übersichten unter anderem zur kulturministeriellen Künstlerbeihilfe, zur Auftrags- und Ankaufstätigkeit, zur Prämierung von Künstlern sowie zum Kunstetat des Ministeriums ausgestattet. Als wahrlich hilfreich in dem umfangreichen Werk erweisen sich die konkret gehaltenen Kolumnentitel sowie die präzisen Querverweise auf andere Teilkapitel. Bedauerlich ist es, dass im Text mehrfach Feststellungen getroffen bzw. Wertungen vorgenommen werden, deren Beweisführung dann nur in den Anmerkungen erfolgt, wofür die Schilderung der Position des Ministeriums 1919 /20 in den Debatten über die Ankäufe für die Galerie moderner Kunst (S. 143 f. mit Anm. 122) nur ein Beispiel ist. Dieser Vorgehensweise ist sicher auch der Problem- und Materialfülle geschuldet. Dennoch hätte eine konsequente Konzentration allein im Textteil einer noch größeren Klarheit der eigenen Argumentation gedient. Auch vergibt sich die Untersuchung in ihren Grundaussagen ein wichtiges überzeugendes Element, da sie stark auf Berlin fokussiert ist und weitestgehend darauf verzichtet, dem kunstpolitischen Engagement des Kultusministeriums außerhalb der preußischen Hauptstadt nachzugehen und dieses somit als ein auch landesweit angelegtes Konzept zu veranschaulichen. „Kunst für die Republik“ wäre somit nicht nur politisch, sondern für den größten Flächenstaat der Weimarer Republik auch räumlich-geographisch dargestellt worden. Diese kritischen Hinweise sollen jedoch in keiner Weise den großen Wert der Arbeit schmälern, sondern entspringen vielmehr dem wachsenden Interesse des Lesers, wie es oft aus der Lektüre guter Bücher hervorgeht. Die Untersuchung von Kratz-Kessemeier sei wegen ihrer quellenfundierten und gut lesbaren Darstellung nicht nur einem engeren Expertenkreis empfohlen. Vielmehr scheint es ernsthaft erwägenswert, sie nach inhaltlicher Verdichtung und Einkürzung einem größeren Leserkreis zu präsentieren, wobei sich hier bevorzugt der ‚Grundriss Deutsche Geschichte’ des Oldenbourg Verlages bzw. die Reihe „Akademie Studienbücher“ des Akademie Verlags anbieten. Zukünftige Studentengenerationen der Kunstgeschichte und Geschichte würden einen solchen Leitfaden sicher sehr begrüßen.
[1] Vgl. hierzu jetzt das entsprechende Kapitel der Verf. in: Das preußische Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schulen, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen (= Acta Borussica Neue Folge, 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Wolfgang Neugebauer, Bd. 2/1), Berlin, Akademie Verlag 2010, S. 399-635.
Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik. Die Kunstpolitk des preuß. Kultusministeriums 1918-1932, Berlin: Akademie Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-05-004371-5
Empfohlene Zitation:
Bärbel Holtz: [Rezension zu:] Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik. Die Kunstpolitk des preuß. Kultusministeriums 1918-1932, Berlin 2008. In: ArtHist.net, 04.11.2010. Letzter Zugriff 21.11.2024. <https://arthist.net/reviews/3>.
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