REV 09.07.2012

Urte Krass: Nah zum Leichnam

Rezensiert von Pavla Langer, Kunsthistorisches Institut in Florenz
Redaktion: Livia Cárdenas
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Kulterfolg und -misserfolg sind im 15. Jahrhundert vor allem eine Frage „bildlicher Propaganda“ (15). Die Gegenüberstellung des lediglich in Kryptoporträts dargestellten Kardinals Niccolò Albergati mit der Vielzahl „porträtzentriert[er]“ (23) Tafelbilder des Franziskaners Bernhardin von Siena könnte dies nicht deutlicher zeigen. Urte Krass untersucht in der vorliegenden, auf ihrer Dissertation basierenden Studie, Bildstrategien neuer Heiliger im Italien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts und zählt dazu ausdrücklich auch diejenigen, deren Kult keine offizielle Bestätigung erhielt. Zentrale Fragen gelten etwa dem Phänomen der Heiligentotenmaske und Abdruckbüste oder auch der Darstellung von Heiligen in den neu entwickelten Medien Medaille und Druckgraphik. Leitmotivisch lenkt das Gegensatzpaar von Nähe und Distanz die Studie: Als Grundthese postuliert Krass die grundsätzliche Nähe zum Totenleib in den Darstellungen der neuen Heiligen, die sich erst in einem zweiten Schritt vom Leichnam lösen. Die Herausarbeitung dieser neuen Darstellungsstrategien – so viel sei vorab gesagt – gelingt überzeugend an verschiedensten Medien und Beispielen.

Ohne Zweifel schließt die vorliegende Studie eine Forschungslücke. Zwar widmen sich etliche aktuelle Untersuchungen zumindest in Teilkapiteln der (spät-)mittelalterlichen Schaufrömmigkeit [1], Strategien der Visualisierung ‚neuer Heiliger’ des Quattrocento wurden jedoch nicht systematisch analysiert. Dieses Desiderat mag sich vom Standpunkt verschiedener ‚Grundlagenwerke’ der Reliquienforschung aus erklären, das 15. Jahrhundert habe als Verlängerung des Mittelalters keine eigenständigen Kultpraktiken ausgeprägt [2] – eine Annahme, die Krass gründlich revidiert. Andere Publikationen zur vormodernen Heiligenverehrung bewegen sich in zeitlich früheren Bereichen [3], liefern als Bündelung von Einzelbetrachtungen in Tagungsakten kein übergreifendes und synthetisierendes Bild [4] bzw. erarbeiten „sektoriell“ Bildstrategien bestimmter Medien [5] oder einzelner Gruppierungen [6]. Für ihre Untersuchung wertet Krass neben den visuellen Zeugnissen hauptsächlich hagiographische Schriften und Mirakelsammlungen aus. Die Ergebnisse verortet sie im religions- und kulturgeschichtlichen Kontext und interpretiert sie auf Basis (bild-) anthropologischer Theorien (Georges Didi-Huberman, Hans Belting u.a.).

Als wesentliche Forschungserkenntnis ist die konsequente Befolgung des frühchristlichen Ideals des vollständig erhaltenen und unzerteilten Heiligenkörpers (integritas) im Quattrocento zu werten. Da infolge dieser Praxis nur eine einzige Primärreliquie zur Verfügung stand, wuchs die Bedeutung von Sekundär- und namentlich Tertiärreliquien, die posthum und im Rückgriff auf den urkirchlichen Reliquienkult entstanden. Eine hieraus resultierende Tendenz zu verlängerten Aufbahrungszeiten der Verehrten ist selbst bei Sichtbarkeitsbeschränkungen unterworfenen Klausurnonnen zu finden, was am Beispiel der Klarissin Caterina Vigri exemplifiziert wird, deren ‚vitaler’, dauerhaft sichtbarer Leichnam die Bildproduktion letztlich sogar verdrängte. (Kapitel 5.5)

Mit dem Themenkreis der Visualisierung des Heiligen an seinem Grab nimmt der zweite Teil der Studie seinen Auftakt. Das treffend als „Reliquiar mit Schauöffnung“ (106) bezeichnete Mausoleum Bernhardins von Siena in L’Aquila stellte – möglicherweise erstmals – einen ganzen Heiligenleib in einem Kristallsarkophag aus. Diese Expositionspraxis korrigiert grundlegend ältere Forschungsmeinungen, nach denen Schausarkophage erst im Zeitalter des Barock zum Einsatz kamen. [7] Auch wenn in diesem konkreten Fall eher ein über Rollen gesteuerter Mechanismus zum Anheben der Sarkophaghaube anzunehmen ist (Krass geht davon aus, man habe den Heiligenleib aus dem Mausoleum hinausfahren können), ist der Vermutung, es habe weitere quattrocenteske Beispiele von mit Schauöffnungen ausgestatteten Heiligengrabmälern gegeben, unbedingt zuzustimmen.

Zentral für die Untersuchung ist ferner das Phänomen der Heiligentotenmaske, die in Abgrenzung zum weltlichen Gesichtsabdruck wegen der Berührung mit dem Verehrten ein „Hybrid zwischen Primär- und Sekundärreliquie” (133) ist. Infolge der integritas-Forderung konnten die Totenmasken bzw. Abdruckbüsten als „unberührtes“ (137), ohne Kunstgriffe entstandenes Bild Reliquien ersetzen. Der Einsatz einfacher und stumpfer Werkstoffe überwand zudem das Dilemma der eitlen Materialien. Anhand unveröffentlichter Dokumente zur Abdruckbüste des Ambrogio Traversari arbeitet Krass exemplarisch den Stellenwert von Heiligentotenmaske und -büste heraus, die man als von etwas Göttlichem durchsetzt verehrte und zum Zweck der Nacheiferung kontemplierte. (Kapitel 8.3)

Nichts weniger als eine „Revolution in der Heiligenikonographie“ (158) verbirgt sich hinter den zahlreichen erhaltenen Abdruckbüsten des Antonino Pierozzi, die sein greises Gesicht in stets gleicher Weise zeigen. Im Sinne einer „Corporate Identity“ (158) werden dabei die individuellen Gesichtszüge zum wichtigsten Attribut des neuen Heiligen. In der Sichtung weiterer Beispiele wird hier ein allgemeines Phänomen für die visuellen Strategien im Heiligenkult des Quattrocento konstatiert, wo Einzelstudien bislang nur punktuelle Ergebnisse lieferten. [8] Eine besondere Spielart dieser ‚visuellen Revolution‘ fasst Krass unter dem Begriff der „Mortifizierung der Heiligen“ (170), sprich der Darstellung des verstorbenen Heiligen als Leichnam. Gerade wegen der mimetischen Qualitäten der neuartigen Ikonographie habe sich die Totendarstellung mit fahler Haut und geschlossenen Augen entwickelt, um zu signalisieren, dass nicht im Bild des Heiligen, sondern im Körper seine thaumaturgische Kraft zu lokalisieren sei. Das Modell der porträthaften Heiligendarstellung war so erfolgreich, dass es als „Modernisierungsstrategie“ (194) auch für Bilder ‚alter Heiliger’ zur Anwendung kam. (Kapitel 10)

Im dritten Teil der Arbeit rücken die im 15. Jahrhundert neu entwickelten Medien Medaille und Druckgraphik im Hinblick auf die Visualisierung der neuen Heiligen in den Fokus. Bernhardin von Siena gehört zu den Ersten, die im mobilen, widerstandsfähigen und leicht reproduzierbaren Medium der Medaille dargestellt wurden. Eine Sonderstellung nimmt der Dominikaner Savonarola ein, für den infolge der Verbrennung weder Heiligenleib noch Verehrungsort zur Verfügung standen. Abgüsse einer nach seinem Bildnis geschnittenen Porträtgemme bildeten die Vorlage für eine Reihe von Gedenkmedaillen, die besonders geeignet waren das verhängte Kultverbot zu unterwandern und den verlorenen Leichnam zu ersetzen. (Kapitel 11.5)

Im Falle des angeblich in einem jüdischen Ritualmord zu Tode gemarterten Kleinkindes Simon von Trient wurden Druckgraphik und Buchdruck „erstmals in der europäischen Geschichte journalistisch-propagandistisch für meinungspolitische Zwecke genutzt“ (238f.). Mechanisch erzeugte Bilder suggerieren durch die Anonymität des Künstlers bzw. Kaschierung der Künstlerhand eine besondere Objektivität oder Authentizität. Für Einblattdrucke Simons stellt Krass die Funktion als Werbe- bzw. Präsenzzettel, thaumaturgische Objekte oder gar als „Surrogat des echten Körpers und seiner Macht“ (268) fest. Solche gedruckten, in großer Anzahl produzierten Heiligenbilder konnten auch fernab vom Leichnam wirken und „transportieren den echten Leichnam in die Häuser der Menschen“ (267).

In sehr verdienstvoller Verdichtung werden allgemeine Tendenzen und Phänomene der Heiligenverehrung des Quattrocento abschließend zusammengefasst, z.T. mit anregender Akzentuierung: so etwa die Folgerung, die Rückbesinnung des Quattrocento auf frühchristliche Reliquienpraktiken als „Sehnsucht nach der ecclesia primitiva“ sei als „Pendant zur Antikensehnsucht (...) der Humanisten“ (275) zu lesen. Allerdings bedürfen einzelne Annahmen, wie diejenige, dass der Leichnam Bernhardins von Siena in seinem Mausoleum „stets sichtbar“ (272) gewesen sei, noch der Differenzierung. Hier zeigt sich, dass gerade in Einzeluntersuchungen noch einiges zu leisten ist, was jedoch den Rahmen der ohnehin reichen Studie Krass‘ bei weitem gesprengt hätte. Den wissenschaftlichen Apparat vervollständigt neben dem umfangreichen und aktuellen Literaturverzeichnis ein Anhang zuvor unveröffentlichter Quellen.

Sorgfältig recherchiert, pointiert deduziert, klar gegliedert und sprachlich ansprechend ist „Nah zum Leichnam“ als fundamentaler Beitrag zur Visualitätsgeschichte des Quattrocento zu bezeichnen – ein wertvolles Werkzeug für jeden, der sich mit dem quattrocentesken Heiligenkult beschäftigt.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Christof L. Diedrichs, Vom Glauben zum Sehen. Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar. Ein Beitrag zur Geschichte des Sehens, Berlin 2001; Thomas Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen / hg. v. Klaus Schreiner, München 2002, S. 179-220; zuletzt Gia Toussaint, Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge, Berlin 2011, S. 9-23.
[2] Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 230; Überblick bei Philippe Cordez, Die Reliquien, ein Forschungsfeld. Traditionslinien und neue Erkundungen, in: Kunstchronik, 60.2007, 7, S. 271-282.
[3] Barbara Abou-El-Haj, The medieval cult of saints. Formations and transformations, Cambridge 1994.
[4] Andrew Ladis/ Shelley E. Zuraw (Hg.), Visions of Holiness. Art and Devotion in Renaissance Italy, Athens 2001; Timothy Verdon/ John Henderson (Hg.), Christianity and the Renaissance. Image and religious imagination in the Quattrocento, Syracuse 1990.
[5] Cynthia Hahn, Portrayed on the heart. Narrative effect in pictoral lives of saints from the tenth through the thirteenth century, Berkeley u.a. 2001.
[6] Kristin Böse, Gemalte Heiligkeit. Bilderzählungen neuer Heiliger in der italienischen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, Petersberg 2008 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 61).
[7] Peter Dinzelbacher, Religiosität und Mentalität des Mittelalters. Klagenfurt 2003, S. 150; Anton Legner, Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995, S. 304.
[8] Machtelt Israëls, Absence and resemblance. Early images of Bernardino da Siena and the issue of portraiture, in: I Tatti studies 11.2007(2008), S. 77-114.

Krass, Urte: Nah zum Leichnam. Bilder neuer Heiliger im Quattrocentro (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, I Mandorli, Bd. 16), Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 2012
ISBN-13: 978-3-422-07091-2, 356 p., EUR 68,00

Empfohlene Zitation:
Pavla Langer: [Rezension zu:] Krass, Urte: Nah zum Leichnam. Bilder neuer Heiliger im Quattrocentro (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, I Mandorli, Bd. 16), Berlin, München 2012. In: ArtHist.net, 09.07.2012. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/2880>.

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