Zu jeder ordentlichen Führung durch eine mittelalterliche Kirche gehört der Hinweis auf die Anonymität der mittelalterlichen Künstler, die „ganz hinter ihr Werk zurücktreten – zur höheren Ehre Gottes“. Es handelt sich nicht nur um das romantische Vorurteil vom demütig-frommen mittelalterlichen Künstler, sondern um einen Topos, der zum Kern des bis heute gängigen Mittelalterbildes gehört. Vasari, Jacob Burckhardt und die meisten modernen Verfasser kunst- und kulturgeschichtlicher Werke sehen nämlich den „neuzeitlichen“ Künstler erst in der Renaissance entstehen – und zwar cum grano salis als den Prototypen des „modernen“ Menschen. Dementsprechend gehört das Mittelalter zu einer Epoche „vor dem Zeitalter der Kunst“ (Hans Belting). Seit einiger Zeit mehren sich jedoch gewichtige Stimmen, die eine Mittelaltervorstellung korrigieren wollen, die in vielen Zügen nur ein Gegenbild zur idealisierten eigenen Moderne ist. So hat Horst Bredekamp sicher recht, wenn er einem Aufsatz den Titel gibt „Das Mittelalter als Epoche der Individualität“ (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen. Bd. 8. Berlin 2000, S. 191-240). Diese Sicht der Dinge wird wesentlich gestützt durch viele Künstlerinschriften des Mittelalters. „Ingenio clarvs Lanfrancvs doctvs et aptvs [...]“ – „Lanfrancus, berühmt durch sein Ingenium, gelehrt und fähig [...]“, so bezeichnet eine Inschrift 1099 den Baumeister des Doms von Modena. Der Künstler – „artifex“ – unterscheidet sich stolz vom nur ausführenden Handwerker – „operarius“. Allein der „artifex“ ist besonders dank seines „Ingeniums“ (Bd. 1, S. 117-118) in der Lage, nie gesehene Werke hervorzubringen. Dementsprechend wird er als „modernus“ gelobt (Bd. 1, S. 109-113). Damit passen die oftmals sehr rühmenden Inschriften nicht zur festverwurzelten Vorstellung vom Mittelalter. Sie passen nicht einmal zur These von der fast vollständigen Schriftlosigkeit aller Nicht-Kleriker. Gleichzeitig wird im Mittelalter die „Kunst“ in einer Weise gelobt (z.B. Bd. 1, S. 118-120), die sich im „Zeitalter der Kunst“ eher nicht findet. Im 13. Jahrhundert heißt es im Kreuzgang des Lateran: „In ausgezeichneter Weise geschickt in dieser Kunst hat Vassallettus zusammen mit seinem Vater das Werk begonnen, das er selbst allein vollendet hat“ (Zit. nach Kat. Nr. A 626). Am Ende des 15. Jahrhunderts stehen auf der Pietà des Petersdomes die mageren Worte: „Der Florentiner Michelangelo Buonarroti machte es“. Überhaupt schmelzen die Signaturen mehr und mehr zu Namensnennen zusammen, denen gerade noch ein „f.“ für „fecit“ oder „faciebat“ beigegeben wird.
Obwohl mittelalterliche Künstlerinschriften oft prominent angebracht sind, obwohl manche schon ediert vorliegen und obwohl ihr erstrangiger Quellencharakter offensichtlich ist, sind sie bisher nie umfassend bearbeitet worden. Diese riesige Lücke füllt das riesige Werk von Albert Dietl. Möglicherweise handelt es sich um die umfangreichste kunsthistorische Habilitationsschrift, die je gedruckt wurde: 2390 Seiten in vier Bänden. Der Autor hat sich allerdings dem Thema nicht erst kürzlich zugewandt, sondern bereits 1985 eine einschlägige Magisterarbeit vorgelegt. Die lange Zeit hat dem jetzt vorliegenden Werk sichtlich gutgetan, denn Albert Dietl konnte ca. 820 italienische Inschriften bearbeiten, die er bis auf zu vernachlässigende Ausnahmen alle selbst gesehen hat. Hinzu kommen ca. 400 außeritalienische Inschriften. Damit bietet der Verfasser der weiteren Forschung eine großartige und völlig neue Grundlage.
Der erste Band enthält inhaltliche Deutungen einiger Aspekte des Inschriftenthemas sowie zahlreiche nützliche Tabellen, die das Material statistisch erschließen. Im ersten Band findet sich auch das wahrscheinlich lückenlose Literaturverzeichnis. Den Kern der Publikation bilden aber die drei Katalogbände; die darum auch als erste vorgestellt werden sollen. Die Bände 2 und 3 enthalten die italienischen Inschriften, in Band 4 finden sich die nicht-italienischen Inschriften sowie 807 Aufnahmen und Umzeichnungen der italienischen Inschriften. Dieses Bildmaterial erlaubt es, die Transkriptionen des Verfassers nachzuvollziehen – soweit das überhaupt möglich ist, wenn man nicht direkt vor dem Original steht. Und diese Transkriptionen machen einen Großteil der Leistung Albert Dietls aus. Seine Sorgfalt ist bewundernswert. Wohl die allermeisten Kunsthistoriker wären überfordert gewesen, zumal die üblichen Curricula nicht einmal hilfswissenschaftliche Grundkurse vorsehen. Was soll man dann tun, wenn man vor einer beneventanischen Inschrift steht? Albert Dietl hingegen ist mit den heute üblichen Transkriptionsverfahren bestens vertraut. Er richtet sich nach den Vorgaben der Inschriftenkommissionen der deutschsprachigen Akademien der Wissenschaften (Bd. 2, S. 507). Die Leistung, die Albert Dietl erbracht hat, kann wohl nur ermessen, wer selbst schon einmal versucht hat, in einer dunklen apulischen Kirche eine Inschrift zu dokumentieren und ihr dann am heimischen Schreibtisch eine edierbare Gestalt zu geben. Dabei hat es der Verfasser aber nicht belassen, denn er hat jede Inschrift auch noch übersetzt, wodurch er den Gebrauchswert seines sowieso schon großartigen Katalogs noch erheblich erhöht. Zwar hätten die Texte in seltenen Fällen auch andere Übersetzungsmöglichkeiten geboten(z.B. Kat. Nr. A 244: passiv statt reflexiv; Kat. Nr. A 381: unklare Bezüge bei „huius operis co(n)ditor artis q(von)d(am) magister“), dennoch wird man das Mittellatein des Verfassers vorbehaltlos bewundern. Gar nicht so selten waren übrigens auch griechische Inschriften zu übertragen (z.B. Kat. Nr. A 253, A 356 und A 705). Der Katalog erschöpft sich jedoch nicht in der reinen Dokumentation, denn alle Objekte und Inschriften werden auch inhaltlich gewürdigt. Ein gewisser Schwerpunkt liegt in Rom (Kat. Nr. A 559 bis Kat. Nr. A 636), hat doch die Geschichte der italienischen Inschriftenforschung eine Wurzel in der Untersuchung der römischen Marmorkünstler (vgl. bes. Peter Cornelius Claussen: Magistri Doctissimi Romani, Die römischen Marmorkünstler des Mittelalters [Corpus Cosmatorum 1]. Wiesbaden 1987). Dietl selbst hat diesen Zusammenhang ebenso wie die Vorreiterrolle von Peter Cornelius Claussen ausdrücklich dargestellt (Bd. 1, S. 26-28). Nicht zu vernachlässigen ist auch die Dokumentationsleistung Dietls, sind doch viele Inschriften in ihrem Bestand gefährdet. Der fortschreitende Verfall einiger Bauten wird manche Katalognummern leider bald zu Primärquellen machen. Man spürt nicht selten auch die Entdeckerfreuden des Autors, die sicherlich für die Aufnahme der einen oder anderen Inschrift verantwortlich ist.
Während man dem Katalogteil allerhöchste Anerkennung zollen wird, bleiben im einleitenden Teil (Bd. 1, S. 9-243) vielleicht doch einige wenige Wünsche offen. Eine Tatsache, die dem Facettenreichtum des Themas geschuldet ist. Viele Fragen müssen unbeantwortet bleiben, weil das Umfeld, in dem die Inschriften formuliert wurden, nicht mehr rekonstruierbar ist. Warum wird Lanfrancus in Modena gelobt? Manche seiner Kollegen andernorts aber nicht? Liegt das nur an der Überlieferungsdichte? Wer hat die leoninischen Hexamter gedichtet (z.B. Bd. 1, S. 112)? Wer ist für die Rechtschreibfehler verantwortlich – wenn es denn welche sind? Welche rechtliche Bedeutung hat eine Inschrift in Rom? Welche in London? Eine wesentliche Leistung bei der Inschrifteninterpretation besteht deshalb darin, die beantwortbaren von den unbeantwortbaren Fragen zu unterscheiden. Auch wenn die Zahl der möglichen Fragen die der möglichen Antworten übersteigt, erfordern dennoch die Inschriften weiterhin viel Arbeit, die ein einzelner nicht leisten kann. Aus diesem Grund dürfte sich Dietl auch mit voller Absicht auf Teilaspekte des riesigen Gebiets beschränkt haben. Das hätte aber deutlicher gemacht werden können. Bereits der Titel ist nämlich interpretationsbedürftig: „Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens“. Allerdings ist nicht jede „Künstlerinschrift“ eine „Signatur“. Die Inschriftengattungen werden aber nur in einer Anmerkung vorgestellt, sie lautet: „Unter dem Begriff der Künstlerinschrift werden alle Arten von Inschriften behandelt, die Künstlernennungen enthalten, also Signaturen im engeren Sinn, Grabinschriften von Künstlern sowie Stifter-, Bau- und Weiheinschriften mit Künstlernamen.“ (S. 31, Anm. 89, vgl. Bd. 2, S. 506: „Inschriftentyp“). Eine umfassendere inhaltliche Typologie wird nicht geboten, was zwar verständlich, aber doch ein wenig unbefriedigend ist. Eine steinerne Weiheurkunde mit Künstlernennung ist jedenfalls etwas anderes als eine Signatur im heutigen Sinne. Die griechischsprachigen Beispiele hätten dabei die Möglichkeit geboten, den Bogen nach Byzanz zu schlagen, wo es eine Tradition der Künstlerinschrift gab, deren Einflüsse auf Italien vielleicht nicht unwichtig waren. Von hier aus wäre wiederum der Schritt in die Antike leicht möglich gewesen, denn auch die Antike spielt zwar in der vorliegenden Arbeit eine große Rolle, sie hätte jedoch durchaus noch systematischer behandelt werden können.
An dieser Stelle scheint noch ein weiteres generelles Problem der Materialauswahl auf. Die räumliche Eingrenzung auf ein nicht zu eng verstandenes „Italien“ ist sofort einsehbar, ebenso die zeitliche Beschränkung auf das ebenfalls nicht zu eng verstandene „Mittelalter“, das der Verfasser um 1350 mit dem Aufkommen der Kunstliteratur abschließt. Nicht so leicht verständlich ist hingegen die Auswahl der Inschriftenträger: „In den Katalog aufgenommen sind Inschriften auf ‚dauerhaften’ Trägern – in Stein, Metall, Holz, Email, Mosaik und Glas –, ohne die fallweise für die Untersuchung herangezogenen, ohnehin besser verwahrten und erschlossenen Künstlerinschriften auf Fresken und Tafelbildern; ausgespart sind außerdem die der Möglichkeit der Autopsie und damit Überprüfbarkeit entzogenen Glockeninschriften.“ (S. 33) D. h. die Studie hat ihren Schwerpunkt bei den Baumeister- und Bildhauerinschriften. Das ist nicht nur aus arbeitstechnischen Gründen sinnvoll, sondern auch weil es sich um eine zusammengehörende Gruppe handelt. Erklärungsbedürftig ist dann aber, warum z.B. das Florentiner Büstenreliquiar des hl. Zenobius aufgenommen wurde (Kat. Nr. A 237) oder der Glasbecher des Stralsunder Museums (Kat. Nr. A 707). An den eher konventionellen Inschriften kann es nicht gelegen haben. Im Hintergrund steht bei den Metallarbeiten sicherlich die herausragende soziale Stellung der Goldschmiede. Vielleicht hätte der Verfasser dennoch auf sie verzichten sollen, denn wenn er sie umfassender hätte würdigen wollen, hätte er – arbeitsökonomisch ein Unding – mehr Beispiele bringen müssen. Genügend Material wäre allerdings vorhanden. (Vgl. z.B. Elisabetta Cioni: Scultura e Smalto nell’Oreficeria Senese dei secoli XIII e XIV. Florenz 1998). Und wenn Mosaiken behandelt werden, versteht man nicht, welche inhaltlichen Gründe es für den Verzicht auf die eng verwandten Fresken gab. Bedenkt man, wieviel Material auch noch Retabel, Paramente und Handschriften bieten, ahnt man erst das ganze Ausmaß des Phänomens der mittelalterlichen Künstlerinschriften. Natürlich kann ein einzelner diese Masse nicht bewältigen, weshalb die vorgenommenen Beschränkungen nötig und sinnvoll sind. Bereits jetzt erreicht dieses Opus magnum Dimensionen, die weit über das gewohnte Maß hinausgehen. Vielleicht hätte aber das Werk an Stringenz gewonnen, wenn die völlig überzeugende Beschränkung auf einen besonders wichtigen Teilbereich der Künstlerinschriften konsequenter gehandhabt worden wäre.
Zwar liegt das Schwergewicht de Arbeit auf den Katalogbänden, dennoch sind natürlich auch die im ersten Band versammelten Abhandlungen außerordentlich wichtig und informativ. In einem ersten inhaltlichen Hauptabschnitt werden die wichtigsten Berufsbezeichnungen mittelalterlicher Künstler untersucht (S. 41-99). Dietl spannt hier den Bogen bis hin zu den „Pictores“. Mindestens ebenso wichtig sind die den Künstlern beigelegten Ehrenprädikate, die heutigen Ohren manchmal anstößig unbescheiden klingen (S. 100-113). Daran anknüpfend behandelt Dietl das Lob auf Kunst und Material (S. 114-136) sowie die Angaben zu Zeit, Geld und Materialwert (S. 137-146). Hier erlangt die Arbeit einen geradezu sprachwissenschaftlichen Charakter. In diesem Umfeld hätten auch den Begriffen „magister“ und „opus“ vielleicht eigene Teilkapitel gewidmet werden können. Es folgen Untersuchungen zur „räumlichen Mobilität italienischer Künstler des Hochmittelalters“ (S. 147-156). D.h. das Gewicht verlagert sich auf die prosopgraphischen Aspekte, deren Berücksichtigung eine Stärke des Buches ist. Ein weiteres Kapitel untersucht rechtliche und sozialgeschichtliche Fragen, die sich etwa mit der Bezeichnung als „civis“ – „Bürger“ verbinden. Es folgen drei recht eigenständige Fallstudien, nämlich zum Dädalus-Topos und den mit ihm verbundenen Labyrinth-Darstellungen (S. 186-208), zur Henoch-Elias-Tafel des Doms von Modena (S. 209-225) sowie zur möglichen Vitruvrezeption in einer abruzzesischen Bildhauerwerkstatt des 12. Jahrhunderts (S. 226-243). Besonders das letzte Kapitel ist ein Höhepunkt der Arbeit und belegt die Bedeutung der Künstlerinschriften auch für die klassischen Felder der Kunstgeschichte.
Charakterisiert ist das Buch von einer geradezu unwahrscheinlichen Genauigkeit, die faktisch von kaum einem Tippfehler beeinträchtigt wird (vgl. aber: Bd. 1, S. 114: Zitation des Aufsatzes von Paul Shorey) Der Wunsch nach Genauigkeit verführte den Autor allerdings hin und wieder zu einem etwas wenig flüssigen Stil. Vor allem machen im ersten Teil es die nicht wenigen durch interpretierende und absichernde Einschübe gedehnten, durch erläuternde Partizipialkonstruktionen und manchmal sogar durch Relativsätze, die z.B. wichtige biographische Angaben mitteilen, erweiterten, von Wolf Schneider so treffend charakterisierten „Klemmkonstruktionen“ manchmal etwas schwierig, den Gedankengängen zu folgen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch viele Katalogbeiträge, die geradezu spannend zu lesen sind.
An einem solch monumentalen Werk darf man sicher ein wenig mehr kritisieren als an irgendeinem Broschürchen. Wie auch immer man also ein paar Einzelheiten beurteilt: Hier liegt eine riesige bestandserschließende Arbeit vor, die keine grundsätzlichen Korrekturen nötig hat, sondern die auf unabsehbare Zeit nur ergänzt und erweitert werden kann. Die größte Leistung Albert Dietls mag aber darin liegen, anhand von unwiderleglichen Quellen die übliche Sicht auf das Mittelalter zu verändern. Dadurch werden natürlich auch unsere – wertenden – Epocheneinteilungen infragegestellt. Wem so etwas gelingt, vor dem wollen wir den Hut ziehen.
Dietl, Albert: Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz F. 4, 6), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009
ISBN-13: 978-3-422-06731-8, 2390 S. in 4 Bd. 878 Abb., EUR 298.00
Empfohlene Zitation:
Christian Hecht: [Rezension zu:] Dietl, Albert: Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz F. 4, 6), Berlin 2009. In: ArtHist.net, 07.12.2009. Letzter Zugriff 19.12.2024. <https://arthist.net/reviews/269>.
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