REV 28.01.2012

Sabine Gebhardt Fink, Muda Mathis, Margarit von Büren (Hrsg.): Floating gaps

Rezensiert von Lilo Nein
Redaktion: Rainer Donandt
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Performance schreibt Geschichte. Die Publikation „Floating Gaps. Performance Chronik Basel (1968-1986)“ ist 2011 im diaphanes Verlag erschienen und widmet sich der Schweizer Performancegeschichte der 70er und 80er Jahre. Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Sabine Gebhard Fink, die Künstlerin Muda Mathis und die Kulturtheoretikerin Margarit von Büren verdichten in dem schön gestalten Hardcover-Band Dokumentationen, Erinnerungen und Analysen in Form von Essays, Interviews und historischem Bildmaterial zu einem gleichermaßen bruchstück- wie überblickshaften Leseerlebnis. Die Publikation entstand aus dem kollaborativen Netzwerk „Performance Chronik Basel“, welches KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, VermittlerInnen, KuratorInnnen und Performancepublikum zu einer gemeinsamen Produktion von Wissen über vergangene Performances versammelt.

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind sorgfältig gestaltetet und bitten unterschiedliche AkteurInnen des Schweizer Performancegeschehens auf die Bühne. Sigrid Schade und Silke Wenk beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Prozessen der Tradierung und stellen heraus, dass diese kontextspezifisch und heterogen sind. Zur Analyse des Wechselverhältnisses zwischen Subjekten und Gemeinschaften wird der Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ des Soziologen Maurice Halbwachs herangezogen, welcher sich als soziale Konstruktion der Vergangenheit beschreibt, die von der Gegenwart aus gelesen wird. Weiters stellen die Autorinnen dar, dass Geschichtsschreibung ein mediales Unterfangen ist, welches sich narrativ seinen Weg bahnt. Sigrid Adorf befragt im speziellen das Medium Video und stellt dar, wie dieses innerhalb performativer Settings – die Anwesenheit der Publikums potentiell ersetzend – zum/r AkteurIn wird. Sabine Gebhard Fink widmet sich in ihrem Beitrag den 70 Jahren und beschreibt eine Aktion im öffentlichen Raum von Corsin Fontana, die vom Künstler Jochen Gerz selbst als Stück bezeichnete Performance „Ausstellung von Jochen Gerz neben seiner photographischen Reproduktion“, eine Performance der Tänzerin Anna Winteler und eine Aufführung von Trisha Brown, während der sie dem Publikum über Walkie-Talkie mitteilt, welche Handlung sie gerade ausführt. Anhand dieser Beispiele werden für diese Zeit signifikante Arbeitsmethoden, KünstlerInnen-Interesse sowie die Bedeutung der Performance Kunst herausgearbeitet.

Die Texte von diesen und weiteren Theoretikerinnen dürfen in angenehmer Weise neben Interviews mit ZeitzeugInnen (be)stehen. Denn „[d]er Chronist welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“, so Walter Benjamin.[1] Es ist ganz so als wäre Benjamins Chronist zu einer produktiven Leerstelle geworden, die von den Herausgeberinnen temporär und stellvertretend eingenommen wird und sich im Verhältnis der einzelnen Beiträge zueinander ausdrückt.

Die Herausgeberinnen bekennen sich aber zu einer kritischen Auseinandersetzung mit traditioneller Geschichtsschreibung und versehen die Chronik mit einer narrativen Struktur. Durch diese „anti-hegemoniale Form“ soll es möglich werden, lokale und bisher unbeachtete Positionen zu vermitteln und das Schweizer Performance-Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, ähnlich wie dies in Zuge der Wiener Publikation „let’t twist again. Performance in Wien von 1960 bis heute“ von Carola Dertnig und Stefanie Seibold 2006 unternommen worden ist. Wie schon die Wiener Künstlerinnen wählen die Schweizerinnen vor allem einen gemeinsamen Weg mit ZeitzeugInnen, der mit der Methode der oral history beschritten wird, und die unterschiedlichen Qualitäten verschiedener Formen von Wissen produktiv zu machen sucht. Die Art und Weise, wie mit diesem Wissen umgegangen wird trägt Donna Haraways Begriff von „situierten Wissen“ Rechnung. In diesem Sinne ist es der Umstand, dass Sabine Gebhard Fink, Muda Mathis und Margarit von Büren keiner einheitlichen Perspektive oder objektiven Ordnung der Geschehnisse zuarbeiten, was diese Textsammlung so wertvoll macht ist.

Das Bekenntnis zu den im Titel verankerten „Gaps“, die nicht nur das Fehlen, die Grenze oder das Außen von Information, Wissen und Erinnerung, sondern auch Brüche in der und mit der Geschichtsschreibung anzeigen, sind als einer gewissen Bewegung unterliegend ausgewiesen. Diese Bewegtheit kann den subjektiven Perspektiven, Diskontinuitäten in der Rezeption, divergierender Erinnerungen ebenso wie der Antizipation des eigenen Gelesen-werdens und dynamischen Wechselverhältnis zwischen Theorie und Praxis, und dem Wissen über die eigene Verbundenheit mit und Positionierung zwischen Vergangenheit und Zukunft geschuldet sein.

Performance schreibt Geschichte. Die ProtagonistInnen von „Floating Gaps“ schreiben mit.

Anmerkung:

[1] Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Illuminationen, Suhrkamp, 1977, S.252.

Gebhardt Fink, Sabine; Mathis, Muda; Büren, Margarit von (Hrsg.): Floating gaps. Performance Chronik Basel (1968-1986), Zürich: Diaphanes 2011
ISBN-13: 978-3-03734-172-8, 299 S., EUR 24.90

Empfohlene Zitation:
Lilo Nein: [Rezension zu:] Gebhardt Fink, Sabine; Mathis, Muda; Büren, Margarit von (Hrsg.): Floating gaps. Performance Chronik Basel (1968-1986), Zürich 2011. In: ArtHist.net, 28.01.2012. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/2632>.

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