REV 12.10.2012

Lombaerde; Heuvel (Hg.): Early modern urbanism and the grid

Rezensiert von Christof Baier
André Bischoff
Redaktion: Livia Cárdenas
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Im Mai 2009 fand in Antwerpen das von Piet Lombaerde und Charles van den Heuvel organisierte internationale Symposium „New Urbanism and the Grid“ statt. Seine Ergebnisse liegen als Band 10 der Schriftenreihe ARCHITECTURA MODERNA vor. Der Band rückt mit den im 16. Jahrhundert in den Niederlanden herausgebildeten neuartigen städtebaulichen Planungsformen und ihren Gestaltungsprämissen einen Aspekt der europäischen (und bedingt auch außereuropäischen) Architektur- und Städtebaugeschichte in den Fokus, der bisher trotz seiner offensichtlichen Bedeutung für die neuzeitliche Geschichtsschreibung kaum zusammenhängend analysiert worden ist. Tagung und Buch gehen von der mit Nachdruck zu unterstreichenden Beobachtung aus, dass die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert im europäischen Kulturraum und den Kolonialgebieten eine führende Rolle auf dem Gebiet des „urban design“ besaßen.

So wenig bearbeitet dieses Themenfeld ist, so unsicher ist schon die begriffliche Bestimmung seines allgemeinen Rahmens. Dies beginnt bei den ersten Worten des Titels. Mit dem markanten Terminus des „new urbanism“ bzw. dem nüchterneren „early modern urbanism“ wollen Lombaerde und van den Heuvel jenen grundlegend neuen, auf der variablen Anwendung von „grid-like structures“ basierenden städtebaulichen Planungsansatz charakterisieren, der sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden herausbildete und dann im 17./18. Jahrhundert zu einem der einflussreichsten Städtebaukonzepte in Europa und in der Neuen Welt wurde. Das den „early modern urbanism“ Prägende sei die Weite seines Ansatzes, „in which town planning, fortification and civil engineering are combined to bring the town in tune with modern infrastructure in an orderly and rational way“. (S. XIII) Im deutschsprachigen Raum ist das mit der vorgeschlagenen Begriffssetzung umrissene Thema bis in die Gegenwart von der Diskussion um den so unglücklichen Begriff der „Idealstadt“ überschattet. Da sich auch der als Alternative vorgeschlagene Begriff der „Planstadt“, wohl wegen seiner Unschärfe, nicht durchsetzen konnte, bleiben wir für diese Rezension bei dem nicht vollauf befriedigenden Begriff des „early modern urbanism“.

Noch schillernder ist der zweite Begriff des Buchtitels – „grid“. Gitter, Raster, Schachbrett, all diese Begriffe eines universellen Ordnungsprinzips gehen von der Form aus und laufen Gefahr, „grid“ als formales Erklärungsmodell einzusetzen. Es ist ein Verdienst dieses Tagungsbandes, den Begriff „grid“ von verschiedenen Seiten aus kritisch zu hinterfragen, indem die verschiedenartigen Planungsansätze, die schließlich in ähnliche „grid-like structures“ mündeten, etwa aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte, der Architekturtheorie und Kunstgeschichte untersucht werden.

Der Band versammelt elf Beiträge, welche die Thematik mal überblicksartig, mal am Beispiel einzelner Städte oder Architekten, mal anhand der Analyse von Planungsschemata vielfältig beleuchten. Werner Oechslin stellt in seinem Beitrag („Tractable Materials“. Der Architekt zwischen ‚Grid‘ und ‚Ragion di Stato‘), die aristotelische gegen die pythagoreische Tradition ausspielend, die Vorstellung von der „medietas“ der Mathematik und damit der Architektur als vermittelndem Instrument zwischen der Ideenwelt und der physikalisch-körperhaften Welt in den Mittelpunkt. Dabei kommt er zu dem überzeugenden Ergebnis, dass der im 20. Jahrhundert von Kunsthistorikern und Architekten so einseitig wertgeschätzte „Formalismus“ der „allumfassenden ‚Idee‘ der Idealstadt“ ein tieferes Verständnis der Architekturgeschichte der Neuzeit verstellt. Wichtiger sei der „‚bloss‘ organisatorische Aspekt, wie er in der Castrametatio offensichtlich ersichtlich war“, denn eben hierin seien die „Formen konkreten Planens sehr viel häufiger unmittelbar fassbar“. (S. 24) Gleich der Eingangsbeitrag des Bandes entzaubert also den „grid“ und will ihn als „medietas“, als Instrument, und nicht mehr als universelle Form oder als anthropologische Konstante verstanden wissen.

Wie schon die o.g. Definition des „early modern urbanism“ zeigt, liegt seine Novität gerade in der Verknüpfung von Städtebau, Castrametatio und ziviler Ingenieurbaukunst. In seinem Beitrag (Multilayered Grids and Dutch Town Planning) prüft Charles van den Heuvel, inwiefern gerade das Raster die vermittelte Kongruenz der unterschiedlichen Planungsaufgaben herzustellen vermochte. Als Ausgangspunkt setzt van den Heuvel die Feststellung, dass Simon Stevin sich mit dem komplexen Thema der zeitgenössischen Stadt in Form unterschiedlicher Schichten (layer) befasst habe. Den „layer“ Festungsbau etwa habe er weitgehend unabhängig von den Häusern und vom Raster mit den öffentlichen Gebäuden behandelt. Völlig zutreffend bestimmt van den Heuvel Stevins bekannten Stadtplan nicht als „blue print design model“, sondern als „kind of contemporary codification of models which are also reflected in other theories and practices of land use“ (S. 29f.). Beim frühneuzeitlichen niederländischen Raster handele es sich also um ein „patchwork of various grids“ (S. 31). Dass die aus dem nordeuropäischen Ausland stammenden Schüler der Leidener Ingenieurschule „Duytsche Mathematique“ zudem maßgeblich die Methode und nicht das Kopieren der Pläne lernten, trug, so die Vermutung van den Heuvels, zur großen Vielfalt von Rastermustern in Skandinavien und dem Baltikum bei. Die Einführung des Schichten-Modells ist für das Verständnis der ebenso komplexen wie pragmatischen Raumplanungsmethoden der Neuzeit wichtig und richtig. Ermöglicht es doch, scheinbar so verschiedenartige Aufgaben wie Landgewinnung, Stadtplanung, Befestigung und Lagerbau anhand von Städten, Plänen und Karten vergleichend zu betrachten. Die grundsätzlich sehr anregende Hypothese der „multilayered grids“ verliert aber leider dadurch viel an Genauigkeit und Überzeugungskraft, dass sie den planungsrelevanten Erscheinungsformen dieser „various grids“, also den gezeichneten und gedruckten Plänen und Karten, so gut wie keine Aufmerksamkeit widmet.

Während van den Heuvel also die Praxis der Planung und Anlage von Rasterordnungen behandelt, befasst sich der Beitrag von Wim Nijenhuis (Stevin’s Grid City and the Maurice Conspiracy) mit der überragenden Bedeutung der Mathematik als Leitwissenschaft für Stevin sowie der theoretischen Verankerung von Rasterstrukturen in der Wissenskultur um Maurits von Oranien. Ausgangspunkt ist der bekannte Stadtplan Stevins, der erst 1649 postum von seinem Sohn Hendrik in den „Materiae Politicae“ veröffentlicht wurde. Anders als so viele Forscher vor ihm nähert sich Nijenhuis dem Plan nicht mit dem „typical art-historical approach“, also die formalen Ähnlichkeiten mit italienischen „Idealstädten“ suchend. Vielmehr geht er von einer „archeology of knowledge“ aus, welche auf eine strukturelle Form des Wissens fokussiert. So befragt, erscheint ihm Stevins „Grid City“ als integraler Bestandteil einer „particular formation of knowledge“, welche sich zusammensetzt aus „ethics, politics, military science, civil and military engineering, and architecture, which are all regulated by the classic épistémè of the mathesis” (S. 45). Diese besondere Wissensformation nennt Nijenhuis „Maurice Conspiracy“. Stevin versuchte, so Nijenhuis für die komplexe Entwurfsaufgabe Stadt mit Hilfe der Mathematik („Wisconst“) Sicherheit und Kalkulierbarkeit zu erlangen, indem er theoretisches Wissen ausdrücklich und systematisch mit den „terms of measure and order“ verband. Diese Fokussierung von Mathematik und Wissen auf das Maß und die Ordnung wäre aber gerade vor dem Hintergrund der „Maurice Conspiracy“ im Detail noch genauer zu diskutieren.

Anders als Oechslin, van den Heuvel und Nijenhuis stellt Jochen De Vylder ein konkretes Fallbeispiel – den Umbau und die Erweiterung Antwerpens – ins Zentrum seines wichtigen Beitrags (The Grid and the Existing City). Anhand verschiedener Interventionen in die mittelalterliche Stadtstruktur Antwerpens untersucht er, wie sich die Transformation bestehender stadträumlicher Strukturen vollzog. Dabei kann er zeigen, wie die Planungen für einzelne Bauprojekte (etwa die neue Börse, die neue Waage oder das neue Rathaus) schrittweise umfangreiche reguläre Neustrukturierungen der Umgebung durch neue Straßen und Plätze nach sich zogen. Sehr vorsichtig formuliert De Vylder, man neige mit Blick auf die von ihm skizzierte städtebauliche Transformation dazu, ein „global model“ hinter den Einzelinterventionen zu vermuten, einen „new urban grid for the city of Antwerp“ (S. 91). Bei dieser Vermutung mag es bleiben, denn der Beitrag zeigt sehr schön, dass das Raster im Städtebau der Frühen Neuzeit in Europa selten in Reinform auftritt, sondern sich zumeist mit bestehenden – stadträumlichen wie natürlichen – Strukturen verbinden muss. Zu fragen ist, ob dieser ausgesprochene Pragmatismus in der Anwendung des Rasters nicht einerseits den Erfolg des „dutch grid“ als städtebauliche Planungspraxis in den Niederlanden, aber auch in Schweden oder etwa Preußen ausmachte und ob nicht anderseits gerade dieser Pragmatismus dazu führte, dass die niederländischen Einflüsse von der Forschung lange Zeit übersehen bzw. falsch eingeschätzt wurden.

Umfassender und dichter an der Geschichte der Theoriebildung zu Stadtplanung und Castrametatio ist der Beitrag von Piet Lombaerde (Castrametatio and the Grid in the Spanish Habsburg World) angelegt. Lombaerde befasst sich in erster Linie mit den theoretischen und praktischen Einflüssen der südlichen Niederlande auf den Städtebau im spanisch-habsburgischen Weltreich. Dazu formuliert er zu Beginn prägnant, das in der Auseinandersetzung mit den antik-römischen Militärlagern im Rahmen der Castrametatio gewonnene Wissen habe „one of the most successful sources of knowledge in the early modern urbanism of the sixteenth and seventeenth centuries in Europe“ geformt (S. 129). Diese Spur verfolgt Lombaerde über Publikationen der Officina Plantiniana in Antwerpen, über verschiedene Traktate etwa von Sebastian Fernández de Medrano, Gottschalk Steewech oder Justus Lipsius. Weiter ins 17. Jahrhundert führt dann die Spur der Militärakademien in Madrid, Brüssel und Barcelona. Schließlich zeigt Lombaerde am Beispiel von Lima auf, wie ertragreich es sein kann, dem Wissenstransfer von den Niederlanden über Spanien nach Amerika intensiv nachzugehen. Hierfür weist sein Beitrag thematische und methodische Wege.

Legen Lombaerde und De Vylder den Fokus darauf, niederländische Einflüsse auf den Städtebau im spanisch-habsburgischen Weltreich zu untersuchen, so unternehmen Christopher P. Heuer, Neil Levine und David van Zanten den Versuch, dem Einfluss des „dutch grid“ in Nordamerika bis ins 20. Jahrhundert hinein nachzugehen. Auch wenn hier die direkten Verbindungslinien zum „dutch grid“ des 16./17. Jahrhunderts notgedrungen immer vager werden, scheint doch in den Beiträgen von Levine und van Zanten ein Themenbereich auf, der auch für die Betrachtung der vom Raster geprägten frühneuzeitlichen Stadt relevant gewesen wäre: Der Aspekt des Privaten und seines räumlichen Verhältnisses zum Öffentlichen, der an den Beispielen von Frank Lloyd Wright und Louis Sullivan thematisiert wird, taucht in den anderen Beiträgen des Bandes in Hinblick auf konkrete Planfiguren gar nicht auf.

Insgesamt schärft dieser Tagungsband das Verständnis für die Einzigartigkeit des niederländisch-spanischen Rasters um 1600. Der Band zeigt, dass die Übernahme niederländischer Stadtplanungsmaximen innerhalb des spanischen Weltreiches institutionell bedingt war, während bei der Übernahme durch andere europäische Mächte das Interesse an den Methoden des niederländischen Vorbilds im Vordergrund stand. Hierbei allerdings wird die umfassende Adaption des niederländischen Vorbilds in Preußen im 17. und 18. Jahrhundert erstaunlicherweise mit keinem Wort erwähnt. So wie die deutschsprachige Forschung zu diesem Themenkomplex ausgespart wird, werden auch aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Ansätze sowie die doch zentralen Beiträge von Sybille Krämer oder Wolfgang Schäffner leider nicht aufgegriffen.

Abschließend sei noch einmal das Themenspektrum Raster und Bild angesprochen. Für Werner Oechslin ist die Vermessungskunst die „medietas“, die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, bei van den Heuvel tritt der Plan, also das Bild an diese Stelle. Es ist jedoch zu fragen, ob Vermessungskunst und Plan im selben Raum wirklich unverbunden nebeneinander stehen, oder ob nicht vielmehr der Plan die Vermessung motiviert, ohne als Ideal gesehen werden zu müssen. Welche Bedeutung hat die Bild-Evidenz bei der Vermessung? Der Sammelband führt zu einer genaueren Bestimmung und Abgrenzung des Problems. Ohne Zweifel birgt die Betrachtung des Rasters nach Schichten, wie sie van den Heuvel eingeführt hat, Potenzial für weitere Forschungen. Voraussetzung dafür jedoch ist es, dass der bildtheoretische Aspekt dieses methodischen Ansatzes ernst genommen wird. Zu überlegen wäre, ob nicht der mathematische (geometrische ebenso wie arithmetische) Pragmatismus, der in dem vorliegenden Tagungsband erstmals übergreifend dokumentierten städtebaulichen Handlungsmaximen niederländischer Prägung für eine begriffliche Fassung des Phänomens „grid“ besser zu nutzen wären. Hierfür ist es jedoch unverzichtbar, die graphischen bzw. städtebaulichen Einzelstrukturen begrifflich so genau wie möglich zu erfassen.

Völlig zu Recht verfolgt der Band die Grundintention einer Wendung gegen die Abbildtheorie des Rasters. Gerade dieser Ansatz aber erlaubt und fordert es, jeden einzelnen Plan und jede einzelne Stadt als einzigartiges Gebilde zu verstehen, das als eigenständige und exemplarische Realisation in je konkreten Planungssituationen bestand.

Piet Lombaerde; Charles van den Heuvel (Hrsg.): Early modern urbanism and the grid. Town planning in the Low Countries in international context ; exchanges in theory and practice 1550 - 1800 (= Architectura moderna; 10), Turnhout: Brepols Publishers 2011
ISBN-13: 978-2-503-54073-3, XIX, 252 S.

Empfohlene Zitation:
Christof Baier, André Bischoff: [Rezension zu:] Piet Lombaerde; Charles van den Heuvel (Hrsg.): Early modern urbanism and the grid. Town planning in the Low Countries in international context ; exchanges in theory and practice 1550 - 1800 (= Architectura moderna; 10), Turnhout 2011. In: ArtHist.net, 12.10.2012. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/2604>.

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