REV 11.12.2011

Stefan Roller (Hrsg.): Niclaus Gerhaert

Rezensiert von Ralf Dorn, TU-Darmstadt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Die Wiener Grabplatte Kaiser Friedrichs III., das Baden-Badener Kruzifix und das Busnang-Epitaph in Straßburg sind leider immobil, ebenso wie die Trierer Grabplatte des Erzbischofs Jakob von Sierck und die Dangolsheimer Muttergottes in Berlin, die sich aus konservatorischen Gründen unmöglich bewegen ließen. Ansonsten hat Stefan Roller, Leiter der Skulpturensammlung des Liebieghauses, zusammengetragen was nicht niet- und nagelfest war. Damit ist ihm ein selten vollständiger Blick auf das Schaffen der in der Kunstgeschichte berühmten Bildhauerpersönlichkeit Niclaus Gerhaert gelungen. Gleich zu Beginn der Ausstellung empfängt die Besucher das kompositorisch wunderbar raumgreifende, sogenannte Selbstbildnis des Künstlers. Es dokumentiert sowohl Gerhaerts bildhauerische Meisterschaft als auch einen Höhepunkt der spätmittelalterlichen Skulptur und unterstreicht zudem das Anspruchsniveau dieser Schau.

Nach zweijähriger Vorbereitung, begleitet von technologischen Untersuchungen, wurden viele Beobachtungen gesammelt und Erklärungsmodelle „für alte wie für neue Fragestellungen“ (33) entwickelt. Im einleitenden Aufsatz unternimmt Roland Recht den Versuch einer Verortung der Künstlerpersönlichkeit Gerhaerts in seine Zeit. Um 1420/30 beginnt in den Künsten eine Phase der Naturaneignung, die nicht nur die Malerei erfaßt. „Die Bildhauerei durchlief in dieser Epoche eine der Malerei analoge Entwicklung.“ (27) Zum einen gelingt Gerhaert die mimetische Erfassung des menschlichen Porträts auf meisterhafte Weise, zum anderen führt er die Gestaltung des Faltenwurfs zu einem neuen Höhepunkt. „Unter den Künstlern – Malern, Stechern und Bildhauern – des 15. Jahrhunderts, die dazu beigetragen haben, den Faltenwurf zu einer eigenen bildnerischen Form zu erheben, steht Niclaus Gerhaert mit an vorderster Stelle.“ (31)

Für die kurze Zeitspanne von 1462 bis 1473 ist der Bildhauer nachgewiesen, doch sein Einfluß reicht weit „ins 16. Jahrhundert hinein“ (33), wie Stefan Roller in seinem ersten Katalogbeitrag ausführt. In chronologischer Abfolge führt er durch das gesicherte wie auch das Gerhaert zugeschriebene Oeuvre. Das erste erhaltene, signierte und datierte Werk Gerhaerts, das Grabmal des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck von 1462, zeigt seinen virtuosen Umgang mit dem Material Stein. Tiefe Hinterschneidungen und à jour gearbeitete Teile steigern die Präsenz des Dargestellten. Willkürlich erscheinende Texturen mit dem Zahneisen wechseln sich ab mit glatt geschliffenen Partien, die Roller nicht ausschließlich auf die Erzielung von Materialität zurückgeführt wissen will, sondern auf die „Erzielung differenzierter optischer Effekte“ (34) „Das Ergebnis ist eine fast als malerisch zu bezeichnende Belebung der Oberfläche, weil das auftreffende Licht unterschiedlich gebrochen wird.“ (34)

Gerne wüßte man mehr über das Straßburger Kanzleiportal, für das Gerhaert nachgewiesenermaßen verantwortlich zeichnete und zu dem die bekannten Stücke des sogenannten Propheten und der Sibylle gehörten. Gleiches gilt auch für das genannte Selbstbildnis. Dieses in seiner Lebensgröße und -nähe bewundernswerte Meisterwerk steht in krassem Gegensatz zu den riesigen Ausmaßen des Baden-Badener Kruzifixes. Dessen monolither Steinblock schlägt mit rund 460 x 210 x 90 cm zu Buche und ist in der Ausstellung immerhin als Gipsabguß zu sehen. Auch in diesem Maßstab gelingt es Gerhaert, sein Konzept eines ausdrucksstarken Verismus umzusetzen, gar zu übersteigern in der Dornenkrone, den Haarsträhnen und dem Lendentuch Christi. Sein letztes gesichertes Werk stellt das Grabmal Kaiser Friedrichs III. im Wiener Stephansdom dar, das dem Künstler nicht nur aufgrund seiner Dimensionen, sondern auch aufgrund des Materials – Adneter Rotmarmor – alles abverlangte. Dabei ist die irisierende Farbigkeit des Marmors der ästhetischen Wirkung der perfekt bearbeiteten Oberfläche fast hinderlich.

Die Werkliste ist schnell abgearbeitet; bleibt die Frage: „War das wirklich alles? Und die Antwort muss lauten: Nein.“ (50) Auch bei der Skulpturengruppe des Nördlinger Hochaltars – die Holzskulpturen des Hl. Georg und der Hl. Magdalena sind in der Ausstellung zu sehen – ist sich die Gerhaert-Forschung weitgehend einig. Hier weisen insbesondere die überreichen Gewandmotive – gegenläufige Faltenführung samt Umschlagen des Mantelsaums – den Weg. Aber auch die qualitätvollen Steinskulpturen von Christus und Maria in der 1466 geweihten Hardenrath-Kapelle der Kölner Kapitolskirche lassen sich aufgrund der „fasstechnischen Übereinstimmungen“ (56) der Gerhaert-Werkstatt zuweisen. In seinem Fazit resümiert Roller entscheidende Impulse, die von Gerhaerts Kunst ausgingen: „Eine bis dahin ungeahnte Verlebendigung, Dynamisierung und Verräumlichung unterscheidet seine Skulpturen von allem Bisherigen.“ (59)

Etwas bemüht erscheint der Versuch Michael Grandmontagnes, Gerhaerts Herkunft aus den burgundischen Niederlanden am überlieferten Bestand festzumachen. Trotz der äußerst dünnen Überlieferungsschicht kommt er zu dem Schluß, das Gerhaert die Werke Jean Delemers kannte und modifizierte, „um jene figurenimmanenten Verschränkungen zu erreichen“. (67) Frappierend sind hingegen die biographischen Bezüge eines Stücks aus der Gerhaert-Nachfolge – gemeint ist das Trierer Epitaph der Elisabeth von Görlitz – zu Jean Delemer. (68)

Äußerst aufschlußreich sind die Ausführungen von Harald Theiss, der in seiner technischen Untersuchung der Nördlinger Hochaltarfiguren zu zahlreichen neuen Erkenntnissen über deren Blockbehandlung und -bearbeitung sowie deren Fassung kommt. Auch er stellt variierende Ausarbeitungsgrade fest: „ungestüm aus dem Block gerissen [...] manchmal sogar innerhalb einer Körperpartie“ (86), die Rollers Überlegungen zu diesem Aspekt durchaus konterkarieren. Theiss kommt zu dem Ergebnis, daß die Fassung der Nördlinger Figuren von einer in „Straßburg ansässigen Malerwerkstatt“ (90) ausgeführt wurden.

Wie einflußreich Gerhaerts Kunst war, führt Stefan Roller in seinem zweiten Beitrag auf. Viele Gerhaertsche Einzelmotive tauchen in der Nachfolge in zweit-, teilweise drittklassigen Werken wieder auf. Doch auch Größen wie Michael Pacher und Veit Stoß zeigen sich offensichtlich beeinflußt von seinem Werk. „Für die auffallend nachhaltige Wirkung Gerhaerts ist sicherlich auch nicht unwesentlich, dass ehemalige Zeitgenossen die Erinnerung an dessen Errungenschaften noch im 16. Jahrhundert wach hielten und ihre Prinzipien an jüngere Generationen weitergaben.“ (133)

Nicht neu und doch faszinierend ist die Erkenntnis des gegenseitigen Einflusses, den Druckgraphik und Bildhauerei im späten Mittelalter aufeinander ausüben. Eva Maria Breisig zeigt in ihrem Beitrag, dass Künstler wie der Kupferstecher mit dem Notnamen Meister E.S. die Bildhauerei nachhaltig beeinflußten und zur Verbreitung einzelner Motive beitrugen. Auf der anderen Seite finden sich Künstler wie der Meister der Gewandstudien (146), die sich motivisch offensichtlich auch an Holzbildwerken schulten. Die angeführten Beispiele „geben einmal mehr Einblick in die kompilatorische Arbeitsweise von Bildhauern bzw. Zeichnern in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts“ (149) und helfen, das Phänomen der Verbreitung einzelner Motive zu erklären.

Neben den Ergebnissen der technologischen Untersuchungen zum verwendeten Steinmaterial und der Farbfassung von Gerhaerts Holzbildwerken wurden dem Ausstellungsband alle bisher bekannten Quellen und Inschriften beigegeben. Der mit gutem Bildmaterial vorzüglich ausgestattete Katalogteil ist in drei Abschnitte gegliedert: Dem gesicherten Oeuvre Gerhaerts folgen die ihm zugeschriebenen Werke, während der dritte Abschnitt der Nachfolge Gerhaerts und der Rezeption seiner Werke gewidmet ist. Mit diesem Katalog ist es den Ausstellungsmachern gelungen, dem Phänomen Niclaus Gerhaert etwas näher zu kommen. Als Besucher verläßt man die Ausstellung voller Bilder und ähnlich in sich gekehrt wie das rätselhafte Bildnis des melancholisch in sich versunkenen Mannes am Eingang.

Roller, Stefan (Hrsg.): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters; Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, 27. Oktober 2011 bis 4. März 2012, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011
ISBN-13: 978-3-86568-685-5, 384 S., EUR 49.90

Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Roller, Stefan (Hrsg.): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters; Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, 27. Oktober 2011 bis 4. März 2012, Petersberg 2011. In: ArtHist.net, 11.12.2011. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/2397>.

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