In Venedig ist alles anders, nicht zuletzt die Kunst. Das galt schon für das mittelalterliche Venedig, dem man sicher kein größeres Unrecht tut, wenn man es als byzantinischen Außenposten betrachtet. Seit dem späten 15. Jahrhundert erlebte die Stadt jedoch eine Entwicklung, die diese Vorgeschichte vergessen ließ und Venedig zu einem Kunstzentrum von singulärem Charakter machte. Es war vor allem die Malerei, die den europäischen Rang der venezianischen Kunst begründete. Dadurch geriet Venedig in Konkurrenz zu den übrigen italienischen Kunstzentren, vor allem zu Florenz und Rom. Das alles bemerkten bereits die Zeitgenossen, die auch schon den Gegensatz zwischen dem venezianischen „colore“ und dem toskanisch-römischen „disegno“ sahen. 1550 hatte Vasari in der ersten Auflage seiner „Viten“ die toskanisch-römische Position kunsttheoretisch untermauert und dabei der venezianischen Malerei ein ziemlich schlechtes Zeugnis ausgestellt, vielleicht sollte man besser sagen: ein vernichtendes Lob. Nach Vasari begründete sich die Qualität der venezianischen Malerei allein im guten „colore“. Die Farbe ist aber nur etwas Oberflächliches, während sich der eigentliche geistige Rang eines Bildes im „disegno“ zeigt. Da die Venezianer diesen nicht beherrschen, müssen sie die konzeptionellen Mängel ihrer Bilder koloristisch übertünchen.
Die Position Vasaris konnte nicht unwidersprochen bleiben. Einer der wichtigsten Gegner, die ihm in Venedig erwuchsen, war Lodovico Dolce. Er veröffentlichte 1557 seinen „Dialogo della Pittura intitolato l’Aretino“. Dieser Text ist nie in Vergessenheit geraten, er war jedoch für die kunstgeschichtliche Forschung nie so leicht benutzbar wie Vasaris „Viten“.
Dolce war eine Art Berufsschriftsteller, der sich auf verschiedensten Gebieten betätigte und kein ausschließlicher Experte in Kunstdingen. Außerdem ist sein venezianisches Italienisch nicht für jeden leicht zu lesen. Es ist daher ein wirklich großes Verdienst von Gudrun Rhein, eine vollständige Übersetzung von Dolces Dialog vorgelegt zu haben, auch wenn natürlich eine Übersetzung das Original nicht völlig ersetzen kann. Wer in Zukunft einen Eindruck – und zwar eine guten und genauen – von Dolces Kunsttheorie gewinnen will, braucht nur Gudrun Rheins Buch aufzuschlagen.
Die vorliegende Arbeit ist aber noch viel mehr als eine Übersetzung, denn sie bietet auch eine ausführliche Einordnung Dolces in die Kunsttheorie seiner Zeit. Nach einer kurzen Einleitung werden in einem zweiten Abschnitt (33-54) der Dialog und seine Personen vorgestellt. Es folgt als dritter Abschnitt (55-172) eine Darlegung zu den wesentlichsten kunsttheoretischen Begriffen: invenzione, disegno, colorito, convevolezza, imitazione, maniera usw. Jeder Begriff wird in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Es gelingt der Verfasserin, tief in die Strukturen des Dialogs einzudringen, seine Quellen offenzulegen und auf diese Weise den Text im besten Sinne des Wortes zu erschließen. (Wer sich auf einfache Weise einen generellen Zugang zu italienischen Kunsttheorie des 16. und 17. Jahrhunderts eröffnen will, sollte einfach diese Kapitel mit den entsprechenden Einträgen vergleichen, die Luigi Grassi und Mario Pepe in ihrem oft aufgelegten „Dizionario dei termini artistici“ geben.) Natürlich sind es die antike Rhetorik und die antike Poetik, denen Dolce seine wichtigsten Topoi entnimmt – etwas anderes wäre ja auch nicht möglich gewesen. Überraschend ist das also nicht, und da die Kunstgeschichte sich mit diesen Topoi nun schon seit einiger Zeit beschäftigt, wirkt Dolce auf den ersten Blick gar nicht so aufregend. Aufregend ist aber, wie er diese Topoi, die eigentlich schon die florentinische Konkurrenz für ihr Lob des geistig so hochstehenden „disegno“ benutzt hatte, nun auf den venezianischen „colore“ ummünzt.
Den folgenden vierten Abschnitt kann man als eine Ausgliederung des dritten verstehen, denn hier wird nochmals der echte oder vermeintliche Gegensatz zwischen disegno und colore behandelt (173-206). Gerade hier sind die einzelnen Unterkapitel jeweils sehr informativ, besonders erwähnt seien die instruktiven Darlegungen zum „Dialogo als Reaktion auf Vasaris Vite“ (194-197). Hier wird das wichtige Thema des Städtelobes untersucht. Vasari und Dolce haben Kunsttheorie jedenfalls nicht nur als Selbstzweck betrieben. Wer will, kann sich an manche Diskussionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern, als die „demokratische“ Ungegenständlichkeit mit der „undemokratischen“ Gegenständlichkeit kontrastiert wurde. Vasaris Vite sind offenkundig zu einem großen Teil ein Lob der Stadt Florenz, das implizit und explizit eine Herabsetzung anderer Städte enthält, nicht zuletzt Venedigs. Darauf reagiert Dolce mit einem besonderen Lob Venedigs. Und dieses Lob personalisiert Dolce in der Gestalt Tizians. Aus diesem Grund besitzt der Dialogo auch die erste veröffentlichte Tizian-Vita. Sie wird ebenfalls von der Verfasserin auf diesen Seiten ausführlich gewürdigt (199-204). Mit sicherem Gespür erkennt und benennt sie dabei wiederum die rhetorischen Topoi, die Dolce benutzte. Natürlich wird auch betont, wie hoch Kaiser Karl V. den Maler schätzte. Im Gegenzug war es natürlich für Dolce erforderlich, den Ruhm Michelangelos zu demontieren, in dem sich das florentinische Städtelob Vasaris personalisiert hatte. Trotz der großen Zuneigung zu Tizian bleibt es überraschend, warum Dolce überhaupt keine Wertschätzung für Tintoretto aufbrachte, den er kritisierte, ohne ihn namentlich zu erwähnen. Man gewinnt den Eindruck, Dolce habe letztlich einfach eine persönliche Abneigung gegen den Maler gehabt, weshalb er sogar darauf verzichtete, seinem Lob der venezianischen Malerei eine noch breitere Basis zu geben. In diesem Zusammenhang gelingt der Verfasserin die überzeugende Identifikation eines von Dolce erwähnten Gemäldes mit Tintorettos Votivbild der Kämmerer Giorgio Venier und Alvise Foscarini (105). Ein schöner Fund, der dazu beiträgt, den Dialogo besser zu verstehen. Bisher glaubte man nämlich, das betreffende Gemälde als Werk Tizians identifizieren zu müssen, was aber der Logik des Textes widerspricht.
Vasari war selbst ein bedeutender Künstler, Dolce hingegen war Schriftsteller, vielleicht würde man ihn heute als Feuilletonisten bezeichnen, jedenfalls war er im Sinne des 16. Jahrhunderts kein Fachmann in künstlerischen Fragen, sondern ein Laie. Es war für ihn daher wichtig, den Lesern des Dialogo verständlich zu machen, wieso er überhaupt ein Kunsturteil abgeben könne. Gudrun Rhein widmet dieser Frage das fünfte und letzte Kapitel ihrer Überlegungen (207-227). Letztlich geht es hier aber nicht nur um den Laien Dolce selbst, sondern ebenso um alle anderen Laien, die ja die Mehrheit der Bildbetrachter sind: Inwieweit dürfen sie ein Kunstwerk beurteilen? Dolce fordert seine Leser mehrfach dazu auf, anhand der von ihm gegebenen Grundbegriffe selbst Bilder zu vergleichen, zu deuten und nach ihrer Qualität zu beurteilen. Man darf Dolce unterstellen, er habe auf diese Weise Propagandisten für die Sache der venezianischen Malerei erziehen wollen. Der Dialogo führt dann exemplarisch vor, wie ein solches Kunstgespräch geführt werden kann. So wie Gudrun Rhein Dolce charakterisiert, wird der Unterschied seiner Abhandlung zu den Lebensbeschreibungen Vasaris gut erkennbar. Anders als Dolce blickt Vasari eben doch viel weiter über den lokalen Tellerrand hinaus und er hat eben doch ein erheblich stärkeres Interesse an harten – „wissenschaftlichen“ – Fakten, von denen er ja auch erheblich mehr liefert als Dolce. Das schmälert keineswegs den Rang Dolces, erklärt aber das intensivere Weiterwirken Vasaris, dessen Viten auch erheblich leichter lesbar und auswertbar sind als der Dialog Dolces.
Nach den kommentierenden und erklärenden Kapiteln schließt sich die Neuübersetzung des Dialogs selbst an (227-318). Grundlage ist die Erstausgabe von 1557. Der originale Text selbst ist gar nicht besonders lang, er erschließt sich aber einem schnellen heutigen Leser nur schwer. Daran sind nicht nur manche venezianische Besonderheiten schuld, sondern vor allem die üblichen rhetorischen Strukturen dieser Textgattung, besonders die manchmal etwas umständlichen Argumente der Sprecher. Dank der Übersetzung von Gudrun Rhein kann man sich Dolces Dialog jetzt in völlig neuer Weise zuwenden, denn die Übersetzung ist hervorragend gelungen. Man liest sie sogar mit Vergnügen, was nicht auf alle Übersetzungen zutrifft. Sogar der Witz, über den Dolce hin und wieder verfügt, geht nicht verloren. Trotzdem bleibt es eine wissenschaftliche Übersetzung, die in jedem Augenblick dem Original verpflichtet ist. Hervorzuheben sind die auf den jeweiligen Seiten befindlichen kommentierenden Anmerkungen, die eine große Hilfe zum Verständnis des Textes sind. Sehr nützlich sind hier die vielen Verweise auf die antike Literatur. Wer hat schon die einschlägigen Stellen aus der Naturgeschichte des Plinius sofort parat? Ebenso sinnvoll sind auch die Angaben zu den erwähnten Personen und Kunstwerken.
Da Gudrun Rhein den Traktat Dolces nicht einfach als Steinbruch für geschichtliche Daten verwendet, sondern den Text als solchen ernstnimmt, zeigt sich eine Problematik genereller Art: Kunstliteratur besitzt ein Eigenleben und ist keinesfalls eine direkte Widerspiegelung der Kunstpraxis, auch wenn sie mit dieser natürlich verbunden ist. Schon Julius von Schlossers „Kunstliteratur“ (Erstausgabe: Wien 1924) hat dieses Phänomen sehr deutlich gemacht. In der letzten Zeit verstärkt sich leider die Tendenz, Kunstpraxis zu stark als Funktion von Kunsttheorie zu sehen. Vielleicht erweist sich die heutige Kunstgeschichte in dieser Beziehung immer noch als Erbin der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls setzt die Verfasserin dagegen einen richtigen Akzent, indem sie die große Autonomie der Kunstliteratur hervorhebt. Gerade als eigenständiges Phänomen ist aber die Kunstliteratur Gegenstand der Wissenschaft Kunstgeschichte.
Dolce ist später gestartet als Vasari und er konnte ihn auch nicht einholen, trotzdem hat Dolce eine Menge Punkte für die venezianische Sache gesammelt. Der Vorsprung Vasaris wurde durch die Kunstgeschichte sogar noch erheblich vergrößert. Und schon im 19. Jahrhundert erfolgte die große Übersetzung der Viten durch Ludwig Schorn und Ernst Förster. Sie wird im Moment durch die im Berliner Wagenbach-Verlag erscheinende hervorragende deutsche Ausgabe ersetzt. Lodovico Dolce wird Giorgio Vasari nicht mehr einholen, aber Gudrun Rhein hat dafür gesorgt, ihn nicht ungebührlich weiter hinter den florentinischen Konkurrenten zurückfallen zu lassen. Dafür darf man ihr sehr dankbar sein.
Rhein, Gudrun: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts . Mit einer kommentierten Neuübersetzung (= (Studien zur Kunst 12)), Köln, Weimar u. Wien: Böhlau Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-412-20138-8, 360 S., 52 Abb., EUR 49.90
Empfohlene Zitation:
Hecht Christian: [Rezension zu:] Rhein, Gudrun: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts . Mit einer kommentierten Neuübersetzung (= (Studien zur Kunst 12)), Köln, Weimar u. Wien 2008. In: ArtHist.net, 09.11.2009. Letzter Zugriff 19.12.2024. <https://arthist.net/reviews/232>.
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