"It is a sad fact: art history lags behind the study of the other arts." [1] Mit diesem Keulenschlag gegen die "zurückgebliebene Kunstgeschichte" begann der britische Literatur- und Kunstwissenschafter Norman Bryson sein 1983 publiziertes Buch "Vision and Painting. The Logic of the Gaze". Anders als in der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft oder der Anthropologie herrsche im Feld der Kunstgeschichte, so Bryson, bloß archivarische Faktenklauberei, angetrieben von der Betriebsamkeit des Kunsthandels und Ausstellungswesens. Ihre Theorieferne hätte die Kunstwissenschaft an den Rand der Geisteswissenschaften gedrängt, zum bloßen Freizeitvergnügen degradiert. Grundsätzliche Fragen, was überhaupt ein Bild sei, wie es zum Sehen, zur Tradition und zur Macht stehe, würden nicht mehr gestellt bzw. an die Philosophie delegiert.
20 Jahre und jede Menge "linguistic" bzw. "pictorial turns" später kann davon natürlich keine Rede mehr sein, wenngleich z. B. Teile der deutschsprachigen Kunstgeschichte immer noch von einem gewissen positivistischen Buchhalterdenken geprägt sind. Die nun von Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle in der Reihe "Bild und Text" herausgegebenen deutsche Übersetzung von Brysons Frühwerk kommt deshalb zu spät, um noch in eine aktuelle Debatte einzugreifen, aber sie erleichtert die Zugänglichkeit einer Inkunabel semiotisch bzw. materialistisch orientierter Kunstwissenschaft.
Der zeitliche Abstand macht freilich die gravierenden Schwächen von Brysons Text umso deutlicher. Heute muss man feststellen, dass Bryson mit seinem Anspruch, ein philosophisch fundiertes kunstwissenschaftliches Buch zu schreiben, weit übers Ziel hinaus geschossen ist. Er hätte innerhalb der Zunft wesentlich mehr bewirken könne, wenn er bei seinem Thema geblieben und nicht den Ehrgeiz entwickelt hätte, auch noch ganze philosophische Richtungen wie Poppers Wissenschaftstheorie, Saussures Semiotik, den (Post-)Strukturalismus und die marxistische Kultursoziologie einer weitschweifigen Kritik zu unterziehen. Anfang der 80er Jahre mag das eine oder andere davon noch mehr Relevanz besessen haben, heute macht es die Lektüre seines Buches ziemlich mühsam. So gilt das, was der Autor an der rezenten kunstwissenschaftlichen Literatur bemängelt, umgekehrt für sein Werk: Es enthält zuviel Philosophie und zu wenig Kunstwissenschaft, und zwar zu viel Philosophie, die zur Lösung kunstwissenschaftlicher Fragen kaum etwas beiträgt.
Brysons Grundüberzeugung, dass es sich bei Malerei um ein Zeichensystem handle, stand bis Anfang der 80er Jahre im angelsächsischen Raum vor allem Ernst H. Gombrichs "Art and Illusion" entgegen. [2] Obwohl oder gerade weil für Bryson "Art and Illusion" das nahezu "einzige Buch" darstellt, das den Graben zwischen Philosophie und Kunstgeschichte überbrückt, hat es seiner Meinung nach eine fatale Wirkung ausgeübt: "Weil sich eine lebendige Tradition des Fragens nicht entwickelt hat, sind die Argumente, die ,Kunst und Illusion' bereitstellt, inzwischen so eingewurzelt, so vertraut und zum Allgemeingut geworden, daß man die von Gombrich aufgeworfenen Probleme ein für allemal gelöst hält. Das sind sie aber nicht. Als Antwort auf die Frage, was ein Bild sei, sagt Gombrich, es sei die Aufzeichnung einer Wahrnehmung. Ich bin sicher, daß diese Antwort grundsätzlich falsch ist..." (S. 20) Die ersten drei Kapitel, d. h. die Hälfte seines Buches, widmet Bryson der Widerlegung von Gombrichs perzeptualistischer Kunsttheorie. Doch wer glaubt, dass Bryson in der zweiten Hälfte seine eigene Theorie entfaltet, irrt. Denn auch die Semiotik bzw. der Strukturalismus birgt "nicht weniger Gefahren und Fallgruben... als der Perzeptualismus" (S. 20). Ergo widmet sich Bryson in Kapitel 4 ("Das Bild von innen und von außen", S. 95-116) einer ausführlichen Kritik der Zeichentheorie von Saussure bis Barthes. Erst in Kapitel 5 kommt Bryson auf sein semiotisches Alternativmodell "Gaze and Glance" (S. 117-162) zu sprechen, um aber im letzten Kapitel ("Bild, Diskurs, Macht", S. 163-195) noch eine dritte Front gegen eine mechanistische Sozialgeschichte der Kunst aufzumachen. Das ist ein bisschen viel an Kritik, und wer sich, vom Titel verleitet, eine konstruktive Theorie des Visuellen in der Malerei erwartet hat, muss mit "Gaze and Glance" Vorlieb nehmen.
Für die in der kunsthistorischen Praxis stehenden LeserInnen ist die Kritik am perzeptualistischen Modell am ergiebigsten. Im ersten Kapitel ("Die natürliche Einstellung", S. 25-37) spürt Bryson der historischen Wurzel dieser Kunsttheorie nach, die bis in die Antike zurückreicht. Schon in Plinius' Geschichte von den Trauben des Zeuxis soll die Kunst die Natur so täuschend nachahmen, dass sie sich dabei selbst zum Verschwinden bringt (S. 25). Kunstgeschichte wurde seither - von Vasari bis Francastel [3] - als Fortschrittsgeschichte im Sinne der immer perfekteren Angleichung an ein Urbild geschrieben: So wie Parrhasios den Zeuxis durch den besseren tromp l' oeil-Effekt übertraf, übertraf Giotto den Cimabue, Masaccio den Giotto usw. Das, was die Kunst abbildet, ist immer schon gegeben; das Problem ist eigentlich nur eines der möglichst adäquaten Übersetzung der "universellen Seherfahrung". Bryson vergleicht dieses Streben nach der "essentiellen Kopie " mit der "natürlichen Einstellung" von Edmund Husserls Phänomenologie (S. 28). [4] Der persönliche Stil eines Künstlers muss dabei als Verunklärung des Urbildes, als Sand im Getriebe des Fortschritts verstanden werden: "die essentielle Kopie hätte, würde sie je erreicht, keine Stilmerkmale mehr, weil das Simulakrum am Ende alle Spuren des produktiven Prozesses ausgeschieden hätte." (S. 31) Neben dieser Auffassung von "Stil als Einschränkung" kritisiert Bryson an der "natürlichen Einstellung" noch das "Fehlen der historischen Dimension" (die universale Seherfahrung wird ja als transhistorisch begriffen); den kartesianischen Dualismus von Geist und Welt, die nur durch die Netzhaut getrennt sind, auf der sich mechanisch das Äußere der Welt abzeichnet; die "Zentralität der Wahrnehmung" (jede Abweichung von der universalen Seherfahrung muss negativ bewertet werden) und schließlich das mechanistische Kommunikationsmodell, das behauptet, dass "der Inhalt des Bildes seiner äußeren Materialisierung vorhergeht" (S. 34ff).
Gegenüber dieser ersten, extrem ahistorischen und ästhetisch normativen Theorie verhält sich Gombrichs Konzept, mit dem sich Bryson im zweiten Kapitel beschäftigt ("Die essentielle Kopie", S. 39-63), wesentlich differenzierter. Denn in "Kunst und Illusion" kommt es gerade "darauf an, zu erklären, warum Kunst eine Geschichte hat..." [5] Gombrich hält sich dabei, wie Bryson ausführlich nachweist, an die Wissenschaftstheorie seines Landsmannes Karl Popper (S. 45ff). Was für Popper die provisorische Hypothese ist, die durch ständige Falsifizierungen modifiziert werden muss, ist für Gombrich das Schema des Malers, das stets dann eine Verbesserung erfährt, wenn es zu Ungereimtheiten mit der Wirklichkeit kommt. "Zwischen den Pinsel und das Auge schiebt sich das gesamte Erbe der Schemata, die die jeweilige Kunsttradition, in der der Maler steht, hervorgebracht hat." (S. 48) Wie in der Wissenschaft bildet die Summe der Beobachtungsanweisungen, nicht die Beobachtungen selber, das jeweilige Schema; Beobachtung ist deshalb "immer selektiv und schemenabhängig" (S. 59). Gombrichs Theorie stellt aber gegenüber Plinius, so Brysons Kritik, nur einen scheinbaren Fortschritt dar. Während für Plinius die Begegnung von Ich und Welt kontinuierlich verläuft, ist sie für Gombrich intermittierend: "graue und monotone Perioden unter der Herrschaft von aberranten Schemata werden unterbrochen vom glänzenden Blitzstrahl einer regenerierenden Falsifizierung." (S. 62) Popper wie Gombrich sitzen der Fiktion auf, die schrittweise Eliminierung von Irrtümern würde zu einem Erkenntnisfortschritt führen: Der Fortschrittsgedanke ist ohne die Idee eines Zieles - im Falle der Malerei der "essentiellen Kopie" - nicht denkbar. Zu diesem naheliegenden Schluss gelangt Bryson aber erst, nachdem er sich seitenweise gegen Poppers Falsifizierungstheorie verbreitet hat, ohne dass dies für das Ziel der Untersuchung - die Widerlegung Gombrichs - notwendig gewesen wäre. Es ist dies nur eines von leider vielen Beispielen für die Neigung des Autors, sich häufig auf philosophische Seitengleise zu begeben, während die kunstwissenschaftlichen Passagen meist wesentlich knapper ausfallen und öfters Fragen offen lassen.
Im Kapitel "Perzeptualismus" wird Gombrichs "Mimesisdoktrin" an konkreten Beispielen, vor allem an den beiden Darstellungen der "Gefangennahme Jesu" von Duccio und Giotto, kritisch beleuchtet. Denn offensichtlich besitzen Gombrich und seine Anhänger hier ein besonders schlagendes Beispiel für ihre Theorie. "Wie kommt es ...", fragt Bryson, " daß Giotto noch immer den Eindruck größerer Lebensnähe vermittelt, auch wenn wir den Bezug auf die essentielle Kopie aus unserer Diskussion verbannt haben?" (S. 83) Bryson sucht zunächst eine Antwort im Feld der formalistischen Semantik, nicht ohne zu betonen, dass es eine solche - im Gegensatz zur Linguistik und Anthropologie - im Bereich der Kunstwissenschaft noch nicht gibt und dass sie letztlich unzureichend ist, um eine solche Frage zu beantworten (als Meister der Peripetie weiß Bryson die Verkündung der Lösung maximal hinauszuzögern - was aber nicht unbedingt die Spannung erhöht). Zunächst: Das realistische Bild verschleiert seinen Zeichenstatus; es tut so, als wäre Malerei kein Akt der Erzeugung von Bedeutung. Formalistisch betrachtet, enthält es einen Überschuss an Informationen, die für die Bedeutung des Bildes nicht direkt notwendig sind. "...die Entfernung von der Offenkundigkeit des Sinns wird dann dann [sic!] als eine Bewegung hin zum Wirklichen interpretiert. Giottos Gefangennahme ist gekennzeichnet von einem dramatischen Informationsüberschuß über das Quantum hinaus, das wir zum Erkennen der Szene benötigen; Duccios Gefangennahme nicht." (S. 84) Bryson beschreibt diese Differenz in Anlehnung an Roland Barthes (den er nebenbei noch ausführlich zu widerlegen sucht) mit den linguistischen Begriffen der Denotation und Konnotation. In der Malerei läge das Denotative eines Bildes in seiner Überschneidung mit ikonographischen Schemata. Sein Wirklichkeitseffekt bestünde "in einer besonderen Beziehung zwischen Denotation und Konnotation..., in welcher die Konnotation die Denotation derart stärkt und konkretisiert, daß diese den Anschein der Wahrheit annimmt." (S. 90) Im Fall von Giotto würden formale Eigenheiten, die als "bloß" konnotativ wahrgenommen werden, die gegensätzlichen Charaktere von Christus und Judas vertiefen, sodass man das Bild als "realer" (und nicht, was es tatsächlich ist, denotativ komplexer konstruiert) empfindet.
Es ist allerdings sehr zu bezweifeln, ob das linguistische Begriffspaar "denotativ-konnotativ" wirklich in der Lage ist, die Realismusfrage befriedigend zu lösen. Denn Bryson begeht denselben Fehler wie Gombrich und Generationen anderer, primär an der Kunst der Renaissance geschulten Kunsthistorikern, für die ihr Kerngebiet zum impliziten Maßstab von Kunst schlechthin geworden ist. Gerne werden hier Äpfel mit Birnen verglichen. Verräterischerweise zitiert Bryson an mittelalterlicher Kunst nur die byzantinische bzw. die byzantinisch geprägte Maniera Greca, an neuzeitlicher nur die des Westens. Dass die Ontologie und Theologie des Bildes im Westen auch im Mittelalter eine etwas andere war als im Osten (der östliche Schematismus mit der platonischen Urbild-Abbildtheorie zusammenhängt), wird aufgrund der Absicht unterschlagen, einen möglichst schroffen Gegensatz von Mittelalter und Neuzeit zu konstruieren. Vereinfacht lautet er: Hier das rein denotative mittelalterliche Schemabild, dort das mit konno- tativem Überschuss angereicherte neuzeitliche Illusionsbild. Von der Uniformität byzantinischer Ikonen lässt sich natürlich effektvoll der realistische Detailreichtum der Renaissancebilder abheben. Etwas schwerer hätte sich Bryson getan, wäre er bei seinen mittelalterlichen Beispielen im Westen geblieben und hätte auch hier versucht, auf einen gleichmäßigen qualitativen Level zu achten. So enthalten etwa die Episoden des Sündenfalls auf den ottonischen Bernwardstüren in Hildesheim mindestens so viel über das ikonographische Schema hinausgehende Konnotationen wie in Michelangelos Behandlung desselben Themas an der Decke der Sixtina, obwohl letztere zweifellos realistischer ist. Und die erheblichen Unterschiede zwischen dem romanischen Isaias von Souillac und Donatellos David liegen ganz bestimmt nicht darin, dass ersterer weniger Konnotationen zu bieten hätte. Brysons Begriffspaar beschreibt innerhalb der westlichen Kunst lediglich eine qualitative, kaum eine historische Differenz (vermutlich war Giotto wirklich der "bessere" Künstler als Duccio). Und für die Entwicklung seit der Renaissance ist das Begriffspaar "denotativ-konnotativ" definitiv unbrauchbar. Um sich etwa über die Veränderungen zwischen Renaissance und Barock klar zu werden, kommt man mit den alten sensualistischen Grundbegriffen Wölfflins - die nicht auf einer semantischen, aber syntaktischen Ebene versucht haben, die "Sprache" der Kunst zu erfassen - wohl etwas weiter als mit jenen Brysons. [6]
Doch, wie gesagt, Bryson gibt ja selbst zu, dass der "Formalismus allein... für den Wirklichkeitseffekt in der Malerei niemals eine volle Erklärung liefern ?kann?, und die Verwirrung, die er in mancher Hinsicht anrichten kann, ist vielleicht noch größer als die ?sic!? diejenige, die herrschte, bevor das Saussursche Denken den atlantischen Frieden störte." (S. 95). Das Problem, das Bryson im 4. Kapitel ("Das Bild von innen und von außen") darlegt, besteht in der Blindheit des strukturalistischen Formalismus für die Natur der sozialen Formation, denn dieser hält die konnotativen Realeffekte ("vraisemblance") für bloß "betrügerisch und macchiavellistisch" (S. 104), wo sie doch in die Lebenspraxis eingewoben sind. Daran schließt Bryson einen weitschweifigen kritischen Exkurs zu Saussures Zeichentheorie, der auf die (seit der Postmoderne geläufige) Ersetzung der fixen Relation von Signifikant und Signifikat durch einen zirkulierenden Ring von Signifikanten hinausläuft.
Im 5. Kapitel gelangt Bryson endlich zum Kernthema seines Buches - einer neuen Theorie des Sehens in der Malerei, die er auf dem dualistischen Begriffspaar "gaze" und "glance" aufbaut. Die westliche Malerei beruhe auf der "Verleugnung der deiktischen Referenz, auf dem Verschwinden des Körpers als Stätte des Bildes." (S. 119) In der östlichen Tradition, etwa der chinesischen Malerei, werde immer auch die Arbeit des Pinsels als solche demonstriert und offengelegt; dementsprechend sukzessiv erfolge auch die Wahrnehmung eines solchen Bildes, die Bryson mit dem Terminus "glance" (oder frz. "coup d'oeil") definiert: "einem verstohlenen, wandernden Seitenblick, dessen Aufmerksamkeit immer woanders ist" (S. 124). In der westlichen Ölmalerei hingegen werde die Entstehungsgeschichte eines Bildes unterdrückt; aus der physischen Praxis des Malens werde ein distanziertes körperloses Auge abstrahiert, das die Welt simultan, permanent und kontemplativ betrachtet: der "gaze" (oder frz. "regard"). [7] Zentralperspektive und Naturalismus bringen sowohl die Zeit der Malpraxis (die Pinselspur) als auch die Zeit der Betrachtungspraxis zum Verschwinden, was letztlich dazu führt, dass ein Bild nicht als Zeichen, sondern als bloße Wahrnehmung ("Perzept") aufgefasst wird. Wiederum fällt auf, dass Bryson seine Beispiele (chinesische Tuschpinselmalerei der Oberschicht - sogenannte Literatenmalerei - gegen Ölbilder von Raffael, Tizian und Vermeer) auf methodisch äußerst fragwürdige Weise wählt, indem er die völlig unterschiedlichen Techniken und sozialen Kontexte ausblendet. So gibt es etwa im Westen mit der Handzeichung sehr wohl eine starke Tradition, den Arbeitsvorgang transparent zu halten; wie umgekehrt die gegenüber der Literatenmalerei wesentlich realistischere chinesische Berufsmalerei bestrebt ist, diesen zu verschleiern). [8] Einige Seiten später bezieht sich Bryson genau auf diese westliche Tradition sichtbar gemachter Arbeitspraxis, wenn er eine Passage der Brüder Goncourt zur Röteltechnik Fragonards als ein vorbildliches Stück Produktionsästhetik gegen die Perzeptionstheorie zitiert (S. 161), [9] sodass völlig unklar wird, ob "gaze" und "glance" nun von den jeweiligen Bildern oder deren Betrachtern abhängen. Zu Beginn des Kapitels vertritt Bryson ersteres, am Ende letzteres. Es dürfte letztlich auf diese Inkonsistenz zurückzuführen sein, dass sich Brysons Begriffspaar in der Kunstwissenschaft nicht recht durchsetzen konnte.
Im letzten Kapitel ("Bild, Diskurs, Macht") untersucht Bryson die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, zwischen dem Zeichen und der "sozialen Formation" (S. 163). Zentrales Anliegen ist ihm dabei, sich von den mechanistischen Vorstellungen marxistischer Prägung, wie jener des sowjetischen Linguisten Nikolaj Jakowlewitsch Marr von 1926, abzugrenzen. [10] Warum Bryson hier den Ergeiz entwickelt, eine 1926 publizierte Theorie zu entkräften, begründet er mit ihrer "verblüffenden Ähnlichkeit" mit der französischen Semiotik der 60er und 70er Jahre (vor allem Roland Barthes) (S. 171). Für Marr gehörte das Zeichen zum Überbau, der von der materiellen Basis geprägt wird, wobei er übersieht, dass das Zeichen eine eigene Materialität besitzt. Ähnlich wie bei Saussure gibt es bei Marr keinen Diskurs, kein sich-Beziehen der Zeichen auf andere Zeichen. Brysons Gegenkonzept lautet: Analyse der Arbeit der sozialen Formation und der Arbeit der signifizierenden Praxis sowie von deren Interaktion. Kunst ist kein bloßer Stempelabdruck der sozialen Verhältnisse, sondern besitzt selbst einen immanent sozialen Charakter. Sie wählt auch nicht bloß aus einem fixen Reservoir von Zeichen aus, wie Barthes meint, sondern transformiert diese durch Arbeit. Manets "Olympia" z. B. beziehe seine Innovationskraft aus der erstmaligen Verknüpfung des Diskurses der Frau als Odaliske und der Frau als Prostituierte - und dies wäre nicht als "Duplikat eines vorherigen Ereignisses an der sozialen Basis,... noch als das freie Spiel der Signifikanten,... sondern als signifizierende Arbeit" zu betrachten (S. 179).
In einem Epilog ("Der unsichtbare Körper", S. 197-205") fragt sich Bryson, warum in der westlichen Malerei, also der Malerei des "gaze", der nackte Körper und die Sexualität eine so herausragende Rolle einnehmen. Seine These, dass der Akt in der Malerei der Verschleierung des arbeitenden Körpers dient, um durch Entfesselung des "skopischen Triebes" die "umfassende Homogenität des gaze zu untermauern" (S. 203), riecht etwas sehr nach puritanischer Verschwörungstheorie und jenem machiavellistischen Täuschungsmanöver, gegen das er in der Mitte des Buches angeschrieben hatte. Vielleicht entsprang dieser Epilog aber auch nur dem Wunsch, dem Werk eine Foucaultschen, den Macht- mit dem Sexualitätsdiskurs verbindenden Abschluss zu geben.
Es würde hier zu weit führen, allen Spuren nachzugehen, die Brysons Buch in der Kunstwissenschaft der letzten 20 Jahre hinterlassen hat. Auch wenn heute viele argumentative Seitenarme abgestorben sind oder schon bei Erscheinen der Originalausgabe allzu abseits geführt haben mögen, bleibt zumindest ein Verdienst unbestritten: der leidigen Perzeptionstheorie à la Gombrich ein für alle mal den Boden unter den Füßen weggezogen zu haben. Damit konnte z.B. die bereits totgelaufene Raumdiskussion in der Malerei wiederbelebt, die Raumdarstellung nicht immer nur unter dem Paradigma der Realitätsabbildung, sondern auch der Produktion von Bedeutung betrachtet werden. [11] Dass sich das Begriffspaar "gaze" und "glance" nicht etablieren konnte, liegt neben ihrer etwas verworrenen Anwendung durch Bryson selbst auch an ihrer extremen Kommentarbedürftigkeit. Letztlich ist die Zeit für reduktionistische Grundbegriffe, die die Last ganzer Kulturen zu tragen haben, schon vor längerem abgelaufen.
Ein Wort zur Übersetzung: Heinz Jathos Eindeutschung neigt leider dazu, Brysons komplexe, manchmal etwas mäandernde und zu Wiederholungen neigende Argumentation unnötig zu verdunkeln. Eine gesucht umständliche Ausdrucksweise, holprige Schachtelsätze und ein Faible für Fremdwörter, das nicht selten aus purer Übersetzungsverweigerung besteht - "to apprehend" wird z.B. originellerweise mit "apprehendieren" übersetzt (S. 153) -, machen aus dem Buch leider eine ziemlich mühselige Lektüre. Ob dies aus Unvermögen oder der hierzulande immer noch ziemlich verbreiteten Verwechslung von Wissenschaftlichkeit mit Unverständlichkeit liegt, mag dahingestellt sein. Wirklich schön übersetzt sind hingegen die jeweiligen Kapitel-Schlusssätze; Brysons Hang, hier einen poetischen Ton ähnlich der sonst so geschmähten Franzosen anzuschlagen (vor allem Roland Barthes, mit dem Bryson eine Art Hassliebe verbindet), [12] dürfte Jatho inspiriert haben. Der Schlussatz des Epilogs lautet z. B.: "Der Körper kann von seinen eigenen Darstellungen verdunkelt sein; er kann wie ein Gott in der Fülle seiner Attribute verschwinden; aber die Richtung, in der die Bilder fließen, führt von seiner unsichtbaren Muskulatur her nach außen, und nicht von seinem gierigen gaze her nach innen." (S. 205) Das ist poststrukturalistische Poesie pur!
Bryson hätte aber auf jeden Fall Herausgeber verdient, die diesem Begriff auch gerecht werden. So hat man nicht das Gefühl, dass hier ein/e Lektor/in am Werke war. Auf jeder zweiten Seite findet sich ein schwerer, sinnentstellender Tippfehler, und der Anmerkungsapparat lässt jede redaktionelle Logik vermissen. Warum von manchen fremdsprachigen Titeln die deutsche Übersetzung, von anderen, wo es ebenfalls Übersetzungen gäbe, nur das Original zitiert wird, bleibt schleierhaft. Manche Titel von Foucault werden auf Englisch, andere auf Französisch, wieder andere auf Deutsch zitiert - gerade wie es den Herausgebern einfällt. Besonders absurd wird es, wenn ursprünglich auf Deutsch erschienene Bücher in der englischen Fassung zitiert werden, wie etwa das Tizian-Buch von Hans Tietze (S. 218, Anm. 11).
Fazit: ein Buch, das man aus vielen Gründen nicht übermäßig gerne liest, aber wegen einiger grundlegender Argumentationslinien - vor allem der Widerlegung des perzeptionalistischen Kunstbegriffs - doch einmal gelesen haben sollte.
Anmerkungen:
[1] Norman Bryson, Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983, S. xi
[2] Ernst H. Gombrich, Art and Illusion: A study in the psychology of pictorial representation, New York 1960; dt. Kunst und Illusion, Stuttgart-Zürich 1986
[3] Als Beleg für die Langlebigkeit der Ideologie von der "universalen Seherfahrung" zitiert Bryson eine Passage aus Pierre Francastel, La figure et le lieu, Paris 1967, S. 234f: "So wie dieser großartige sabreur [in Masaccios ,Zinsgroschen'] herausfordernd und mit straffen Waden am Rand des Raums und des Freskos steht, hat er nichts mehr mit den Figuren der gotischen Kathedralen zu tun: er stammt aus der universalen visuellen Erfahrung... Von nun an wird der Mensch nicht mehr mit Handlungen und Erzählungen, die ihn in einer Geschichte verorten, definiert sein, sondern durch eine unmittelbar physische, sinnliche und präsenzschaffende Erfassung. Das Ziel der Darstellung wird die Erscheinung sein, nicht mehr die Bedeutung."
[4] Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 52 (1. Aufl. 1913)
[5] Gombrich (vgl. Anm. 2), S. 424
[6] Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, 18. Aufl. Basel 1991 (1. Aufl. 1915). Auffällig ist die Parallelität der Neigung sowohl der älteren formalistischen Stiltheoretiker (neben Wölfflin vor allem Alois Riegl und Wilhelm Worringer) als auch der neueren semiotischen Kunstwissenschafter zu dualistischen Begriffspaaren.
[7] Mit der gleichlautenden Lacanschen Terminologie haben diese Begriffe nichts zu tun, wie Mieke Bal, Hovering betweeen Thing and Event: Encounters with Lili Dujourie, London-Brüssel-München 1998, S. 39ff, in ihrer Diskusssion von Brysons Begriffspaar feststellt. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe (S. 12f) betont Bryson, dass er in seinem Buch aufgrund der Frontstellung zur psychologistischen Perzeptionstheorie Gombrichs von einem tiefenlosen Subjekt ausgegangen und die psychoanalytische Theorie bewusst ausgeklammert habe, was er aber rückblickend als Mangel empfinde. - Sukzessives und simultanes Sehen wurden bereits analysiert von Dagobert Frey, Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung, Augsburg 1929. Frey stellt der sukzessiven, weil deutlich an der Struktur der Sprache orientierten Darstellungsform der mittelalterlichen Kunst das Simultaneitätsideal der Renaissance gegenüber. Leonardo gibt z. B. der Malerei gegenüber der Dichtung den Vorzug, weil allein sie das Schöne simultan zeigen könne, während die Dichtkunst immer nur Teile des Schönen aneinanderreihe (vgl. S. 54). Brysons linguistisch orientierter Kunstbegriff kehrt Leonardos Vorliebe sozusagen um.
[8] Vgl. Sabine Hesemann, China, in: Gabriele Fahr-Becker (Hg.), Ostasiatische Kunst, Bd. 1, Köln 1998, S. 159f
[9] Vgl. Edmond und Jules de Goncourt, L'art du dix-huitième siècle, Bd. III, Paris 1906, S. 261
[10] Nikolaj Jakowlewitsch Marr, Through the Stages of Japhetic Theory, 1926
[11] Vgl. Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996
[12] "Nicht nur hier befinde ich mich mit Barthes im Widerspruch. Es muß aber noch etwas gesagt werden. Über der Arbeit am Abschluß des Manuskriptes erreichte mich die Nachricht von Barthes' Tod. Ich bin mit Barthes nie zusammengetroffen; aber ich empfinde seinen Tod wie den eines guten Freundes. Ich habe keine andere kritische Prosa mit einem solchen Vergnügen gelesen; man wird seine Stimme sehr vermissen." (S. 213, Anm. 28)
Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink Verlag 2001
ISBN-10: 3-7705-3369-0, 228 S
Empfohlene Zitation:
Anselm Wagner: [Rezension zu:] Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks (= Bild und Text), München 2001. In: ArtHist.net, 07.05.2003. Letzter Zugriff 23.11.2024. <https://arthist.net/reviews/228>.
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