Eine brennende Schreibmaschine der Marke Underwood (ca.1929) steht mitten im Raum. Flammen schlagen aus der Schreibmaschinenrolle an der Stelle, an der eigentlich das Papier eingespannt wird. Das geschriebene Wort erscheint als mächtiges und gefährliches Medium. In dieser Installation von Leopold Maler sind die Flammen nicht nur eine Metapher für das Medium der Kritik, sondern auch eine Hommage an den Chefredakteur der Lokalzeitung „El Día“ in La Plata, der 1974 ermordet wurde. Die Zeit der 1960er und 70er waren in Argentinien von extremer Gewalt und Unsicherheit geprägt, von 1976 bis 1983 herrschte die Militärdiktatur. Die Ausstellung „Systeme, Aktionen, Prozesse. 1965-1975“ [1] spannt ihren zeitlichen Rahmen genau bis zum Machtwechsel. Die Einbettung der Konzeptkunst in diese Geschichte ist eines der zentralen Anliegen der Ausstellung.
Über hundert Kunstwerke aus den 1960er und 1970er Jahren hat Rodrigo Alonso in vier Sälen der Fondacion Proa in Buenos Aires versammelt, die sich zum einen auf die Epoche als eine Zeit des revolutionären Aufbruchs beziehen, und zum anderen die vielfältigen künstlerischen Entwicklungen in der Dämmerung der Konzeptkunst würdigen.
Neben Klassikern vor allem aus den USA, wie Dan Graham, Douglas Huebler, Martha Rosler, Robert Smithon, aber auch aus Europa, wie Joseph Beuys, Vito Acconci, Marcel Broodthers oder Hans-Peter Feldmann, stehen Schlüsselwerke der lateinamerikanischen Avantgarde. Vertreten sind u.a. Juan Carlos Romero, Margarita Paksa, David Lamelas, Edgardo Vito und Alberto Greco. Unterschiedliche thematische Achsen durchziehen die Ausstellung: Der Körper, die Stimme und das Politische, die Verbindungen von Kunst und Leben, der Gegensatz von Natur und Institution, die Auseinandersetzung mit den Paradigmen der Moderne und mit ihren Medien der Skulptur und Malerei, sowie die Untersuchung der Potentiale der neuen Medien, wie Computer, Fernsehen, Video und Radio.
Im ersten Raum der Ausstellung finden sich neben Arbeiten von On Kawara und Gordon Matta-Clark, ein Video von John Baldessari, in dem der Künstler in einem Loop folgenden Satz „I am making art“ (1971) wiederholt. Dies ist der einzige Sound in der Ausstellung, der ohne Kopfhörer zu vernehmen ist.
In dem Zeitraum, den die Ausstellung umschreibt, begannen Künstler auf allen Kontinenten mit unterschiedlichen Systemen in ihren Werken zu experimentieren [2]. On Karawas struktureller Ansatz steht dem von Rául Lozza (Obra No 442, 1961) gegenüber, der durch mathematische Systeme im Zusammenspiel mit Linien und Farben seine Bilder produzierte. Statt dem individuellen Ausdruck des Künstlers werden die Kompositionen durch mathematische Regeln konstruiert. Seit den 1940er Jahren ist Lozza der führende Kopf der von ihm gegründeten Künstlerbewegung ‚Perceptismo’, einem Vorläufer der ‚minimal art’. Ihr nahe stehend sind die Arbeiten von Alejandro Puente (Cubo, Modell, 1967) und Margarita Paksa (Identidad de dos situaciones, 1967). Beide Werke sind aus dem Jahr 1967 und bestehen aus mehreren Kuben, die sich mit dem Verhältnis von Licht, Form und Farbe auseinandersetzen.
Dieser erste Raum, gelesen als eine Einführung in das Kommende, beherbergt ebenfalls Werke von Alberto Grecco (Vivo dito en Piedralaves, Fotografien, 1963), der eine Entgrenzung der ästhetischen Praxis vom eigenen Leben vorantrieb, wie Joseph Beuys, Ben Vautier, Yoko Ono. Die Fotografien von Greccos Spanienaufenthalt dokumentieren, wie das Dorf, in dem er einige Zeit lebte, sich in ein Kunstfeld verwandelte. Sie zeigen Grecco dabei, wie er Schilder über Personen mit der Aufschrift „Kunstwerke, signiert von Alberto Grecco“ oder einfach nur „Alberto Grecco“ hält.
Auf dem Boden im Nebenraum liegt ein zentrales Werk der Minimal Art von Carl Andre (Lead Aluminium Alloy Square, 1969). Seine aus Aluminium industriell produzierten, rechteckigen, grauen und schwarzen Aluminiumplatten bilden einen Kontrast zu den an der Decke hängenden seriellen Blättern von Álvaro Barrios (El Mar Caribe, 1971), die an die Wellen des Meeres erinnern. Tatsächlich steht jedes dieser Blätter für ein bestimmtes Quadrat des karibischen Meeres, dessen Koordinaten mit Bleistift am Rand jedes Blattes vermerkt sind.
Der Schwerpunkt dieses Raumes liegt auf den neuen Medien. Mit dem Aufkommen der Massenmedien wurden neue Modelle gesucht, die die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine, zwischen Medien und Realität untersuchen. Die ersten Computer in einem Kunstwerk wurden von Marta Minujin in ihrem Happening „Circuito Super-Heterodyne, 1967-2011“ genutzt. Dieses wird in einer kleinen Versuchsanordnung mit Tisch, Videokamera und Fernseher gezeigt. Die Aktion ‚Participación total o Happening para un jabalí difunto’, 1966 von Eduardo Costa, Raúl Escari und Roberto Jacoby ist nur durch einen Zeitungsartikel repräsentiert und steht für einen Wendepunkt von der Aktions- hin zu einer selbstreflexiven Medienkunst. Die Einladung und der Bericht über das Happening wurden an zahlreiche Medien geschickt und publiziert. Doch das Happening hatte niemals stattgefunden.
Von einer Wand entrollen sich die im Offset-Verfahren hergestellten Blätter von Jorge Carlos Romero (Unidad serial, 1971) bis auf den Boden und in den Raum hinein. Auf diesen seriellen Grafiken sind die Buchstaben B und R mit ineinander verschränkter Typografie wiederholt, bis sie an ein abstraktes Muster erinnern. Die sich wiederholenden schablonenartigen Buchstaben bilden ein Quadrat auf den Papierrollen, die Zahlen auf den freien Flächen zwischen und auf den Einheiten stammen aus der Welt der Computer, als man mit 0 und 1 die Sprache der Menschen zu ersetzen begann. Diese seriellen Systeme beschreibt der Künstler selbst als „hypermultiple Bilder, formales Ganzes, Information durch multiple Interaktion mit dem Publikum“. Er selbst hat seine grafischen Arbeiten vor allem auf der Straße und in offenen Werkstätten im Rahmen seines gewerkschaftlichen Engagements entwickelt.
Ein weiterer Raum ist Werken gewidmet, die sich verschiedenen Aspekten der Natur zuwenden, zum einen als Gegenmodell kapitalistischer Ordnung und zum anderen als Gegenpol zur industriellen Produktion der ‚minimal art’. Die Ausstellung zeigt an dieser Stelle unterschiedlichste Positionen, wie die Blumenarrangements von Jan Bas Ader (Untitled, Flower Work, 1974) oder Fotografien des Brunnens von Nicolás García Uriburu (Coloración de 14 Fuentes de Kassel, 1972), den er für die Dokumenta in Kassel 1972 grün gefärbt hatte. Zwei zentrale Installationen bestimmen darüber hinaus die Wahrnehmung des Raumes: Mel Bochners ‚Measurement Plant’ (1969-2011) bespielt die Rückwand und Victor Grippos Installation ‚Naturalizar al hombre, humanizar la naturaleza o Energía vegetal’ (1977) durchzieht die gesamte Länge des Raumes. Auf ihr sind Kartoffeln in einer Reihe angeordnet, die nur an einer Stelle von verschiedenen Reagenzgläsern mit bunten Flüssigkeiten unterbrochen wird. Die Kartoffel ist das zentrale Medium in den Arbeiten Grippos, da sie in Lateinamerika entdeckt wurde und heute die ganze Welt ernährt. Für ihn ist sie das Symbol der Energien Lateinamerikas geworden und zeugt von den Entwicklungsmöglichkeiten des Kontinents und dessen potentiellen Transformationen. In Mel Bochners Werk steht eine Palme vor einem an die Wand gezeichneten Maßsystem. Die rationale und systematische Welterklärung steht im Konflikt mit der Unberechenbarkeit der Natur. Der Bruch zwischen dem Leben und der Mediation darüber, zwischen Festschreiben und Lebendigkeit, zwischen System und Natur ist das zentrale Thema dieser Arbeit, ebenso wie in dem pflanzlichen Labyrinth (Laberinto vegetal, 1972) von Luis Benedit. Der Künstler hat eine Planze in ein Labyrinth eingesperrt – statt der Maus aus naturwissenschaftlichen Experimenten sucht nun die Pflanze den Weg ins Freie.
Die Verbindung von Politik und Kunst wird im letzten Raum der Ausstellung besondere Beachtung geschenkt. Politische Ideologien bilden hier einen Ausgangpunkt für die anti-institutionellen Tendenzen in der lateinamerikanischen Konzeptkunst. Die Fotografien von Dan Graham (Factory Buildings, Newark, New Jersey, 1966; Two Home Houses, Jersey City, New Jersey, 1966) thematisieren die Systematisierung und Zurichtung des Lebens in den USA durch standardisierte Formen der Häuser, Suppenküchen und Diners. Davor erzielt die Ganzkörperansicht einer Frau, welche durch eine kaputte Fensterscheibe aus dem Bild zu steigen scheint, eine intensive Wirkung. Es handelt sich um die Dokumentation der symbolträchtigen Aktion „Einsperren“ (Acción encierro, 1968) von Graciela Carnevale, als die Künstlerin zur Vernissage in ihre Galerie in Rosario einlud, die Tür verriegelte und dieserart Reaktionen der eingeschlossenen Gäste evozierte. Carnevale wurde vor allem als Mitglied des Kollektivs „Tucuman Arde“ und durch die Ausstellungen ihres Archivs auf der documenta 12 (Kassel, 2007) und in „Ex-Argentina“ (Köln, 2004) bekannt. Der Name der Künstlerin steht seither stellvertretend für eine künstlerische Praxis, in der Kunstaktion und politische Intervention eins geworden waren. “Tucuman arde” war als Ausstellung in Rosario und Buenos Aires zu einem Synonym geworden für eine künstlerische Praxis des Widerstandes gegen die Militärdiktatur, sowie als Experiment für neue Formen der visuellen Artikulation.
Noch weiter reduziert als das skulpturale Werk von Carl Andre erscheinen die Markierungen auf dem Boden dieses Raumes von Antonia Dias (Do It Yourself: Freedom Territory, 1968-2011). Mit schwarzem Klebeband hat der brasilianische Künstler ein Schachbrett angedeutet. Allerdings sind nur die Ecken der einzelnen Rechtecke durch Klebebandkreuze sichtbar, das Feld selbst entsteht erst in der Vorstellung des Betrachters. Auch ein Vergleich mit dem Video an der Wand von Bruce Nauman drängt sich auf (Walking in an Exaggerated manner Around the Perimeter of a Square, 1967-68), in dem der Künstler mit übertriebenem Hüftschwung ein mit Klebeband markiertes Quadrat abschreitet. Verlangt Antonia Dias noch vom Betrachter, sich ein Territorium der Freiheit selbst zu konstruieren, markiert diesen Raum Bruce Nauman durch das Abschreiten durch seinen eigenen Körper.
In den Werken des Argentiniers Horacio Zabala ist der politische Kontext sehr viel deutlicher ausgedrückt. Seit Anfang der 1970er Jahre beschäftigt sich der Künstler mit den politischen Machtverschiebungen und deren sozialen Auswirkungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, vor allem in Form von Wort- und Bildkollagen (Tensíon, fuerza, área, 1974; Obstrucciones, 1974). Weitaus poetischer scheinen dagegen seine im Stil der Readymades Duchamps aufgestellten drei Flaschen mit einer Rose (Forma y función, 1972) mit der Aufschrift „Wein, Wasser, Benzin“, welche stellvertretend gelesen werden können als Lust, Leben und Zerstörung. An der Wand gegenüber stehen die drei Coca Cola Flaschen des Brasilianers Cildo Meireles (Insertions into ideological circuits. Proyecto Coca Cola, 1970). Der Künstler sammelte leere Flaschen, beschriftete diese mit politischen Slogans und brachte sie erneut in Umlauf. Cildo Meireles öffnete durch die Colaflaschen einen Kreislauf der Gegeninformation und es gelang ihm, die herrschende Zensur zu unterlaufen.
Die Ausstellung kann dem Besucher als Orientierungskarte dienen, auf der er unterschiedliche Praxen findet, die alle dazu beigetragen haben, das Objekt in der Kunst durch ‚Systeme, Aktionen und Prozesse’ zu ersetzen. Damit führt die Ausstellung die Diskussion einer Konzeptkunst weiter, der sich zugleich auf die Minimal Art, Happenings und Aktionskunst bezieht. Der Begriff des Systems, den die Ausstellung als eine weitere zentrale Kategorie der Analyse gewählt hat, lässt sich dabei weiter ausdifferenzieren: a) als Kommunikation über das System der Kommunikation, b) als Produktion von Informationen, die in konkrete Situationen intervenieren und darüber hinaus, c) als Systeme, die erst durch die Partizipation des Betrachters zum Sprechen gebracht werden. Deutlich wird in dieser Ausstellung vor allem die Mannigfaltigkeit der Bezüge der Werke untereinander. Die Ausstellung wird damit dem Anspruch gerecht, künstlerische Praktiken nicht allein einer Kategorie unterzuordnen, sondern ihre Vielfältigkeit und verschiedenen Ausgangspunkte hervorzuheben. Dem Anspruch, eine dezentrale Perspektive auf die künstlerischen Praxen der Konzeptkunst zu entwickeln und deren Entstehungsgeschichte nicht mehr in Peripherie und Zentrum zu unterscheiden, ist die Ausstellung gerecht geworden. Damit stellt sie einen Kontrapunkt zu der Ausstellung „Global Conceptualism: Points of Origin 1950-1980“ im Queens Museum of Art, New York, 1999, von Jane Farver, Luis Camnitzer, Rachel Weiss dar [3], ebenso wie zu der Publikation von Luis Camnitzer „Didaktik der Freiheit. Konzeptuelle Kunst in Lateinamerika“ (Montevideo, 2008). Allen gemeinsam ist die Verortung des Konzeptualismus als künstlerische Strategie nicht allein in den industriellen Zentren Europas und den USA. Darüber hinaus jedoch kritisieren die Kuratoren der hier besprochenen Ausstellung den linguistischen und analytischen Ansatz von Joseph Kosuth oder der ‚Art and Language Group’ als tautologische und redundante Form und stellen ihm eine eigene, ideologische Version Lateinamerikas als eine politisierte ‘bessere’ Form der Konzeptkunst gegenüber.
Anmerkungen:
[1] Katalog: Sistemas, Acciones y Processos. 1965-1975. Fondación Proa, Buenos Aires, Argentinien, 2011, hrsg. von Rodrigo Alonso. 272 Seiten. ISDN 978-987-1164-13-4
[2] Burnham, Jack, System Aethetic. In: Artfrorum, Vol.7, Nr. 1, September 1968. Jorge Glusberg zeigte „Arte de sistemas“ 1971, Zentrum für Kunst und Kommunikation in Buenos Aires (CAyC).
[3] Ramírez, Mari Carmen, Tactics for Thriving on Adversity: Conceptualism in Latin America, 1960-1980. In: Ausst.Kat., Global Conceptualism. Points of Origins, 1950s-1980s. New York, Queens Museum of Art, 1999, S. 53-73
Empfohlene Zitation:
Maike Pricelius: [Rezension zu:] Sistemas, Acciones y Processos 1965-1975 (Buenos Aires) (Fondación Proa, Buenos Aires, 23.07.–25.09.2011). In: ArtHist.net, 03.11.2011. Letzter Zugriff 06.11.2024. <https://arthist.net/reviews/2188>.
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