REV-EX 25.06.2011

Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft (Trier)

Rheinisches Landesmuseum Trier; Stadtmuseum Simeonstift Trier, 10.04.–31.07.2011
Museum der Brotkultur Ulm, 11.09. - 06.11.2011

Rezensiert von Michael Scholz-Hänsel, Universität Leipzig
Redaktion: Rainer Donandt
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Seit 2002 und noch bis 2012 wird am Sonderforschungsbereich 600 der Universität Trier zu „Armut und Fremdheit“ geforscht. Sein derzeitiger Sprecher ist Herbert Uerlings, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Die Ergebnisse sind seit April 2011 auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Unter der Schirmherrschaft der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, eröffnete am 10. April eine beeindruckende Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum und im Stadtmuseum Simeonstift; gleichzeitig erschien ein 448 Seiten umfassender Begleitband unter dem Titel „Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft“, der die Armuts-Thematik von der Antike bis zur Gegenwart umfassend behandelt. [1]

Die Ausstellungen, obwohl beide aus dem Sonderforschungsbereich hervorgegangen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Im Landesmuseum geht es um „Armut in der Antike“ und der Besucher lernt anhand weniger Objekte, aber in einem medial äußerst vielfältig gestalteten Parcours, dass Armut und Alter damals kaum Unterstützung erfuhren, sogar Anlass zur Belustigung gaben. Aus dem von Stephan Seiler herausgegebenen Katalog erfährt man, dass bei der Erarbeitung des Stoffes neue Wege beschritten wurden. Die Inhalte resultierten aus einem zweisemestrigen Projektseminar an der Universität Trier und die belebende Ausstellungsarchitektur bildete das Ergebnis eines Wettbewerbes an der Fachhochschule.

Der Wandel im Umgang mit den wegen ihrer Armut Exkludierten kam erst mit dem Christentum und ist Thema des zweiten Ausstellungsortes im Stadtmuseum Simeonstift Trier, der erstaunlich viele Originale vorweisen kann, jedoch weniger durch die Inszenierung als vielmehr durch anspruchsvolle Inhalte und eine klare Struktur besticht. Unter fünf Perspektiven - Dokumentation, Appell, Ideal, Stigma und Reform - deren Exponate für den Besucher mit Hilfe von klar abgesetzten Farbkojen anschaulich gruppiert sind, werden Werke unterschiedlichster Medien präsentiert: Malerei, Plastik, Grafik, Fotografie, Film, Kunstgewerbe, Gebrauchskunst etc. Hier trifft man sowohl die allseits bekannten Klassiker der Armutsikonografie, von den Darstellungen der Sieben Werke der Barmherzigkeit von Pieter Bruegel d. J., über Picassos „Karges Mahl“ bis zu den Fotos der Farm Security Administration, als auch einige gewichtige Neuentdeckungen (z. B. eine zweiteilige Installation von Albrecht Wild, geb. 1959: ein sitzender Obdachloser mit LED-Display, auf dem Texte von Bettelschildern ablaufen), die alte Fragen beantworten und neue eröffnen. Dabei gelang den Kuratoren der Ausstellung, der Kunsthistorikerin Nina Trauth und dem Historiker Frank G. Hirschmann, Außerordentliches, und dies, obwohl sie vor der schwierigen Aufgabe standen, zwischen den zahlreichen Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches, den Leihgebern, dem städtischen Museum und seinem Stammpublikum vermitteln zu müssen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Erstens integrierten sie erfolgreich die lokale in eine globale Armutsgeschichte, etwa durch die Aufnahme der Trierer Steuerlisten, als Zeugnis für die Armutsverhältnisse in der Stadt, oder durch Exponate aus der Friedrich-Ebert-Stiftung, Museum Karl-Marx-Haus in Trier. Zweitens bringen sie immer wieder Werke unterschiedlicher Gattung und Geschichte durch überraschende Konfrontationen zum Sprechen, wenn etwa unter der Perspektive „Appell“ Ernst Barlachs Bronzefigur „Russische Bettlerin“ (1907) der grell violetten Kunststoff-Bettlerhand (2007) von Katharina Fritsch gegenübergestellt wird. Diese anregenden Interventionen moderner Kunst sind geradezu ein Charakteristikum der Schau und tragen erheblich dazu bei, unterschiedlichste Interessen und Bildungsniveaus anzusprechen.

Der Katalog ist weit mehr als ein Begleitband zur Ausstellung. Seine Basis sind die Ergebnisse des Sonderforschungsbereiches, in dem unser Fach allerdings nur eines unter mehreren ist, und so kann er in dieser kunsthistorisch ausgerichteten Rezension auch nur knapp besprochen werden. Ohne Zweifel handelt es sich um ein interdisziplinäres Standardwerk, denn mit mehr als 60 Beiträgen und rund 350 Farbabbildungen werden die Themen Geschichte und bildliche Repräsentation von Armut, Armen und Armenfürsorge in bisher nicht gekannter Ausführlichkeit diskutiert. Nach zwei einführenden Texten, die den Rahmen inhaltlich und zeitlich abstecken, folgen eine Bestimmung von Schlüsselbegriffen („Almosen“ bis „Zucht- und Arbeitshaus“), Überblicksessays und Fallstudien zu zentralen Aspekten sowie schließlich der eigentliche Katalogteil, der die Gliederung der Ausstellung wieder aufgreift.

Im ersten Beitrag nennt Uerlings das in den Sozialwissenschaften aber auch in der Kunstgeschichte [2] inzwischen vielfach benutzte Konzept Inklusion/Exklusion als gemeinsamen theoretischen Hintergrund der versammelten Studien. Danach liegt der entscheidende Akzent auf der zentralen Unterscheidung zwischen wirklich bedürftigen und unwürdigen Armen, wie sie sich im Rahmen einer notwendig gewordenen Fürsorgereform im Spätmittelalter und am Beginn der frühen Neuzeit etablierte. Es unterstreicht den kritischen Charakter des Begleitbandes, das an dieser Stelle gleich zu Beginn auch auf den Dauerkonflikt verwiesen wird, in dem diese Kategosierung zu dem seit der Aufklärung zunehmend anerkannten universellen Anspruch auf die Würde der Armen bis heute besteht. Im zweiten Beitrag liefert Lutz Raphael einen Periodisierungsvorschlag, der vier große Zeiträume benennt: 1. Antike bis 1500; 2. 1500 bis 1800; 3. 1800 bis 1945 und 4. Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Die These, dass sich gerade im Feld der Armut unsere Bildwelten und Deutungsmuster als ausgesprochen änderungsresistent erweisen, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass sich selbst in Europa zuerst nach 1918 und dann nach dem Mauerfall wieder Formen von Massenarmut bzw. „absoluter Armut“ (besonders in Osteuropa) bemerkbar machten.

In den Anmerkungen zu seinem Beitrag nennt Uerlings auch die wichtigsten Vorläufer der Trierer Schau, zu denen insbesondere die von Andreas Pitz für die EKD organisierte, ebenfalls noch laufende Wanderausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ gehört, die bei der Auswahl einiger Exponate Pate stand. Mehrere Objekte entstammen ferner der Sammlung des Museums der Brotkultur in Ulm, das die Trierer Ausstellung anschließend vom 11.9. bis 6.11.2011, allerdings in reduziertem Umfang, zeigen wird. Das Begleitprogramm enthält mehr als 80 Einzelveranstaltungen von über 20 Institutionen. Neben dem Begleitband kann man bei den Organisatoren auch umfangreiche didaktische Materialien u.a. für die Fächer Geschichte, Sozialkunde, Deutsch, Religion, Ethik und Kunst anfordern.

Natürlich fragt man sich, warum das Projekt gerade im beschaulichen Trier im Umfeld beliebter Weinhänge zur Realisation kam und erfährt, dass es um die Finanzlage der Stadt schlechter steht, als der erste Eindruck vermittelt. Vor allem aber das reiche römische Erbe (gerade erst in einer großen Ausstellung zu Konstantin dem Großen gefeiert) und die katholische Tradition machen den Ort zu einem idealen Schauplatz. Das beste Beispiel einer Darstellung der Werke der Barmherzigkeit findet sich denn auch nicht in der Ausstellung, sondern an der Kanzel (1570/72) des Hans Ruprecht Hoffmann im berühmten Trierer Dom. Das Bild der Armut, so zeigt sich, kann vielerorts und auch in Deutschland von überraschender Aktualität sein.

Kritiker des Projektes monieren vor allem seine Beschränkung auf Europa und den mediterranen Raum. In Anbetracht der allgegenwärtigen Präsenz globaler Armut im aktuellen Diskurs scheint mir in dieser Fokussierung auf einen scheinbar längst von der Armut befreiten geographischen Raum aber gerade eine Chance inhaltlicher Vertiefung zu liegen. Denn das hier besonders reiche historische und soziologische Material erlaubt differenzierte Analysen und weit reichende Erkenntnisse. Das Konzept verschiedener Perspektiven statt linearer Entwicklungsmodelle macht dabei die für Europa formulierten Thesen auf andere Regionen übertragbar.

Ausstellung und Begleitband verlangen eine unterschiedliche Bewertung. So darf nicht vergessen werden, dass der Sonderforschungsbereich bereits seit 2002 aktiv ist, während für die Vorbereitung der Ausstellungen sehr viel weniger Zeit und Mittel zur Verfügung standen. Der weit gesteckte Rahmen fordert natürlich geradezu die Kritik heraus, aber ich möchte nur einige Punkte ansprechen, die mir besonders in Erinnerung blieben.

Die unterschiedlichen Ansätze im Stadtmuseum und im Landesmuseum entstanden als Reaktion auf divergierende Exponate, doch zusammengenommen geben sie viele Anregungen, um über den angemessenen Umgang mit Armutsbildern nachzudenken. Ebenso gelungen ist meiner Ansicht nach nicht nur das Layout des Begleitbandes, sondern auch die Idee, nicht wie allzu oft üblich, Essays und Katalog zu trennen, sondern die Abbildungen der Exponate über das gesamte Buch zu verteilen und so beide Ebenen vielfach zu verzahnen. Auf diese Weise wird allerdings erfolgreich überdeckt, dass die kunsthistorischen Beiträge zu Werkbeispielen vor der Moderne wieder der üblichen Präferenz der deutschen Kunstgeschichte für die Italiener folgen, was den Blick gerade in diesem Fall unglücklich verengt. Auffällig ist zunächst, dass die schon von Elisabeth Sudeck zu Recht hervorgehobene Pionierleistung von Hieronymus Bosch für die Armenikonographie unerwähnt bleibt. [3] Gerade bei den „Schlüsselbegriffen“ vermisst man unter „Vagant, Vagabund“ seine berühmten Darstellungen des Themas. Aber auch wenn Uerlings schreibt, die sogenannte Hochkunst habe die entsprechenden Fragen erst um 1900 entdeckt (S. 15), so sei daran erinnert, dass im katholischen Spanien die Armendebatte des 17. Jahrhunderts als Folge einer permanenten Wirtschaftskrise einzigartige Werke von Jusepe de Ribera bis Diego Velázquez an den Höfen von Madrid und Neapel hervorbrachte. Ganz eindeutig hätte diese katholische Position eine größere Berücksichtigung verdient, als die eine Kopie nach einem Werk von Bartolomé Esteban Murillo in der Ausstellung. Auch scheint es, dass man Lehrern und Schülern eine größere Offenheit für schockierende Bilder zutraut, als dem allgemeinen Trierer Publikum. Denn in den „Didaktischen Materialien“ wird unter der Überschrift „Bild und Wort“ das Fotobuch von Boris Mikhailov „Case History“ (1998/99), mit Aufnahmen ukrainischer Obdachloser diskutiert, während sich davon in der Ausstellung keine Spur findet. In dieselbe Richtung gewisser Konzessionen an den Geschmack des Publikums weist die Auswahl von Picassos „kargem Mahl“ als Titelbild des Begleitbandes und Logo für die gesamte Schau. Inszeniert der Spanier hier nicht nur Armut wie vor ihm schon Van Gogh mit seinem berühmten Stiefelbild und müsste unsere Vorstellung vom armen Künstler der Jahrhundertwende nicht stärker als ein noch immer gültiges Stereotyp hinterfragt werden? Der Katalogtext zu der Radierung (S. 371) ist zwar ambivalent formuliert, aber führt in der Frage nicht wirklich weiter, was bei einem zentralen Logo durchaus wünschenswert gewesen wäre.

Im Stadtmuseum kommen fast 2000 Jahre Armutsdarstellungen auf zwei Stockwerken zur Diskussion. Da kann es bei fünf verschiedenen Perspektiven nicht ausbleiben, dass einzelne Werke sich auch gegenseitig behindern, statt einander zum Sprechen zu bringen. Ich empfand vor allem die medialen Mischungen mitunter zu heterogen und wünschte mir hin und wieder eine ganze Wand einheitlich, etwa nur mit Druckgrafiken oder Fotos. Auf diese Weise ließe sich auch besser herausarbeiten, worauf Tom Nichols [4] zu Recht aufmerksam gemacht hat: dass sich das moderne Bild der Armen erst am Beginn des 16. Jahrhunderts mit Hilfe des neuen Mediums der Druckgrafik herausbildete. Ähnliches ließe sich für den zweiten Einschnitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Kommunikationsmittel Fotografie und Film behaupten. [5]

Hat man sich erst einmal auf die Frage nach den Wechselbeziehungen von Armut und Kunst eingelassen, und dabei helfen einem die Trierer Ausstellungen und ihr Begleitband trotz der genannten Kritikpunkte immer wieder in stimulierender Weise, so merkt man bald, dass es hier keineswegs um ein Randthema geht. Beginnend bei Hieronymus Bosch, über Caravaggio und Rembrandt bis hin zu Gustave Courbet, Käthe Kollwitz und der Arte povera handelt es sich um Hauptmeister und zentrale Fragen der Kunstgeschichte, die zu ignorieren nur die sich leisten können, die Kunst immer schon als reine Kompensation oder Geldanlage verstanden.

Der Sonderforschungsbereich 600 hat seine Erkenntnisse zum Thema Armut mit Kunstwerken einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt. Dies sollte man als Chance für neue Projekte begreifen, statt unser Fach Kunstgeschichte, einer aktuellen Tendenz folgend, weiter auf fragwürdige Basiskompetenzen zu reduzieren. Immerhin war es die Kunsthistorikerin Elisabeth Sudeck, die von keinem geringeren als Aby Warburg auf die Spur gebracht, [6] schon 1931 eine noch immer lesbare Pionierarbeit zum Thema publizierte: „Bettlerdarstellungen vom Ende des XV. Jahrhunderts bis zu Rembrandt“. [7] Dass das Thema damit für die Kunstgeschichte nicht erledigt war, kann man jetzt in eindrucksvoller Weise bis 31. Juli noch in Trier und dann in Ulm erfahren.

Anmerkungen:

[1] Zum Ausstellungsteil im Rheinischen Landesmuseum ist eine weitere Publikation erschienen, die in Zusammenarbeit mit Studierenden der Universität Trier erarbeitet wurde. Vgl. Armut in der Antike. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. v. Stephan Seiler, Ausst. Kat. Rheinisches Landesmuseum Trier 2011. – Zentrale Ergebnisse der projektübergreifenden Forschungsarbeit wurden darüber hinaus in der Schriftenreihe „Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart“ im Peter Lang Verlag publiziert.
[2] Peter Weibel, Slavoj Žižek (Hg.): Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Graz 1996.
[3] Hannes Etzlstorfer (Hg.): Armut. Katalog zur 298. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 2002.
[4] Tom Nichols: The Art of Poverty. Irony and Ideal in Sixteenth-Century Beggar Imagery, Manchester und New York 2007.
[5] Franziska Eißner, Michael Scholz-Hänsel (Hg.): Armut in der Kunst der Moderne, Marburg 2011.
[6] Zur Aktualität Warburgs vgl. auch die laufenden und geplanten Ausstellungen in Hamburg: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel in Hamburg, Hamburger Kunsthalle, 27. März bis 26. Juni 2011; Atlas. How to Carry the World on One's Back? 1. Oktober 2011 bis 27. November 2012 in der Sammlung Falckenberg, Hamburg-Harburg.
[7] Elisabeth Sudeck: Bettlerdarstellungen vom Ende des XV. Jahrhunderts bis zu Rembrandt, Straßburg

Uerlings, Herbert; Trauth, Nina; Clemens, Lukas (Hrsg.): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft ; 10. April 2011 - 31. Juli 2011 ; eine Ausstellung des Sonderforschungsbereichs 600 "Fremdheit und Armut", Universität Trier in Kooperation mit dem Stadtmuseum Simeonstift Trier und dem Rheinischen Landesmuseum Trier ; Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt: Primus 2011
ISBN-13: 978-3-89678-859-7, 448 S.

Empfohlene Zitation:
Michael Scholz-Hänsel: [Rezension zu:] Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft (Trier) (Rheinisches Landesmuseum Trier; Stadtmuseum Simeonstift Trier, 10.04.–31.07.2011). In: ArtHist.net, 25.06.2011. Letzter Zugriff 17.11.2024. <https://arthist.net/reviews/1600>.

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