REV 03.11.2006

Georg Nees: Generative Computergraphik

Rezensiert von Christoph Klütsch, saignon
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Hans-Christian von Herrmann und Christoph Hoffmann haben die weltweit erste Promotion zum Thema Computergraphik von Georg Nees (1969) erneut herausgegeben. Die Schrift ist 2006 in der Reihe Kaleidoskopien erschienen und in der Form eines Reprints gedruckt. Vorausgestellt sind ein dreiseitiges Vorwort von Hans-Christian von Herrmann und eine 13-seitige neue Einführung von Georg Nees. Mit der Neuauflage dieser Dissertation wird eine wichtige Lücke in der Buchlandschaft geschlossen, denn seit langem war dieses Buch vergriffen.

In den letzten Jahren wurden die Anfänge der Computerkunst Gegenstand kunsthistorischer Forschung und zum Thema einer Reihe von Dissertationen. Die Kunsthalle Bremen setzt seit wenigen Jahren einen Akzent auf die ,Archäologie des Digitalen‘ und hat mit der Anschaffung der Sammlung Franke einen beeindruckenden Grundstock von frühen Computergraphiken erworben. Peter Weibel hat mit der ,Algorithmischen Revolution‘ 2004 eine Ausstellung realisiert, die sich dieses Phänomens annimmt. Außerdem wird das Thema zunehmend auf internationalen Konferenzen von jungen Wissenschaftlern aufgegriffen. Ein kleines, sehr beeindruckendes Symposium wurde vom 30.9.-2.10.2004 unter dem Titel „Stuttgart 1960. Computer in Theorie und Kunst“ auf der Akademie Schloss Solitude abgehalten (http://www.akademie-solitude.de/stuttgart1960/index.html). Das Symposium widmete sich den zahlreichen Aktivitäten der ,Stuttgarter Schule‘, die sich um Max Bense herausgebildet hatten. Die Herausgeber des hier besprochen Buches waren bei der Ausrichtung dieses Symposium beteiligt und haben nun ein wichtiges Dokument der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht.

Das Buch von Georg Nees ist demnach von großer wissenschaftlicher Aktualität und trifft auf eine wachsende Forschergemeinschaft. Doch auch für die Nicht-Spezialisten ist dieses Buch von hohem Interesse, weil es einen tiefen Einblick in die Grundzüge einer abstrakten generativen Ästhetik bietet. Georg Nees begann 1964 mit ersten Computergraphiken, die in der Zeitschrift „Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft“ erschienen. Bense war Mitherausgeber dieser Zeitschrift, so kam der Kontakt zustande. 1965 zeigte Bense die Graphiken von Nees in der Studiengalerie in Stuttgart. Diese Ausstellung war die erste Ausstellung mit Computergraphiken weltweit. Der kleine Text, den Bense zu diesem Anlass verfasst hatte und der gemeinsam mit den Graphiken in der Edition ,rot‘ Band 19 erschien, gilt heute als Manifest der Stuttgarter Computerkunst. Nees promovierte bald danach bei Bense über die generative Ästhetik.

Sein Buch verfolgt gleich mehrere Ziele: Es ist eine Einführung in die Programmiersprache ALGOL, die seinerzeit ein leuchtender Stern am Himmel der Computersprachen war. Des Weiteren ist es ein Versuch der Interpretation und der praktischen Umsetzung der Benseschen Ästhetik auf dem Computer - Nees greift Kerngedanken der ,Informationsästhetik‘ auf und prüft sie auf ihre Umsetzbarkeit. Schließlich entwickelt er einige ästhetische Grundprinzipien im Rahmen der Informationsästhetik. So finden sich bei Nees neben der Einführung in die Programmiersprache ALGOL und einer Übersicht der Benseschen ästhetischen Kategorien auch Überlegungen zu ,elementaren Irrwegen‘, ,Variationen‘, ,Texturen‘, ,lokaler Innovationsdichte‘, Gewirren und Geröllen‘, ,Anisotropie in Texturen‘, ,Geweben‘, ,Ornamenten‘ und ein alles zusammenfassendes Gradationsdiagramm. Der zentrale Gedanke dieser Kategorien ist die Konstruktion von makroästhetischen Phänomenen auf der Grundlage einer Verknüpfung mikroästhetischer Einzelelemente. Nach Bense findet eine Kunstkritik auf zwei Ebenen statt: der Mikro- und Makroästhetik. Wird die Bensesche deskriptive Ästhetik in eine generative transformiert, so müssen Regeln für die Verteilung der Elemente angegeben werden. Die Verteilung der Elemente, im Falle der Grafik auf einer Fläche, geschieht innerhalb des Programmablaufs durch verschiedene Pseudozufallsgeneratoren. Besonders hervorzuheben in der Neuausgabe des Werkes ist vor allem auch, dass viele Teilprogramme im Originalcode abgedruckt sind und 52 Grafiken die Resultate dieses ,ästhetischen Labors‘ illustrieren.

Einige Beispiele seien hier kurz erläutert. Da durch Pseudozufallszahlengeneratoren verteilte Elemente die Mikroästhetik bestimmen, kommt ihr eine ,Mit-Realität‘, d.h. die Makroästhetik zu, die sie überlagert. So entstehen durch die zufällige mikroästhetische Überlagerung von Kreiselementen makroästhetische ,Gewölle‘, entsprechend durch die Aneinanderreihung von Linien ,Irrwege‘, durch die systematische Anordnung geometrischer Elemente ,Ornamente‘, und durch die flächige Verteilung von Elementen ,Texturen‘. Derartige Begriffe sind unter dieser streng analytischen Perspektive bis heute als Kategorien für die Kunstgeschichte kaum etabliert. Richard Paul Lohse lieferte seit den 1940iger Jahren mit seinen Quadraten ein ähnlich formales Konstruktionsprinzip: die Elemente Quadrat und Farbe werden durch Variation auf ihre ästhetische Kraft hin untersucht. Die Prinzipien der konkreten Kunst waren Vorbild für die generative Ästhetik, letztere geht jedoch über eine Regelbeschreibung hinaus, indem sie die Anwendung von Regeln auf ein autonomes System - den Computer - überträgt. Eine formale Beschreibung, wie sie bei Nees zu finden ist, ist auch heute noch provozierend, da sie zentrale Kompositionselemente der konkreten Kunst in einer Art formalisiert, die eine Übertragung auf den Computer nicht nur theoretisch sondern auch praktisch vorschlägt. Nicht nur klassische Kunsthistoriker, sondern auch die neuerlich sich formierenden Bildwissenschaftler finden hier einen vergessenen Schatz für neue Theoriebildungen im Spannungsfeld zwischen Bild und Algorithmus.

Die ersten Versuche, für die der Computer zur Erzeugung „ästhetischer Objekte“ Verwendung fand, entstanden im Kontext der Stuttgarter Schule. Zeitgleich mit Georg Nees arbeitete Frieder Nake an der Produktion künstlerischer Computergraphiken, beide stellten im November 1965 zusammen in der Galerie Niedlich (Stuttgart) aus. Im Umkreis von Bense formierte sich seit Anfang der 1960er Jahre eine Gruppe von Promovenden, die die Informationsästhetik vertieften. Zu ihnen zählen u.a. Rul Gunzenhäuser, Helmar Frank und Sigfrid Maser. In Frankreich arbeitete Abraham Moles an einer Informationsästhetik anderer Gewichtung. Sein Augenmerk lag auf den Wahrnehmungsprozessen, wohingegen in Stuttgart formaler vorgegangen wurde.

Die Dissertationsschrift von Nees hilft beim Verständnis der Bedeutung der Stuttgarter Schule. Das Zusammentreffen von Informationsästhetik und Experimenten zur Erzeugung von Computergrafiken ist ein symbiotisches und doch zufälliges. Viele Schriften aus dem Kreis der Stuttgarter Schule sind nicht mehr zugänglich. Frieder Nakes Publikation von 1974 „Ästhetik als Informationsverarbeitung: Grundlagen und Anwendungen der Informatik im Bereich ästhetischer Produktion und Kritik“ stellt z.B. eine radikale Abrechnung mit der generativen Ästhetik dar und somit einen ersten Schlusspunkt. Leider ist auch dieses Buch vergriffen und es wäre zu wünschen, dass mehr Publikationen aus dem Umkreis der Bense-Schule dem Buchhandel wieder zugänglich gemacht würden. Für Kunsthistoriker und -theoretiker sowie für Kunstschaffende ist hier noch einiges zu entdecken.

Nees, Georg: Generative Computergraphik, Berlin: Vice Versa Verlag 2006
ISBN-13: 978-3-9810584-2-0, XIX, 298 S, EUR 20.00

Empfohlene Zitation:
Christoph Klütsch: [Rezension zu:] Nees, Georg: Generative Computergraphik, Berlin 2006. In: ArtHist.net, 03.11.2006. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/135>.

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