Ende März 2015 folgte eine Reihe von Museumsfachleuten und Kuratoren einer Einladung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben in seine neue Dependance, die ehemalige Synagoge im Stadtteil Kriegshaber. Das zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingerichtete und damit wohl älteste erhaltene jüdische Gotteshaus in Bayerisch-Schwaben teilte ein Schicksal, das viele Synagogen nach der Auslöschung ihrer Gemeinden während der NS-Zeit ereilt hatte. Von der Zerstörung verschont, hatten zunächst verschiedene Nutzungswechsel und dann der jahrzehntelange Leerstand für eine schleichende Verwahrlosung des seit 1955 in städtischem Besitz befindlichen Gebäudes gesorgt. Im Jahr 2010 konnte dann eine neue Nutzung als Zweigstelle des Augsburger Museums gefunden werden und sorgte für eine ‚Wiederbelebung‘, der eine behutsame Renovierung des Gebäudes und seiner in Teilen erhaltenen originalen Innenausstattung voranging. Diese Neubelebung wurde zum Anlass genommen, sich im Rahmen eines Symposions mit Konzepten zu befassen, die im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren für jene Gruppe von Synagogenbauten entwickelt und umgesetzt wurden, die die NS-Zeit überdauert hatten und heute von keiner jüdischen Gemeinde mehr genutzt werden können. Experten aus dem Bereich der jüdischen Museen und Gedenkstätten präsentierten und diskutierten diese Konzepte im Kontext der Frage nach dem Umgang mit dem jüdischen Erbe 70 Jahre nach Kriegsende.
Die Beiträge dieses Symposions sind nun in einem handlichen Band vom Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben herausgegeben worden. Das Hauptanliegen des Bandes schildert die Herausgeberin in der Einleitung: Anhand eines Überblicks über verschiedene Modelle des Umgangs mit ehemaligen erhaltenen Synagogen soll die „wandelnde Kraft von Erinnerung“ verdeutlicht und damit ein Beitrag geleistet werden, „die komplexe und wechselvolle Geschichte der Juden in Deutschland als einen Teil der eigenen Geschichte anzunehmen“ (17). Die Synagoge sei hierbei „gleich ob Gedenkstätte, Lernort oder Museum der jüdischen Kulturgeschichte“ stets „das Hauptexponat, nicht mehr, aber auch nicht weniger“ (16).
Schönhagen weist einleitend auf die enorme Vielfalt der vorgestellten Modelle von Gedenkstätten und Museen hin, die sich in „Größe, Trägerschaft, finanzieller Ausstattung und pädagogischem Konzept“ voneinander teilweise deutlich unterscheiden (16). „Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind sie aber alle ein akzeptierter Akteur in der kommunalen Kultur geworden und belegen den Bewusstseinswandel, der im Umgang mit den architektonischen Zeugnissen jüdischen Lebens in den vergangenen 30 Jahren stattgefunden hat. Eindrucksvoll verdeutlichen sie, welche gegenwartsbezogene Wahrheit verpflichteter Umgang mit den erhaltenen Synagogengebäuden bietet“ resümiert Schönhagen (16).
Ein zentraler Begriff, um den viele der im Folgenden vorgestellten Fallbeispiele kreisen, ist jener der „Leerstelle“. Felicitas Heiman-Jelinek schildert in ihrem einführenden Beitrag auf anschauliche Weise verschiedene „Metamorphosen“, die die Synagoge in der langen Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart funktional und in ihrer Bedeutung als „heiliger Ort“ durchgemacht hat (20). Jene grundsätzliche Problematik des Umgangs mit der Leerstelle verdeutlicht sie anhand zweier Beispiele, die als Gedenkorte unterschiedlich auf die vielerorts für ehemalige Synagogen zutreffenden Folge von oft absurd anmutenden Transformationen reagieren: Die Synagoge von Ichenhausen, 1731 errichtet und nach 1938 geschändet, wurde zum Lager, dann ab 1958 zum Feuerwehrhaus umgenutzt. Der damit verbundene radikale Umbau wurde ab 1985 rückgängig gemacht, der Synagogenraum ohne Spuren dieser Geschichte rekonstruiert und damit im Sinne einer Geschichtsglättung „die eigene 45-jährige Bewusstlosigkeit aus dem Stadtbild gelöscht“(26). Als ein entgegengesetztes Beispiel für eine im wahrsten Sinne des Wortes ‚transparente‘ Aufarbeitung und Sichtbarmachung einer solchen Geschichte verweist sie auf die Präsentation der ehemaligen Synagoge im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien. So wendet sie sich gegen die Rekonstruktion als eine Form der Geschichtsverschleierung. „Wie auch immer man sich diesem Durchdenken nähert – die Metamorphose von der Synagoge über die Leerstelle zum Gedenkort sollte nachvollziehbar sein“(28).
Einer Reihe weiterer Beispiele wird in den folgenden Hauptteilen des Bandes eingehendere Aufmerksamkeit zuteil. Drei übergeordnete Themenkomplexe bilden dabei ein inhaltliches und formales Gerüst für die Vorstellung verschiedener Herangehensweisen und Voraussetzungen: Synagogen werden in ihrer Bedeutung als 1) Gedenkstätten, 2) als authentische Orte für museale Nutzung und 3) als Standorte von Forschungseinrichtungen genauer unter die Lupe genommen.
Den Gedanken der Konservierung von Zeit- und Nutzungsschichten als Ansatz für die Sanierung und pädagogische Aufarbeitung als „Gedenk- und Lernort“ greifen die ersten drei Beiträge über die Synagogengedenkstätte Baisingen (Karlheinz Geppert), die Synagoge Memmelsdorf (Hansfried Nickel) und die beiden sehr unterschiedlichen Sanierungsmodelle der Alten Synagoge und der Kleinen Synagoge in Erfurt (Ines Beese) auf. Folgte das in den 1990er Jahren beschlossene Sanierungskonzept für die Kleine Synagoge noch nach dem Muster Ichenhausen, wurde Mitte der 2000er Jahre bei dem über 900 Jahre alten Bauwerk der Alten Synagoge behutsamere Sanierungs- und Präsentationskonzept eines „steinernen Geschichtsbuchs“ umgesetzt, in dem jede Nutzungsphase und jeder Eingriff bis heute anschaulich nachvollziehbar ist (54).
Der Synagogenraum als authentisches Exponat und Station eines über mehrere Standorte verteilten Museumskonzepts steht bei den folgenden drei Beiträgen im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Fall der Synagoge in Schnaittach als ein Standort des Jüdisches Museums Franken beschreibt Daniela Eisenstein, wie sich hier verschiedenste Interessen und Erwartungshaltungen von Seiten der Betreiber und der Denkmalpflege zum heutigen Stand der musealen Präsentation verbanden. Der Frage nach der Authentizität und ihrer Inszenierung geht Fritz Backhaus in seinem Beitrag über das 1987 eröffnete Jüdische Museum Frankfurt nach. Die insgesamt vier Schauplätze jüdischer Geschichte, die das Museum betreut, spiegeln äußerst unterschiedliche Geschichtsorte wider. Umso mehr ist man sich hier bewusst, dass die Authentizität der wahrnehmbaren Spuren beim Besucher oftmals ganz unterschiedliche Vorstellungen und Emotionen evozieren können. Backhaus baut hier auf die Reflexionsfähigkeit des Betrachters und eine durchaus kritische Sichtbarmachung des inszenatorischen Aspekts bei der Vermittlung. Bleibt anzumerken, dass es sich im Frankfurter Fall um die ‚Leerstelle‘ des Standorts der 1938 zerstörten Synagoge handelt, weniger um einen noch existierenden ehemaligen Synagogenbau. Einen anderen Ansatz der Inszenierung des Ortes beschreibt Hanno Loewy bei der Vorstellung des Konzepts, das die Stadt und das Jüdische Museum Hohenems bei der ehemaligen Synagoge umgesetzt haben. Das unter Sichtbarmachung aller historischen Schichten rückgebaute Gebäude dient heute als ausschließlich säkular bespielter städtischer Veranstaltungsort nicht nur für Veranstaltungen des Museums, sondern u.a. auch für die städtische Musikschule. Das Museum sieht sich als „kritisches Heimatmuseum“ und fördert mit seinen Veranstaltungen in der ehemaligen Synagoge „die diskursive Vergegenwärtigung jüdischer Kultur und Geschichte“ und die Auseinandersetzung um Heimat, Migration und Identität im Ort (82).
Im dritten Block stellen Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten und Martina Edelmann vom Jüdischen Kulturmuseum Veitshöchheim Nutzungskonzepte vor, die den Synagogenraum zum Bestandteil einer Forschungseinrichtung werden lassen. Im Veitshöchsheimer „Genisaprojekt“ ist es eine zentrale Dokumentationsstelle, die sich der Aufarbeitung, Katalogisierung und musealen Archivierung der Genisafunde im fränkischen Raum widmet und am Museum beheimatet ist. Für die St. Pöltener Synagoge erwies sich die Ansiedlung des 1988 gegründeten Instituts für die jüdische Geschichte Österreichs im benachbarten ehemaligen Kantorhaus als eine nachhaltig erfolgreiche Entscheidung. Der Diskussion über den Umgang, der sich paradigmatisch an der 1938 geschändeten, aber nicht zerstörten Synagoge, abbildete, widmete das Institut ebenfalls 2015 eine eigene Tagung [1]. In beiden Fällen stellt die Synagoge einen wichtigen Bezugspunkt dar, der als Erinnerungsraum und Veranstaltungsraum gleichermaßen die Arbeit und Außenwirkung der Forschungseinrichtung bereichert aber auch herausfordert. Man vermisst als weiteres Fallbeispiel hier die Alte Synagoge Essen, die als „Haus jüdischer Kultur“, als Sitz des Kulturinstituts der Stadt Essen und der universitären Forschungseinrichtung des Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte heute gleich eine ganze Reihe von Funktionen beherbergt.
Souzana Hazan beleuchtet abschließend das für die Synagoge Kriegshaber entwickelte Konzept eines Veranstaltungsraumes, in dem sich viele der Anregungen aus den vorgestellten Modellen wiederfinden lassen. Nicht zuletzt bildet sich in der künftigen Aufbereitung und Nutzung des Raumes als Dokumentationsort, kultureller Veranstaltungsraum und akademischer Diskussionsraum ein gewisser Konsens ab, der die vorangegangenen Fallbeispiele eint.
Insgesamt ist der Herausgeberin eine vielfältige Zusammenstellung gelungen. Jeder Beitrag für sich bietet einen lohnenswerten Einblick in die Vielfalt der Konzepte für Synagogen als Gedenk- und Erinnerungsorte. Einziger Wehrmutstropfen mag vielleicht sein, dass es sich bei den Beispielen fast ausschließlich um solche aus dem süddeutschen Raum handelt. Hier hätte man sich auch weitere Beiträge, beispielsweise zur Moses Mendelssohn-Akademie in Halberstadt, der Museumssynagoge Gröbzig oder dem Jüdischen Museum Rendsburg gewünscht. Auch solche Ausnahmefälle, wie die Hornburger Synagoge, deren Inneneinrichtung das Herzstück der Jüdischen Abteilung des Braunschweigischen Landesmuseum bildet, hätten vielleicht den Blick auf die Synagoge als Ausstellungsexponat noch erweitern können.
Bei aller Vielfalt der vorgestellten Beispiele fällt auf, dass ausschließlich die Frage nach dem konzeptionellen Umgang mit ehemaligen Synagogenräumen und deren Aufarbeitung für eine orts-und gemeindegeschichtliche Gedenk- und Erinnerungskultur im Fokus steht. Weniger thematisiert wird dagegen die Synagoge selbst als Artefakt, als Zeugnis, Bedeutungsträger und Stellvertreter kunsthistorischer oder architekturhistorischer Entwicklungslinien. Auch die gestalterische Reaktion der Ausstellungsarchitektur auf das innenräumliche Präsentationskonzept oder Gestaltungsansätze für die Einbindung des Exponats in seine stadträumliche Umgebung werden weniger angesprochen. Hier verfolgt der Tagungsband einen anderen Ansatz und regt zum weiteren Diskurs an.
[1] „Wer kann den Judentempel brauchen?” Synagogen in Mitteleuropa nach 1945, hg. v. Institut für jüdische Geschichte Österreichs St. Pölten, Juden in Mitteleuropa, Ausgabe 2015; digital zugänglich unter http://www.injoest.ac.at/de/downloads/juden-in-mitteleuropa/juden-in-mitteleuropa.html
Schönhagen, Benigna (Hrsg.): Wiederhergestellte Synagogen. Raum - Geschichte - Wandel durch Erinnerung, Berlin: Hentrich & Hentrich 2016
ISBN-13: 978-3-9556514-1-1, 135 Seiten, Broschur : ca. EUR 14.90 (DE), ca. EUR 15.40 (AT)
Empfohlene Zitation:
Simon Paulus: [Rezension zu:] Schönhagen, Benigna (Hrsg.): Wiederhergestellte Synagogen. Raum - Geschichte - Wandel durch Erinnerung, Berlin 2016. In: ArtHist.net, 29.09.2016. Letzter Zugriff 23.12.2024. <https://arthist.net/reviews/13364>.
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