REV 25.04.2011

Vladimir Kapor: Local colour

Rezensiert von Matthias Krüger, LMU München
Redaktion: Rainer Donandt
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Dass Vladmir Kapors Studie über den Begriff „Lokalkolorit“ während eines zweijährigen Fellowships in Melbourne entstand, darf die Ironie der Geschichte für sich verbuchen, sprachen doch Reisende der australischen Metropole bereits im 19. Jahrhundert jegliches Lokalkolorit ab. So spottete etwa der kosmopolite Marquis de Beauvoir in seiner "Voyage autour du monde" von 1867 angesichts Melbournes mondänen Flairs, das Lokalkolorit Australiens bestehe wohl just darin, über keines zu verfügen.[1] Schließlich habe sich die Kolonie auf eine atemberaubende Weise den Großstädten Europas angeglichen: Wer abends auf einer der beiden Hauptstraßen Melbournes, der Collins Street oder der Bourke Street, flaniere, der müsse sich in Anbetracht ihrer breiten Anlage, des gepflasterten Trottoirs, der Gasbeleuchtung und der luxuriösen Auslage in den Boutiquen unwillkürlich an die Rue Vivienne oder Rue Richelieu in Paris erinnert fühlen.[2] Dass die Welt allmählich ihrer Lokalkolorits verlustig gehe, gehört heute zu den harten Topoi des Globalisierungsdiskurses,[3] dessen Genese sich dank Kapors Studie in die Mitte des 19. Jahrhundert datieren lässt. Bevor „Lokalkolorit“ indes zum Schlüsselbegriff dieser Debatte wurde, hatte das Wort bereits mehrer Metamorphosen durchgemacht.

Zwar handelt es sich bei Kapors Buch in erster Linie um eine literaturwissenschaftliche Studie, doch thematisiert es einen Farbbegriff (colour term), der auch für die kunstgeschichtliche Forschung von Relevanz sein könnte. Bereits im ersten Kapitel, in dem er den Ursprüngen des Wortes als Terminus technicus der Malerei nachspürt, betritt der Autor genuin kunstgeschichtliches Terrain (35-48). Geprägt worden war das Wort demnach von Roger de Piles, der in seinem "Dialogue sur les coloris" von 1699 die "couleur locale" als die einem Objekt von Natur aus eigene Farbe definierte[4] - im Deutschen sollte sich hierfür später die Übersetzung mit „Lokalfarbe“ etablieren. Kapor zeigt nun allerdings, wie unbeständig diese Bedeutung des Begriffs in der Folge war. Mitunter wurde mit ihr auch das genaue Gegenteil bezeichnet, nämlich jene Farbe, die ein bestimmter Gegenstand in einer bestimmten Entfernung aufgrund der Luftperspektive annimmt. Eine mögliche Erklärung für die Instabilität des Begriffs hätte der Verweis auf Newtons "Opticks" von 1704 geboten, mit der die Annahme, dass die Farbe eine den Gegenständen inhärente Qualität sei, ihre physikalische Widerlegung erfuhr.

Als weitaus erfolgreicher als der maltechnische Begriff sollte sich indes sein metaphorische Gebrauch erweisen, der sich Ende des 18. Jahrhundert einzubürgern begann (51-60), um bereits im frühen 19. Jahrhundert zunächst in der Literaturtheorie eine erste Hochkonjunktur zu erleben (81-122). In dieser übertragenen Bedeutung bezog sich die "couleur locale" auf die Einbettung etwa der Handlung eines Theaterstücks in die orts- und zeitspezifischen Umstände, in denen sie angesiedelt war: Ein Drama, das im Alten Rom spielte, sollte auch in allen seinen Einzelheiten römisch anmuten. Auch wenn eine solche Forderung der neoklassizistischen Literatur- und Kunsttheorie nicht unbekannt war, wo die "couleur localecouleur locale" in Begriffen wie "mœurs", "coutumes", "convenance" durchaus prominente Vorläufer besaß (61-72), wurde sie zunehmend von den Romantikern vereinnahmt, um sie gegen den Klassizismus zu wenden. Die "couleur locale", so forderte etwa Victor Hugo programmatisch im Vorwort seines Stückes "Cromwell", sollte nicht mehr nur schmückendes Beiwerk der Handlung darstellen, sondern vielmehr jedes Drama radikal durchdringen.[5] In der Folge wurde die "couleur locale" zur Losung erhoben, jenseits derer es „kein Heil“ mehr gab, wie es später durchaus selbstkritisch bei Prosper Mérimée heißen wird.[6]

Für Kapor hat die Bedeutung des Konzepts mit der Romantik seinen Zenit erreicht, was folgt, bezeichnet er als Niedergang (decline). Diese Wertung muss überraschen, kommt es doch in dieser Phase zu einer weiteren Bedeutungsmutation, die den Begriff erst aus den engen Banden der Kunst- und Literaturtheorie herauskatapultierte. Hatte er sich zuvor auf die künstlerische Evokation eines Ortes bezogen, wird "couleur locale" nun zur Bezeichnung des einem Ort innewohnenden Charakters. Von einer Kategorie der Dramentheorie wird aus Lokalkolorit eine touristische Erlebnisqualität.

Mit diesem "crossing over into non-fiction" (131) erfährt das Konzept indes entscheidende Veränderungen. Denn während die "couleur locale" vom Theaterbesucher lediglich passiv rezipiert werden konnte, wollte der Reisende des 19. Jahrhunderts das Lokalkolorit der aufgesuchten Orte aktiv konsumieren. Dieser begnügt sich nicht damit, die ihn unbekannten Landschaften, Architekturen, Trachten und Bräuche zu studieren, sondern verlangte danach, das fremde Lokalkolorit mit allen Sinnen zu erfahren: Der „Liebhaber des Lokalkolorits“ (amateur de "couleur locale")7 versuchte daher, des Lokalkolorits ganz handfest habhaft zu werden, ob im erworbenen Souvenir, im Verzehr regionaler Spezialitäten[8] oder auch – sofern männlichen Geschlechts – im meist erkauften Kontakt mit indigenen Frauen, in denen er nicht selten die Verkörperung der exotischen "couleur locale" erblickte.[9]

Noch in einer anderen Hinsicht unterschied sich das vor Ort erlebte Lokalkolorit von dem auf der Bühne evozierten: War nämlich dieses inszeniert, wurde von jenem Authentizität gefordert. Kapor entlarvt indes diese Forderung als illusorisch. Methodisch den "post colonial studies" verpflichtet, unterzieht er das Konzept der "couleur locale" einer grundlegenden Kritik (75-81). Zurecht erblickt er in der "couleur locale" eine auf Stereotypen beruhende Konstruktion von "otherness". Nicht in Betracht zieht der Autor dagegen, dass das Lokalkolorit darüber hinaus auch eine kompensatorische Funktion erfüllte. Die Mehrzahl der von ihm zitierten Stimmen zeugen nämlich davon, dass die "couleur locale" von den Reisenden des 19. Jahrhunderts nicht als etwas allerorts schlechthin Gegebenes, sondern als ein höchst gefährdetes Gut angesehen wurde. Gleich ob in den Reiseberichten über Spanien, den Orient, Tahiti oder auch Australien, überall schien das Lokalkolorit irreversibel im Schwinden begriffen.[10] Die Ursache dieses Rückgangs wurde in der fortschreitenden "civilisation" gesehen – einem Begriff, den Kapor als einen "period term" erkennt, mittels dessen Zeitgenossen den Prozess der Globalisierung beschrieben (140). Doch hätte man an dieser Stelle die Überlegungen zu der These zuspitzen können, dass die „Erfindung des Lokalkolorits“ (134) in der Globalisierung ihre notwendige Bedingung hatte.

Mit der zunehmenden Erschließung der Welt durch moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel, den internationalen Handel, die Kolonialisierung und den Tourismus wuchs auch die Furcht, dass diese Prozesse schließlich weltweit zu einer Einebnung jeglicher regionaler Unterschiede führen würden. Je größer diese Furcht wurde, desto stärker wurde auch das kompensatorische Bedürfnis nach Lokalkolorit. Diese Entwicklung spiegelte sich nicht nur in den von Kapor konsultierten Reiseberichten, sondern im selben Maße auch auf dem Feld der bildenden Künste. Kapor weist zwar darauf hin, dass der metaphorische Gebrauch des Begriffs – von ihm zutreffend als "truly interart term" charakterisiert – alsbald in die Kunsttheorie re-importiert wurde, in der fortan ursprüngliche und übertragene Bedeutung koexistierten (143-155). Doch ist damit die Bedeutung des Konzepts für die bildenden Künste allenfalls angedeutet. Die Suche nach Lokalkolorit wurde nämlich nicht nur zum Leitmotiv in der von Kapor konsultierten Reiseliteratur, sondern auch zum maßgeblichen Beweggrund der in dieser Zeit erstmals über den ganzen Erdkreis expandierenden Künstlerreisen.[11] Besondere Relevanz kommt dem Konzept auch in Hinsicht auf Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts zu, auf denen die Zurschaustellung der modernsten Errungenschaften der Technik eine merkwürdige Symbiose mit den Rekonstruktionen ganzer Dörfer verschiedenster Weltregionen einging.[12] Hier trafen Globalisierung und Lokalkolorit also unmittelbar aufeinander, und wohl nirgends trat der komplementäre Charakter der "couleur locale" so offen zutage wie bei diesem Zusammenstoß.

Bei seiner Recherche hat sich Vladimir Kapor größtenteils auf "Gallica"[13] und "google-books" gestützt (vgl. das Kapitel „Ce travail Quelque Peu Inhumain – The Building of a Corpus“, 17-24). Das Ergebnis demonstriert eindrucksvoll, welche Verheißung für die Zukunft von Begriffsgeschichten in diesen online-Archiven liegt. Die besondere Leistung Kapors darf darin gesehen werden, den Rohstoff, den ihm diese digitale Suche lieferte, umsichtig gewichtet und ausgewertet, sinnvoll gegliedert und in ein gut lesbares Buch über einen bislang „unter-theoretisierten Begriff“ (8-13) gegossen zu haben. Wer indes die Mühe scheut, über 231 Textseiten der Begriffsgeschichte der "couleur locale" auf allen ihren oft verschlungenen etymologischen Nebenpfaden nachzuspüren, dem sei stattdessen und gleichsam als "short-cut" Kapors brillanter Aufsatz im Frühjahresheft 2009 von "Word & Image" nahe gelegt.[14]

Vladimir Kapor ist mittlerweile Lecturer in French studies an der Universität Manchester. In puncto Lokalkolorit hat er damit seine Lage nicht verbessern können - galten doch im 19. Jahrhundert die Fabriken Manchesters und Birminghams, deren Waren die Welt überschwemmten, gern als Hauptverantwortliche jenes allerorts registrierten Rückgangs an Lokalkolorit. Dieser Sichtweise wurde auch vom eingangs zitierten Marquis de Beauvoir geteilt. Während er in Australien schon den gänzlichen Verlust an Lokalkolorit konstatierte, fand er schließlich in Java doch noch ein Land, in dem Lokalkolorit noch in Hülle und Fülle vorhanden schien: Hier schien das Wesen Asiens noch erhalten, dem andernorts bereits die „Dampfmaschinen Manchesters“ den Garaus gemacht hätten.[15]

Anmerkungen:

[1] „[...] il me semble, que la couleur locale de ces pays-ci consiste précisément à n’être pas couleur locale.“ Ludovic Marquis de Beauvoir: Voyage autour du monde. Australie; Java, Siam, Canton; Pekin, Yeddo, San Francisco, Paris 1868, S. 28 (Zitat nicht bei Kapor).
[2] Ebd.
[3] Vgl. etwa die Beobachtung des Marquis de Beauvoirs mit dem Untertitel aus der SZ vom August 2008: „Wo man auch hinreist: Die Einkaufsstraßen sehen alle gleich aus. Wo, bitte, gibt's noch was mit Lokalkolorit?“ Alex Bohn: Von der Kette lassen, in: Süddeutsche Zeitung („Leben“), 3. Seiten, Seite 1, URL: http://www.sueddeutsche.de/leben/globalisierung-von-der-kette-lassen-1.596075 (letzter Zugriff: 15. April 2011).
[4] „La Couleur Locale n’est autre chose que celle qui est naturelle à chaque objet [...]“; Roger de Piles: Dialogue sur les coloris, Paris 1699, S. 12, zit. nach Kapor, S. 36.
[5] „Non qu’il convienne de faire, comme on dit aujourd’hui de la couleur locale; c’est-à-dire d’ajouter après coup quelque touche criades ça et là sur un ensemble du reste parfaitement faux et conventionnel. Ce n’est point à la surface du drame que doit être la couleur locale, mais au fond, dans le cœur même de l’œuvre, d’où elle se répand au dehors d’elle-même [...]. Le drame doit être radicalement imprégné de cette couleur de temps, elle doit en quelque sorte y être dans l’air, de façon qu’on ne aperçoive qu’en y entrant et qu’en en sortant qu’on a changé de siècle et d’atmosphére.“ Victor Hugo im Vorwort zu Cromwell (Paris 1827), zit. nach Kapor, S. 102.
[6] „Point de salut sans la couleur locale.“ Prosper Mérimée im Vorwort zur zweiten Auflage von La Guzla (Paris 1840), zit. nach Kapor, S. 67.
[7] Ein Begriff der Zeit.
[8] Der Verzehr fremder Speisen wird insbesondere in den Reiseberichten Théophile Gautiers als regelrechte Einverleibung des Lokalkolorits beschrieben. Oft kommt die Kostprobe dabei einer Mutprobe gleich, die der Autor indes nicht immer besteht: „Les Arabes mangent les sauterelles: ils en font une sorte de conserve au vinaigre et à la graisse. Quelques personnes prétendent que ce n’est pas un mets à dédaigner. Nous avouons n’avoir pas poussé l’héroïsme de la couleur locale jusqu’à constater par nous-même la vérité de cette asertion.“ Théophile Gautier: Loin de Paris, Paris 1865, S. 66 (dies Zitat nicht bei Kapor, vgl. aber ebd. S. 135-136).
[9] Diese kolonialistische Attitüde wird besonders bei Gérard de Nerval greifbar, der einer von ihm erworbenen javanesischen Sklavin dieselbe „fascination de la couleur locale“ attestiert, wie sie von einem prachtvollen, im Käfig gehalten Vogel ausgehe. Gérard de Nerval: Voyage en Orient (Paris 1848), zit. mach Kapor, S. 138.
[10] Siehe z.B. Théophile Gautier: Voyage en Espagne, Paris 1945, Gérard Nerval: Voyage en Orient, Paris 1848; Pierre Loti: Le Mariage de Loti 1880, um drei von Kapor zitierte Werke zu nennen. Zu Austalien siehe De Beauvoir 1868 (wie Anm. 1). Die Liste ließe sich mittels "google-books" beliebig verlängern.
[11] Zu dieser Tendenz vgl. Christoph Otterbeck: Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Köln u.a. 2007, der allerdings die Suche nach Lokalkolorit nicht als Motivationsgrund der von ihm untersuchten Künstlerreisen anführt.
[12] Vgl. hierzu jüngst Beat Wyss: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010, der allerdings den Begriff des Lokalkolorits für seine Analyse nicht nutzbar macht.
[13] Digitalisierungsprojekt der Bibliothèque Nationale de France.
[14] Vladimir Kapor: Couleur locale. A Pictorial Term Gone Astray?, in: Word and Image 25 (2009), S. 22-32.
[15] „C’est de l’essence d’Asie au lieu de vapeur de Manchester.“ De Beauvoir 1868 (wie Anm. 1), S. 374 (Zitat nicht bei Kapor).

Kapor, Vladimir: Local colour. A travelling concept (= Romanticism and after in France; 13), Oxford [u.a.]: Lang: Peter Lang 2009
ISBN-13: 978-3-03911-415-3, 254 S

Empfohlene Zitation:
Matthias Krüger: [Rezension zu:] Kapor, Vladimir: Local colour. A travelling concept (= Romanticism and after in France; 13), Oxford [u.a.]: Lang 2009. In: ArtHist.net, 25.04.2011. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/1258>.

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