Es darf wohl als ein einmaliger Vorgang der Wissenschaftsgeschichte gewertet werden, wenn ein Kunsthistoriker, der sein Leben der Erforschung des „Nachlebens der Antike“ mit besonderem Augenmerk auf die Renaissance verschrieben hat, durch die Eigenwilligkeit seiner Forschungen zum Gegenstand seines eigenen Nachlebens wird, besonders wenn dieses Nachleben über die fachinterne Diskussion hinaus die Arbeiten einer ganzen Künstlergeneration prägt. Dass dieser Vorgang ausgerechnet dem Hamburger Privatgelehrten Aby Warburg (1866–1929) widerfuhr, ist nicht zufällig, hatte er doch zeit seines Lebens am eigenen Leib erfahren müssen und dürfen, was es bedeutet, wenn die Involvierung des Forschers in den Forschungsprozess überhand nimmt, die treibenden Probleme in Gestalt einer leichtfüßigen und doch entschlossenen Mänade das Kommando übernehmen und denjenigen, der sich ihnen forschend aussetzt, zeitweise in geistige Umnachtung hüllen.
Die Frage, ob Warburg das methodologische Instrumentarium für die Analyse seiner eigenen Wirkungsgeschichte geliefert habe, stellte den Ausgangspunkt eines denkwürdigen Symposions in Siegen dar, das begleitend zur Ausstellung „Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?“ zusammen vom Museum für Gegenwartskunst (Eva Schmidt, Ines Rüttinger) und dem Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen (Thomas Hensel) veranstaltet wurde (F.A.Z., 30.01.2013). Dabei wurde nicht länger gefragt, was Warburg zum Verständnis von Bildern beitragen, sondern umgekehrt, ob die wissenschaftliche und vor allem auch die künstlerische Rezeption Warburgs Aufschluss über sein Werk geben könne. Mit dem Ergebnis eines regelrechten Schismas in der Warburg-Lektüre. Darüberhinaus sahen sich die Teilnehmer mit dem von mehreren Seiten vorgetragenen Vorwurf einer Warburg-Mode ausgesetzt (Zeit, 10.01.2013), dem es etwas entgegenzuhalten galt.
Ludwig Seyfarth machte deutlich, dass das Gros der künstlerischen Rezeption Warburgs an dessen Projekt eines Bilder-Atlas mit dem programmatischen Namen „Mnemosyne“ (griechisch: Gedächtnis) anknüpfe, für das hier stellvertretend Gerhard Richters Atlas-Unternehmen genannt sei. Ein spätes unvollendetes Projekt Warburgs, das, posthum veröffentlicht, seinerseits Produkt wissenschaftlicher Rezeption ist und möglicherweise gerade deswegen jenes sonderbare Eigenleben entwickeln konnte, das Warburg in der Beschäftigung mit dem dynamisch wiederbelebten antiken Formenrepertoire so faszinierte.
Michael Diers identifizierte Ninfa, Pathos, Schlagbild, Schlangenritual und Atlas als zentrale Forschungsthemen Warburgs, für die sich jeweils zeitgenössische Kunstwerke finden ließen, wobei der Nachweis eines realen Auseinandersetzungsprozesses mit Warburg nicht für alle Werke erbracht werden konnte. Hier entzündete sich die teils heftig geführte Diskussion um die wahren Absichten Warburgs. Bevorzugte er als Collagist von flatternden Bildern auf schwarzen Tafeln die freie Assoziation beliebiger Formen und Inhalte oder siegte am Ende doch der gründliche Ikonologe jener zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften, die an quellenkundlicher Exaktheit und stilistischer Gestaltung einen Höchstgrad an wissenschaftlicher Dichte darstellen? Joseph Imorde beschrieb diesen Widersatz als „Pendelgang“ zwischen Emotio und Ratio, der sich in einem vergrößerten Maßstab auch in der zeitgenössischen Diskussion zwischen empfindsamer Einfühlung der Zeitenwende um 1900 und ersten Versuchen einer wissenschaftlichen Systematisierung der Kunstgeschichte zeigen lasse.
Ausgehend vom bislang wenig erforschten naturwissenschaftlichen Hintergrund Warburgs informierte Niklas Maak (in Zusammenarbeit mit der nicht anwesenden Julia Voss) über die teils fragwürdige, teils fruchtbare Wiederkehr Warburg’scher Ideen innerhalb der allgegenwärtigen Neurowissenschaften. Eine aktive und sehr reizvolle Erweiterung der Warburg-Rezeption auf das Gebiet der Musik versuchten Anna Ewald und Peter Matussek, indem sie anhand musikalischer Verarbeitungen des Orpheus-Mythos der Frage nachgingen, ob es analog zu den künstlerischen musikalische Pathosformeln gebe.
Wenn das Werk eines Gelehrten, durch das Prisma künstlerischer Verarbeitung gesehen, ein Schisma in den Lesarten hervorruft, wie es auf diesem Symposium geschah, so erscheint die Rede von einer Mode desselben unangebracht. Warburg ist längst aus der Mode gekommen, weil er ein Klassiker ist.
Franz Engel
Empfohlene Zitation:
Franz Engel: [Tagungsbericht zu:] Warburg redivivus - Liebe Bilder, was tun mit Aby Warburg? (Siegen, Museum für Gegenwartskunst, 22.–23.02.2013). In: ArtHist.net, 18.03.2013. Letzter Zugriff 03.12.2024. <https://arthist.net/reviews/4880>.
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