REV-CONF 16.02.2019

Strained Bodies. Physical Tension in Art and Science

München, Haus der Kunst / ERES Foundation, 05.–06.07.2018

Bericht von Katharina Thurmair, DFK Paris
Redaktion: Steffen Haug

[Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalter]

Die zweitägige internationale Tagung „Strained Bodies. Physical Tension in Art and Science“, organisiert von Wilma Scheschonk und Thomas Moser in der Münchner ERES-Stiftung, widmete sich der Frage nach Darstellungsformen und Reflexionen von Körperlichkeit in den künstlerischen Medien und Ausdrucksformen aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive. Das Tagungsprogramm folgte der seit dem letzten Drittel des 19. Jh. vorgenommenen Re-Evaluation des Körpers in der Kunst als einer Entwicklung, der die Berücksichtigung der Disziplinen der Physik, Physiologie und Psychophysiologie zugrunde liegt.

Malika Maskarinec stellte in ihrer Analyse von Adolph von Menzels Eisenwalzwerk die malerische Darstellung von physikalischen Prinzipien heraus. Über die Themen der Umwandlung, Auflösung und Neuzusammensetzung von Stoffen verfolgte sie die These der Analogie zwischen künstlerischer und industrieller Arbeit. Die im Gemälde dargestellten künstlerischen Werkzeuge und Materialien interpretierte sie als Zeichen eines handwerklichen und geistigen Transformationsprozesses, der mit der energetischen Verausgabung der Industriearbeiter in Relation gesetzt werden kann.

Laura Prins widmete sich der Frage nach dem Einfluss körperlich-nervlicher und psychischer Anspannung auf das Schaffen Vincent van Goghs. Bezugnehmend auf dessen briefliche Selbstzeugnisse sei die Malerei zugleich Symptom als auch Heilmittel dieser physisch wahrgenommenen Überreizung. Die anschließende Diskussion kreiste um die Frage, inwieweit van Gogh Narrative der Physiologie, die ebenso Forschungen zu Hysterie und Nervenkrankheit umfassen, bewusst zur Selbststilisierung heranzieht.

Paula Muhr untersuchte die psychomechanische Strategie Jean-Martin Charcots, mit Hilfe von Visualisierung von Bewegungsenergie durch den Dynamometer therapeutische Effekte bei der Behandlung von Lähmungserscheinungen zu erzielen. Die durch ein physisches Trauma entstandene Lähmung der Willenskraft bei eigentlicher körperlicher Funktionsfähigkeit wurde bei Charcot so gelöst. Muhr betonte dabei die Psychologisierung physischer Prozesse, die das Modell des menschlichen Körpers als einer eher reaktiven Maschine (wie bspw. bei Charles Féré) um zusätzliche Dimensionen erweitert.

Thomas Moser beleuchtete die Rezeption der Tanzvorführungen Loïe Fullers unter dem Aspekt der sichtbaren sowie nicht sichtbaren Körperlichkeit. Die Schleierbewegungen maskieren dabei tatsächliche anatomische Bewegungsmuster, die Rückschlüsse auf die physische Erzeugerin zuließen. Diesem Verschwinden des Eigentlichen zugunsten der autonom existierenden Idee im Sinne von Mallarmés Metapher einer ‚entkörperlichenden‘ Lesart, die in der Poetik des Symbolismus mit Strategien der Suggestion und semantischer Offenheit verbunden war, wurden Äußerungen von Julius Meier-Graefe bis hin zu Ann Cooper Albright gegenübergestellt, deren Re-Enactment die physische Kraft hinter dem Tanz betonten. Bei Meier-Graefe und Jean Lorrain waren es die wenig schmeichelhaften Kommentare zu Fullers Physiognomie und körperlicher Disposition, die in der Diskussion unter anderem als Bedrohung der männlichen künstlerischen Avantgarde des Montmartre gedeutet wurden.

Miriam Stanton ging dem Phänomen des ‚unsupported transit’ nach, welches den zu erforschenden Ausgangspunkt der Chronofotografien Eadweard Muybridges darstellt. In Anlehnung an Schriften John Tyndalls und James Bell Pettigrews, in denen die Gravitation und Massenträgheit als zu berücksichtigende Kräfte dargestellt werden, verdeutlichte sie, inwieweit naturwissenschaftliche Forschungsfragen ebenso künstlerische Bildproblematiken generieren. Die Levitation als autonomes, gleichsam statisches Element ohne Eingliederung in eine logische Bewegungsabfolge und außerhalb physikalischer Kräfte wird von Muybridge schließlich ästhetisch priorisiert und verwandelt den zeitlichen Aspekt in einen räumlich-plastischen.

Michael F. Zimmermann erörterte zunächst Charles Darwins Erklärung des Lachens und des Weinens als Figuren des Exzesses in Analogie zur der aus dem thermodynamischen Modell entwickelten Metapher psychischer Energien, die dem Organismus in höherem oder niederem Maß zur Verfügung stehen. Am Beispiel von Georges Seurats „Le Cirque” und „Le Chahut“ erläuterte er entsprechend die Wirkungsweise der psychomotorischen Induktion nach Charles Henry und Charles Féré. In den Gemälden wird, so Zimmerman, eine Anregung (Dynamogenie) psychischer Energien durch die aufsteigenden, dynamogenen Linien evoziert, ihre Abschwächung (Inhibition) dagegen durch die fallenden Linien – jeweils wie eingefroren im exzessivsten Moment der Bewegung und fast schon karikierend übersteigert. In Marcel Duchamps Bleistift-Studie „Encore à cet astre“ und im Gemälde „Jeune Homme triste dans un train“ werden die absteigenden Kräfte weiter zur Ironisierung des thermodynamischen Modells überspitzt, das nach Sigfried Giedion die Mechanisierung des Alltagslebens vorangetrieben hatte. Noch Francis Bacons Bildnisse von George Dyer sind dieser physikalistischen Vorstellung psychischer Energie verpflichtet, wobei Zimmermann auf die Interpretation von Deleuze hinwies. Sie visualisieren den Grundzustand des Lebendigen als permanente Verausgabung, die sich auch der malerischen Fixierung des lebendigen Gegenübers einprägen. Abschließend schlug Zimmermann vor, mit Giedion die zerstörerischen Impulse der thermodynamischen Reduktion der Emotionen auf Bioenergetik zu erkennen und sich von dieser Metapher einer bipolaren, psychischen Energetik zu befreien.

Flora Nieß beschäftigte sich mit den Versuchen Henry van de Veldes, unter anderem in dessen Kunsthistorischen Laienpredigten, eine Methode der Kunst und Kunsttheorie aufbauend auf dem Körper als ein von Bewegung bestimmtes System zu etablieren. Im Sinne einer Erneuerung und ‚Reinigung‘ der Kunst steht die Linie als entkörperlichte Kraft im Fokus, die dennoch suggestiv und dynamogen auf den Betrachter einwirkt.

Ole Fischer zeichnet in seinem Vortrag den Wandel der Konzeption des Nietzsche-Monuments unter dem Betreiben von Harry Graf Kessler in Weimar nach und zeigt dessen Interpretation nietzscheanischer Philosophie als künstlerische Prinzipien der Kraft und Klarheit. In einer Art Physiologisierung der Architektur sollten diese in einem bei Henry van de Velde in Auftrag gegebenen Tempel harmonisch vereint werden. Als charakteristisch für die Nietzsche-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht Fischer den Wunsch Kesslers, in der Form eines Stadions eine dynamische, performative Ebene anzuschließen, welche die kollektive physische und zugleich intellektuell-ästhetische Formung des Menschen ermöglicht.

Sarah Hegenbart verdeutlichte die kritische Perspektive Christoph Schlingensiefs auf postkoloniale Positionen in dessen Gegenüberstellung körperlicher Ausdrucksformen in der Theaterperformance „Via Intolleranza II“. Das westliche Bild eines sowohl ökonomisch als auch kulturell unterentwickelten Afrikas, in konventionell-medialer Bildproduktion auf das Thema Hunger reduziert, wird im Medium des tanzenden Körpers kritisch hinterfragt. Die physische Entkräftung durch Hunger wird dabei durch einen afrikanischen Tänzer konterkariert, der unter enormer körperlicher Anstrengung durch die Deflation der Lunge seine Bauchdecke nach innen wölbt.

Wilma Scheschonk sah den Boxkampf für die direkte Demokratie von Joseph Beuys im Rahmen der Documenta V nicht nur als politische Agitation, sondern als vielschichtigen ironischen Kommentar in Bezug auf Beuys‘ Selbststilisierung, auf die empirische Ästhetik der Zeit und das kunsthistorische Narrativ der der Physis entspringenden Schöpferkraft des Künstlers. Zugleich wird der körperliche Austausch von Fausthieben mit dem sprachlichen Austausch von These und Antithese im von Beuys zeitgleich eingerichteten „Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ parallelisiert, wodurch der Boxkampf im rhetorischen Begriff der enargeia - als Verlebendigung und Veranschaulichung von Worten - gefasst werden kann.

Anna Dezeuze nahm, ausgehend vom Konzept der „liquid modernity“ (Zygmunt Baumann), die Beziehung zwischen Körper und Arbeit in Mika Rottenbergs „Tropical Breeze“ in den Blick. Bezugnehmend auf die marxistische Lesart des Kapitals als ‚toter Arbeit‘, generiert durch den produzierten Überschuss aus tatsächlicher physischer Arbeit, wird hier das metabolische und thermodynamische Sekret in Form von Schweiß in einen Produktionsprozess überführt, an dessen Ende parfümierte Feuchttücher stehen. Zugleich lenkte Dezeuze den Blick auf die sich auflösende Definierbarkeit bzw. Unterscheidbarkeit von Arbeit und Freizeit in den durch Rottenberg gezeigten immer komplexeren Produktions- und Mobilitätszusammenhängen.

Jasmin Mersmann analysierte die paradoxen, zugleich affirmativen als auch kunstkritischen Ansätze im Schaffen von Nik Kosmas, im Speziellen seiner Beiträge zur 9. Berlin Biennale. In Form von Sport-Workshops versuchte der Künstler der seiner Auffassung nach aufgrund ökonomischer Interessen verloren gegangenen Wirkungsmacht der Kunst entgegenzutreten und einen tatsächlichen Eingriff in die Lebenswelt des Rezipienten über dessen Körper wieder zu ermöglichen. Zurückgreifend auf modernistische Ideen der kollektiven Optimierung von Körper und Geist durch physische Betätigung (so bei Ferdinand Hueppe, Hans Surén und Hannes Meyer) übernimmt sportliche Aktivität dabei die erziehende Funktion der Kunst. Demgegenüber positionierte Kosmas die auf die vom ‚Körper‘ gereinigten Formen der Abstraktion verweisenden Sportgerätschaften als gleichzeitig negierte Evokation einer Referenz auf dieses Narrativ der künstlerischen Moderne – eine Strategie, die von Mersmann im Hinblick auf das Konzept des „modernisme noir“ (Gerd Blum/Johan Frederik Hartle) interpretiert wurde.

Das Programm der Tagung machte eine Perspektive fruchtbar, die Einflüsse und Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaftlich-mechanistischen, psychophysiologischen und künstlerischen Diskursen in den Blick nimmt. Die Erweiterung des Sensoriums um die körperliche Erfahrung schien dabei in der Psychophysiologie des 19. Jahrhunderts zumindest einen durch naturwissenschaftliche und künstlerische Reflexion gut belegten und plausibel nachvollziehbaren Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der Umwandlung physischer Kräfte in psychische Energien zu besitzen, wobei der reduktionistische Charakter thermodynamischer Ausgangsmodelle in deren Projektion auf den menschlichen Körper zunehmend vielschichtiger hinterfragt wird. Das geisteswissenschaftliche Verständnis von Konzepten der neueren Kognitionswissenschaft, die des Öfteren in den Begriffen von embodiment und enactivism zur Sprache kamen, hätte darüber hinaus sicherlich über die Analogien zu historischen Positionen hinaus noch durch aktuelle Perspektiven naturwissenschaftlicher Ansätze bereichert werden können.

Empfohlene Zitation:
Katharina Thurmair: [Tagungsbericht zu:] Strained Bodies. Physical Tension in Art and Science (München, Haus der Kunst / ERES Foundation, 05.–06.07.2018). In: ArtHist.net, 16.02.2019. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/20184>.

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