22.03.2002

Re: Art History - education (Digitale Kunstgeschichte/Schule des Sehens)

Thomas Lackner

Antwort auf die Replik von Hubertus Kohle vom 20. Maerz 2002 [1]

Hubertus Kohles korrigierenden Anmerkungen zu meinem Aufsatz [2] über
aktuelle strategische Ansaetze im Bereich der kunstgeschichtlichen
Online-Wissensvermittlung kann prinzipiell zugestimmt werden: Tatsaechlich
bieten - rein technisch - in erster Linie moderierte und unmoderierte
Diskussionforen bzw. Chat- und Instant-Messaging-Systeme die Chancen zur
Realisierung von Lernformen, die in Bezugnahme auf die angesprochenen
Multikanal-Optionen der Online-Medien das Konzept der Selbstorganisation in
den Mittelpunkt der Überlegungen stellen. Daher sollen an dieser Stelle dem
Aufsatz einige ergenzende Saetze beiseite gestellt werden, die - ganz im
Sinne einer Wechselwirkung zwischen analogen und digitalen Medien - auf der
korrespondieren Website www.kunstgeschichte.de an entsprechender Stelle
synchronisiert werden:

1.: Die sicherlich zu plakative - und nach Sichtung des noch sehr jungen
Online-Prototypen zu revidierende - Charakterisierung der "Schule des
Sehens" im Sinne eines Top(Lehrer)-Down(Schueler)-Informationsflusses sollte
daher nicht zu eng ausgelegt werden. Sie basierte auf Erfahrungen im Bereich
industriell eingesetzter "Knowledge-Management"-Systeme, die den Aspekt der
Selbstorganisation - zum Teil bewusst - ausklammern. [...] In der Praxis
zeigt sich immer wieder, dass Wissensmanagement, obwohl der Begriff dies zu
suggerieren scheint, kaum etwas mit Bildung im emphatischen Sinne zu tun
hat. Selbstverstaendlich gelangen auch dort Multikanal-Systeme zum Einsatz -
der Zusammenhang ist jedoch mit den Ansaetzen der "Schule des Sehens" nicht
direkt vergleichbar. Eine Formulierung wie "Training on the job" wirkt hier
schon deshalb ein wenig deplaziert, weil es in der Kunstgeschichte keine
"Jobs" im Sinne konventioneller Berufstaetigkeiten und -biographien gibt.

2.: Dafuer jedoch interessante INHALTE, die - dies zeigte ja bereits das
"Funkkolleg Kunst" - in der Lage sind, die Grenzen des akademischen
Lernumfeldes Universitaet gewinnbringend "aufzuweichen". Die auf den
spezifischen Ansaetzen des Mandl-Lehrstuhls basierende bildungstheoretische
Fundierung der "Schule des Sehens" ist m.E. schon deshalb notwendig, weil
sich das Projekt bewusst nicht nur an Studierende, sondern im Sinne der
Erwachsenenbildung/Weiterbildung an jede(n)an kunstgeschichtlichem "Content"
Interessierte(n) wendet. Kunstgeschichte stellt sich in den Augen
nicht-akademischer Rezipienten in erster Linie als ein Aspekt des
"Freizeitbereichs" dar, im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen
Ausstellungen, Museen, mediale (Online-)Angebote, in den seltensten Faellen
jedoch kunsthistorische Institute oder vergleichbare Institutionalisierungen
der Kunstgeschichte. Ein solches Zielpublikum, das die Verfasser des
Projektantrags der "Schule" explizit erwaehnen, duerfte sich vermutlich mit
reinen "Top-Down"-Strukturen kaum zufrieden geben. Daher wird der von
Hubertus Kohle in Aussicht gestellte, bewusste Verzicht auf vorgefertigte
Lehrinhalte zugunsten einer aktiven Wissensproduktion auch vor einem
Hintergrund zur Notwendigkeit, der eine positive Profilierung des
oeffentlichen Bildes von Kunstgeschichte anstrebt.

3.: Ein Blick auf die aktuelle (21.3.2002) Online-Fassung der "Schule des
Sehens" [3] bestaetigt dies: Zweifellos handelt es sich noch um einen
Prototypen, der den Beginn der Entwicklung eines
kunstgeschichtlich-spezifischen eLearning-Systems markiert. Die oben
diskutierten Ansaetze sind jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich
erkennbar. An nahezu jedem Punkt der Kursverlaeufe wird dem "Lernenden" -
man muesste eher von "Teilnehmern im Prozess der Wissensproduktion" sprechen
- die Moeglichkeit zur Diskussion, Kontaktaufnahme, etc. geboten. Das zur
Verfuegung gestellte Material praesentiert sich eher als Ausgangsmaterial
denn als einzuuebender "Stoff", und die Moeglichkeit zur Personalisierung
von Kursinhalten ist ebenfalls angedacht.

4.: Zusammenfassend sollte daher noch einmal - unter den oben diskutierten
Vorzeichen - eine modifizierte Charakterisierung der in den Kritischen
Berichten vorgestellten Projekte unternommen werden.
Aus technologischer Sicht weisen die Projekte strukturelle Aehnlichkeiten
auf, auf die jedoch nicht naeher eingegegangen werden soll. Inhaltliche
Unterschiede lassen sich in den Zielsetzungen ausmachen:

- Prometheus (Diatheken-Verbundprojekt) [4]: Wie beschrieben, handelt es
sich bei "Prometheus" um einen innovativen Rahmen, der die
kunstgeschichtliche Routine der Bildauswahl und -praesentation auf ein
informationstechnisch zeitgemaesses Level hebt. Es ist auf das WWW als
Verbundnetz zwingend angewiesen und loest zunaechst - vereinfacht
ausgedrueckt - zentrale, klassische Probleme kunstgeschichtlichen Arbeitens
mit Bildmaterial. Auf der Grundlage der zu einem definierten Zeitpunkt
erstellten informationslogistischen Plattform "Prometheus" im Internet
lassen sich daraufhin - in einem zweiten Schritt - inhaltsbasierte
Applikationen aufsetzen, die u.a. Aspekte des eLearning umfassen koennen.

- Schule des Sehens (eLearning): Die "Schule" erprobt exemplarisch die
Leistungsfaehigkeit einer www-basierten Plattform zur eigenverantwortlichen,
individuellen Aneigunung kunsthistorischer Inhalte. Die zentralen Aufgaben,
die interaktive Optionen mit Rückkanal im Rahmen der Lernplattform einnehmen
werden, sind in dieser Form nicht selbstverstaendlich und bedingen die
Notwendigkeit einer spezifischen bildungstheoretischen Fundierung. Vor dem
Hintergrund der im Rahmen des "Funkkolleg Kunst" gesammelten Erfahrungen
bezieht die "Schule" ebenfalls Zielgruppen aus den Bereichen der
ausseruniversitaeren Weiter-/Erwachsenenbildung ein.

- system_kgs (Redaktionssystem, HU Berlin) [5]: Das am Kunstgeschichtlichen
Seminar der HU Berlin entwickelte Redaktionssystem widmet sich den
Fragestellungen des Erstellens www-bezogener kunstgeschichtlicher Inhalte in
den Kontexten Forschung, Lehre und Instituts-Praesentation. Eher in den
Bereichen DMS/WCMS (Dokumenten-Management, www-basiertes Content Management)
angesiedelt, ermoeglicht es Dozierenden und Studierenden der
Kunstgeschichte, das WWW als Standardplattform zur Publikation
personalisierter kunstgeschichtlicher Materialien aufzufassen. Dies nutzt
z.B. die Institutsverwaltung bei der datenbankgestuetzen Produktion von
Vorlesungsverzeichnissen in unterschiedlichen Formaten (PDF, Word, etc.) und
bezieht von Anfang an XML als Ausgangsformat zur Generierung von Dokumenten
für verschiedene Ausgabegeraete ein (Aspekt der "Mobilitaet"
kunstgeschichtlicher Inhalte, ermoeglicht durch den drahtlosen Zugriff via
Mobiltelefon, PDA, Notebook, etc.).

Neben den konkret nutzbringenden Aspekten der vorgestellten Projekte fuer
Forschung, Lehre und Weiterbildung darf nicht ausser acht gelassen werden,
dass sich im "Fahrwasser" der Vorhaben eine theoretische Neubewertung
bereits bestehender, gaenzlich "undigitaler" kunstgeschichtlicher Diksurse
geradezu aufdraengt. So beleuchtet z.B. die unter dem Vorzeichen des
"medialen Bruchs" in Kuerze erscheinende Ausgabe der "Kritischen Berichte"
die Argumentation zur Einführung der Lichtbildprojektion in den
kunstwissenschaftlichen Hörsaal im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Dies geschieht jedoch aus der Perspektive der bevorstehenden, digitalen
Modifikationen im Umgang mit kunstgeschichtlichen Informationen [6].

Thomas Lackner kunstgeschichte.de - Gesellschaft für Kunst und Kommunikation
e.V. e: infokunstgeschichte.de www: www.kunstgeschichte.de

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Anmerkungen / Links [redaktionelle Ergaenzung]:

[1] Hubertus Kohle: Replik zu Thomas Lackner. H-ArtHIst Logfiles 20-03-2002:
http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl
trx=lx&list=H-ArtHist&user=&pw=&month=0203

[2] Thomas Lackner, Logistik statt Inhalt. Zu aktuellen Konzepten der
Wissensorganisation in der digitalen Kunstgeschichte. In: kritische
berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Heft 1/2002 [im
Erscheinen begriffen]. Online:
http://www.kunstgeschichte.de/kgs/publikationen/km1.html

[3] Schule des Sehens Online-Studium; Prototyp: Einfuehrung in die antike
Mythologie
http://www.schule-des-sehens.de/

[4] Prometheus - Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung und Lehre
http://www.prometheus-bildarchiv.de/

[5] system_kgs
http://www.kunstgeschichte.de/kgs/

[6] vgl. hierzu: Ingeborg Reichle, Medienbrueche. In: kritische berichte.
Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Heft 1/2002 [im Erscheinen
begriffen]. URL: http://www.kunstgeschichte.de/kgs/publikationen/mb1.html)
Kritische Berichte. Zeitschrift fuer Kunst- und Kulturwissenschaften
des Ulmer Vereins fuer Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.
http://www.kritische-berichte.de

Quellennachweis:
Re: Art History - education (Digitale Kunstgeschichte/Schule des Sehens). In: ArtHist.net, 22.03.2002. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/archive/24935>.

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