Der neue Florentiner „Parco della musica e della cultura“, dessen Hauptbau eine veritable Freilichtbühne auf dem Dach bekrönt, wurde 2011 mit einem Konzert von Zubin Mehta eingeweiht. Vollendet ist der Musikpark damit allerdings noch lange nicht. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses aufwändige Kulturprojekt in die Zukunft der Stadt fügt, deren Status als „metropoli o provincia“ oft diskutiert wurde.[1] Viele dieser Diskussionen zeugen vom Ringen um eine anspruchsvolle, zeitgenössische Architektur und Stadtentwicklung, andere vom Streben nach dem schnellen Reiz der Aufmerksamkeit. Sie erinnern an den „Bilbao-Effekt“, der seit dem Erfolg von Frank Gehrys Guggenheim-Museum in der einstigen Stahl- und Werftstadt des Baskenlandes zum geflügelten Wort geworden ist. Er steht für die Hoffnung auf globale Sichtbarkeit und das soziale und wirtschaftliche Erstarken ganzer Regionen. Geknüpft wird er an prestigeträchtige Neubauten kultureller Funktion, die zu wirkmächtigen und verehrungswürdigen Ikonen werden.
Welche Alternativen zum „Bilbao-Effekt“ jedoch gibt es und welchen Einfluss haben kulturelle Aktivitäten auf die Architektur und die Stadt der Gegenwart? Die Frage ist aktuell und relevant. Sie steht im Zentrum der jüngst in Berlin zu Ende gegangenen Ausstellung „Kultur:Stadt“, die im Kunsthaus Graz fortgesetzt und von einem 230 Seiten umfassenden Katalog begleitet wird. Herausgeber des Buches ist Wilfried Wang von der Sektion Baukunst an der Berliner Akademie der Künste, die seit einigen Jahren engagierte Debatten zum öffentlichen Raum führt; auf „Kultur:Stadt“ wird 2016 „Die soziale Stadt“ als letzte Etappe einer Trilogie folgen. Kurator ist Matthias Sauerbruch, dessen Architekturbüro Sauerbruch Hutton das Projekt eines Museums für das 20. Jahrhundert in Mestre bei Venedig entwarf, das unter den zahlreichen Exponaten ebenfalls zu sehen ist.
Die Ausstellung ist sehenswert und inspiriert, weil sie sich mit architektonischen Setzungen im Kulturbereich befasst und überdies nach deren gesellschaftlichen Veränderungen fragt – auch wenn darauf keine einfache Antwort zu finden ist. Im Berliner Akademiebau am Hanseatenweg war die Thematik in drei Sektionen unterteilt. „Vom Forum zur Ikone“ lautete ihr Auftakt im ersten Raum, in dem Projekte vom Berliner Kulturforum bis zum Sydney Opera House als Repräsentanten dieser Entwicklung der 1950er bis 70er Jahre gezeigt wurden. Den Hauptteil bildeten 31 weltweit geplante und teils realisierte Kulturbauten der letzten drei Jahrzehnte, die in der großen Ausstellungshalle präsentiert wurden. Ihre Gruppierung in „Neue Ikonen“, „Gebäude als Stadt/Stadt als Gebäude“, „Stadt als Palimpsest“, „Akupunkturen“ und „Wissensräume“ erläutert Sauerbruch im Katalog (16-23). Sehenswerte Kurzfilme von Absolventen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, die individuelle Blicke auf die Kulturbauten in situ entwickeln, waren im Schlussteil zu sehen. Eindrucksvoll nimmt sich hier die Annäherung an den hoch in den Bergen der kolumbianischen Stadt Medellin gelegenen Bibliothekenpark von Giancarlo Mazzanti aus, dessen frei stehende Baukörper wie dunkle Felsenmassive über dem Armutsviertel aufragen und auf Initiative der Stadt mit dem Ziel des kostenfreien Zugangs zu Bibliothek und Bildung entstanden sind (122-127).
Bei der Darbietung des Materials bezieht Sauerbruch eine klare Position. Er verzichtet auf Ausstellungstexte in den Räumen und er beantwortet die prinzipielle Frage der Ausstellbarkeit von Architektur mit Modellen, die nur in der ersten Sektion durch Entwürfe und Planzeichnungen auf Papier begleitet wurden und wie Solitäre auf feingliedrigen Tischen platziert waren. Vieldiskutierte Projekte wie die Londoner Tate Modern und die Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron liessen sich auf diese Weise in einem offenen Parcours von allen Seiten erkunden; ebenso der visionäre West Kowloon Cultural District Master Plan von Foster & Partners, dessen Fertigstellung für 2045 geplant ist und der als „nachhaltiger“ City Park Kultur, Arbeit und Wohnen vereinen und durch unterirdische Verkehrs- und oberirdische Gehwege erschlossen werden soll.
Dass die beleuchteten Modelle in den abgedunkelten Räumen eine fast sakrale Aura entfalteten und mehrheitlich keine gebaute Umgebung andeuten, hat angesichts der Frage nach dem Einfluss von Bauprojekten auf die Stadtgesellschaften etwas Widersprüchliches an sich; zumal die Betrachtung der Exponate von einer ungewöhnlichen Stille begleitet wurde. Die Besucher erhielten iPads mit Kopfhörern als Ausstellungsbegleiter, die das Vakuum zwischen Modell und fertigem wie zukünftigem Bauwerk überbrücken sollen. Hier konnte zwischen Ansichten und Plänen, Erläuterungen des Kurators und Autorenfilmen, kurzen Ausstellungstexten (die im Katalog nochmals abgedruckt sind) und einer geführten Videotour gewählt werden; eine attraktive Idee, da auch unterschiedliche Perspektiven auf die Projekte konkret werden: die der Architekten, des Kurators oder der Künstler.
Damit wurde eine informative Basis für den Besuch der Ausstellung geschaffen, die ein hohes Maß an Konzentration bewirkt. Problematisch hierbei ist, dass die ausgestellten Modelle nur als „visuell-physische Ankerpunkte“ (23) verstanden werden und im Katalog nicht vertreten sind. Die Besucher sind darauf angewiesen, sich vor den Exponaten - deren individuelle Gemachtheit das vergleichende Sehen lohnt - in die iPads zu vertiefen. Die Modelle werden damit zu Repräsentanten einer konzeptionellen Idee. Was zeigen sie aber und was nicht? In welcher Beziehung stehen sie zum Bau und seiner Umgebung? Welche Funktionen übernehmen sie innerhalb des Prozesses vom Entwurf über die Kommunikation, Aushandlung und Durchsetzung bis zur Repräsentation zeitgenössischer Architekturprojekte? Der kritischen Sicht auf die „Träume von Ruhm und touristischem Lohn der Bauherren im globalen Wettbewerb“ folgend, wünschte man sich auch eine Reflexion des ausgestellten Mediums; zumal schon viele Architekten und Politiker gemeinsam über dem Modell räsoniert und sich ins Bild gesetzt haben.
Bekannte „Ikonen“ wie das neue Opernhaus von Zaha Hadid Architects in Südchina, der Metropol Parasol von J. Mayer H. Architects in Sevilla oder der Seattle Central Library von OMA/Rem Koolhaas bildeten Kernprojekte der Ausstellung. Überraschend nahmen sich dazwischen architektonisch unaufgeregte Setzungen wie Jabornegg & Pàlffys Kunstraum in einem Wiener Hinterhof sowie künstlerische Initiativen aus, die eine Verflechtung von Kunst, Kultur und Stadt radikal anders denken. Dazu zählen die öffentlichen Abendessen, die Kate Daughdrill und Jessica Hernandez an verschiedenen Orten Detroits zur gemeinsamen Erarbeitung städtischer Re-Kultivierungsprojekte organisierten; aber auch die Aktion „2-3 Straßen“ von Jochen Gerz, die in Stadtgebieten des Ruhrraums eine alltägliche Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft entstehen ließ (70-76). Der Kontrast zwischen spektakulären Neubauprojekten, kreativen Um- und temporären Zwischennutzungen bildet die gelungene Basis für eine Reflexion über das „Potenzial von architektonischen Interventionen mit kultureller Absicht“ (17), zumal auch hypertrophe, jüngst mitten im Bauprozess gestoppte Projekte wie der Cidade da Cultura de Galicia bei Santiago da Compostela ausgestellt sind.
Der Katalog, in dem die Projekte mit detailliertem Text- und Bildmaterial vertreten sind, reicht im Essayteil über die Themen der Ausstellung hinaus. Weniger wird jedoch der Kultur- oder Stadtbegriff geschärft, als Kultur im weitesten Sinne reflektiert: als „Leitbild“, „Impuls“, „Lebenszyklus“, oder „Zweck und Mittel“. Die Essays der leitenden Akademie-Mitglieder Nele Hertling (30-32) und Ingo Schulze (33-35) lassen dabei deutlich erkennen, dass ihre Sicht von der Situation europäischer Städte zum einen, vom Berlin der Nachwendezeit zum anderen geprägt ist. Das mag in einem gewissen Kontrast zum globalen Rahmen der gezeigten Projekte stehen, kennzeichnet jedoch Erfahrungsräume als Reflexionsräume und als kritische Impulsgeber der Debatte. Auf aktuelle Verdrängungsprozesse in Kunst- und Kultursparten geht daher Wang ein, der die Bedeutung einer von unten nach oben wachsenden Realkultur, auch im Bereich der Architektur, herausstellt (10-16). Sauerbruch profiliert ergänzend das Problem des Bauens funktionierender sozialer Räume zu einer Zeit, in der sich die „Disziplin im Wettlauf um die flüchtige Aufmerksamkeit (…)zu immer weiteren Extravaganzen hinreißen“ lasse, und die Frage nach „Post-Bilbao-Strategien“, die sich um eine stärkere Integration von Kultureinrichtungen in soziale Strukturen und kreative Netzwerke der Stadt bemühen (16-23).
Von den aufmerksamen Beobachtungen der gegenwärtigen Entwicklungen, seien hier drei Beiträge herausgegriffen. Andy Pratt entwickelt eine erhellende Sicht auf die weltweit florierende „Kreativ- und Kulturwirtschaft“, die von der Öffentlichkeit fast unbemerkt auf Augenhöhe mit der Chemieindustrie, dem Bankensektor und der Automobilindustrie liege. Dies fordere die Politik zur Verantwortung und die Kulturschaffenden zu korrigierenden Beobachtungen auf (36-42). Das Verhältnis zwischen Stadt und Kultur überdenkt Michael Mönninger, indem er Tourismus und Terrorismus kontrastiert (55-57). Er spannt einen Bogen von den „Radikalarchitekten“ der 1970er Jahre, deren formale Setzungen ihre „Bürgerschreck-Ästhetik“ bald verloren und sich als neue Landmarken etablierten, bis zu deren heutiger Kritik als Signature- und Branding-Architekturen, die anders als Bilbao keine umfassenden städtischen Revitalisierungsstrategien anstrebten (vgl. 58-65 zum Bilbao-Effekt). „Architektur ist sicherlich längst nicht mehr alles, aber ohne Architektur ist weiterhin alles nichts“. Mönningers Fazit schliesst an den hier wiederaufgelegten Essay von Richard Sennett direkt an (50-54). Im Rekurs auf die Corbusier-Kritikerin Jane Jacobs, die für Komplexität und Dissonanz im Städtebau eintrat, entwickelt Sennett sein Konzept der offenen Stadt und fragt nach Elementen ihrer Plan- und Durchführbarkeit. Seine Überlegung, wie solche Architekturräume auf die Praxis von Demokratie einwirken können, gehört genuin zu den großen Herausforderungen und ließe sich durch jüngere Ansätze der Architektursoziologie ergänzen, die das Gebaute als „Sozius“ in einem aktiven Beziehungsgefüge begreifen.[2]
Ziel und Verdienst von „Kultur:Stadt“ ist es, anhand eines weiten Architekturbegriffs über die Präsentation vielfältiger Strategien die Auseinandersetzung mit aktuellen baulichen Setzungen im Kulturbereich anzuregen. Auf theoretische[3] und historische Perspektiven, die über die Nachkriegsmoderne hinaus in grundsätzlichere Problemlagen der Beziehung von Kultur und Stadt führen könnten, wird hierbei jedoch weitgehend verzichtet. Anders als in der Hochphase der Architektur- und Stadtkritik der 1960/70er Jahre treten Wirtschaft und Politik, Architektur und Kultur nicht mehr als Antipoden, sondern als kritische Größen in Erscheinung. Kultur hat sich als Wirtschaftskraft und Konsumgut etabliert. Umso mehr ist sie eine große und komplexe Herausforderung für die kreative Stadt und die Interdependenz von „Non Profit“ und „For Profit“(42). Für die Fortsetzung der Debatte wäre mithin eine integrierte Reflexion über Begriffe wie „Nachhaltigkeit“ und „Ökologie“ wünschenswert, die das derzeitige Sprechen über Architektur mit positivem Unterton begleiten und gleichzeitig Fragen nach Produktions- und Entstehungsbedingungen aufwerfen.[4] Am Ende dieser so vielschichtigen Ausstellung wundert man sich lediglich, warum ein umstrittenes Projekt wie das Berliner Humboldt-Forum darin nicht vertreten ist, über das sich zumindest semantisch ein Bogen zum eingangs gezeigten Kultur-Forum spannen ließe. Schwer zu sagen, ob die Initiatoren von dieser Berliner Debatte Abstand zu nehmen suchten und statt dessen ein temporäres Projekt wie „Die große Weltausstellung 2012" integrierten, eine vom raumlabor entworfene Installation von 15 Pavillons auf dem Tempelhofer Flughafenfeld, „in denen Künstler zeigten, wie die Welt wahrgenommen, verstanden und interpretiert wird“.
Die Ausstellung lohnt sich, weil sie nach Idee, Anspruch und Verantwortung von Architektur in Bezug auf Stadt und Kultur der Gegenwart fragt, und die Debatte in begleitenden Veranstaltungen fortsetzt.[5] Ihren Auftakt fand sie überdies in einem Bau aus den 1950er Jahren, der seine architektonischen und kommunikativen Ansprüche bis heute erfüllt und selbst zu einem aufmerksamen, taktilen Sehen anregt. Schon Hannah Arendt hatte sich in der Zeit der neuen kulturellen Forumsvisionen der 1950er Jahre mit der Bedeutung der gebauten Öffentlichkeit für die Entstehung des Politischen befasst.[6] Neue Signature-Architekturen braucht es dafür wohl erst einmal nicht, wie es scheint. Ähnlich deutet dies auch die bis September noch zu sehende Frankfurter Ausstellung „Think Global, Build Social! Bauen für eine bessere Welt“ an, die Architekturproduktion als Kulturproduktion im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität versteht und eigens zu diskutieren bleibt.[7]
[1] Vgl. Daniele Lauria (Hg.): Firenze: metropoli o provincia? Florenz 2009.
[2] Vgl. Heike Delitz: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Dresden 2009; Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für eine Architektursoziologie. Bielefeld 2009.
[3] Vgl. Stiftung Städelschule für Baukunst (Hg.): Architektur & Theorie – Produktion und Reflexion / Architecture & Theory – Production and Reflection. Hamburg 2009, als Plädoyer für die Verbindung von Theorie und Praxis.
[4] Vgl. Reinhold Martin: Utopia's Ghost. Architecture and Postmodernism, Again. Minneapolis/London 2010, als kritische Re-Lektüre in diesem Fall der Postmoderne und ihrer diskursiven Formierung.
[5] Vgl. zum Begleitprogramm in Berlin und Graz http://www.adk.de/de/projekte/2013/kulturstadt/blog.htm und http://www.museum-joanneum.at/de/kunsthaus/ausstellungen_3/kulturstadt
[6] Hannah Arendt: Was ist Politik? Berlin 2006, S. 11.
[7] Der Katalog der von Andres Lepik kuratierten Ausstellung im Deutschen Architektur Museum Frankfurt (8.6.-1.9.2013) erschien als Ausgabe von Arch+ 211/212, Sommer 2013: „Think Global, Build Social!“.
Wang, Wilfried (Hrsg.): Kultur: Stadt, Berlin: Lars Mueller Publishers 2013
ISBN-13: 978-3-88331-196-8, 232 S., EUR 40.00
Empfohlene Zitation:
Brigitte Sölch: [Rezension zu:] Kultur:Stadt (Berlin/Graz) (Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, 15.03.–26.05.2013). In: ArtHist.net, 08.07.2013. Letzter Zugriff 14.12.2024. <https://arthist.net/reviews/5721>.
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