REV 09.04.2009

Caroline Welsh (Hg.): "Interesse für bedingtes Wissen"

Rezensiert von Angela Fischel, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Auf immer neue Art und Weise wird die Beziehung von Kunst und Wissenschaft definiert. Ungeachtet aller „strikten Forderungen nach Differenzierung blieb die jeweils andere Seite [das heißt, die Kunst oder die Wissenschaft] stets definierender Bezugspunkt,“ resümiert Anja Zimmermann (226), eine der Autorinnen des 2008 im Fink-Verlag erschienenen Tagungsbandes, der die Beziehung zwischen den Künsten und den Wissenschaften zum Thema hat: Das Buch enthält 19 Aufsätze, die in fünf Kapitel („Messen, Lesen, Deuten“, „Figuren des Wissens“, „Übertragungen zwischen Kunst und Wissenschaft“, Blinde Flecken der Epistemologie“, „Intuition und Kalkül“) gegliedert sind. Sie benennen sehr unterschiedliche Themenbereiche, die jeweils als kleinster gemeinsamer Nenner beider Gebiete fungieren oder aber als Grenzdemarkation zwischen ihnen hervorgehoben werden. Der verrätselte Titel des Buches „Interesse für bedingtes Wissen“ erweist sich als Schlegelzitat, der mit „bedingtem Wissen“ allerdings die Philologie und die Geisteswissenschaften meinte und der diese Wendung im Kontext von Überlegungen zum Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften prägte.

In den letzten zehn Jahren haben sich viele Forschungsprojekte an den Disziplinengrenzen verortet und mit Disziplinengrenzen überschreitenden Wissenschaftsprojekten befasst. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die herausgebende Institution des vorliegenden Buches, das Zentrum für Literaturforschung, begann im Jahr 2001 mit einer sehr erfolgreichen Veranstaltungsreihe zur „Kunst als Wissenschaft und Wissenschaft als Kunst“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. Zur gleichen Zeit nahm das Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin seine Arbeit auf, um den Fokus vor allem geisteswissenschaftlichen Denkens mit den Interessen der Naturwissenschaften zu verbinden. Sie setzten den Begriff der „Kulturtechniken“, womit zum Beispiel „Lesen“, „Schreiben“ und „Rechnen“ gemeint sind, als gemeinsame Grundlage der Künste wie auch der Wissenschaften. Wenn die Herausgeber des vorliegenden Bandes nun programmatisch formulieren, dass sie „einer Geschichte, die von der Trennung und Ausdifferenzierung der Wissensbereiche in zwei (P.C. Snow) oder drei (W. Lepenies) Kulturen erzählt, die Geschichte des Zusammenspiels, des Angewiesen-Seins der Wissenskulturen und der Verflechtungen zwischen Wissensbereichen entgegensetzen“ wollen (10) und die Trennungsnarrative, mit denen die Opposition der Wissenskulturen betonen, der Herausforderung eines Gegennarrativs“ (11) aussetzen möchten, werden diese Forderungen kaum mehr einen Leser überraschen. Doch ohne Zweifel zeichnet sich gerade im programmatischen Klang dieser Formulierung ein Bemühen ab, die bereits vorliegenden Forschungen zu synthetisieren und in neue Forschungsfragen zu überführen. Die Zielsetzung ist dadurch legitimiert, dass alle Autoren des Bandes bereits umfangreiche Forschungsarbeiten zu diesem Thema geleistet haben. Dennoch zeichnet sich im Zuge der Lektüre eine Präzisierung des sehr weit gefassten Themas auf Leitbegriffe und Figuren ab, die sowohl die Künste wie auch die Wissenschaften in sehr spezifischer Weise prägen.

Es ist nur folgerichtig, dass viele der Aufsätze um Konzepte der Intelligenz, des Schöpfertums, der Innovation, Intuition und Kreativität kreisen – also der zentralen Charakteristika des modernen Subjekts. Wissenschaftliche wie künstlerische Strategien erweisen sich hier häufig als überraschend ähnlich wie die Untersuchungen von Britta Hermann über Produktionsmythologeme, also Vorstellungen der „Schöpfung“ zeigen. Zur gleichen Zeit, um 1800, werden künstlerischen wie naturwissenschaftlichen, hier konkret embryogenetischen Studien ebenfalls vergleichbare Strukturen zugrundegelegt, zum Beispiel die Figur des Rhythmus, die in der Naturforschung und in der Kunsttheorie gleichermaßen grundlegend wird, wie Janina Wellmann ausführt. Anders gestalteten sich die Bemühungen, die scheinbare Dichotomie von Wissenschaft und Kunst seit der Zeit um 1900 zu überbrücken, sowohl von der Seite der Wissenschaft, wie sich etwa anhand der Neuausrichtung des Intelligenz-Begriffs in der Verhaltensforschung konstatieren lässt (Stefan Rieger), als auch von der Seite der Künste. Sabine Flach legt dar, wie Wassily Kandinsky die Intuition programmatisch als wichtigen Erkenntnisweg in den Vordergrund stellte, wobei sein Entwurf, wie viele Annäherungsversuche der tatsächlich nur scheinbar streng getrennten Bereiche Kunst und Wissenschaft, zugleich eine Kritik am positivistischen Wissenschaftsideal darstellt.

Die derzeitigen kulturwissenschaftlichen Bemühungen um eine Überbrückung der Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft sind also keineswegs neu. Was im Vorwort als „Trennungsnarrativ“ ausgeschrieben wurde, könnte ebenso gut als eine Geschichte der Synthetisierungen von Kunst und Wissenschaft interpretiert werden, einer Folge von Überbrückungsversuchen, die bis in die Kunst und Wissenschaft des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Ähnliche Bemühungen sowohl in der Geisteswissenschaft als auch in der Naturwissenschaft zeigen, dass diese gerade in der Gegenwart von besonderer Aktualität sind. Dies betrifft zum Beispiel die in Deutschland heftig geführte Debatte über die Rolle und die Funktionen des Gehirns in Bezug auf das Selbstbewusstsein des Menschen und Idealen wie dem der Willensfreiheit, die zugleich einen Konflikt um die Deutungshoheit über das Selbstbild des Menschen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufwirft. Dem können die Hirnforscher und Neurolinguisten David Poeppel und André L. Blum einen auch für Geisteswissenschaftler verständlichen und überaus produktiven Aufsatz über die menschliche Intuition als Gegenstand der Neurowissenschaften entgegensetzten. Poeppel und Blum stellen die Intuition als eine Herausforderung an die Neurowissenschaft dar, die sie vorsichtig als primär unbewusste oder vorbewusste Mechanismen beschreiben, die letztlich dem Bewusstsein zukommen. Die Begriffe „unbewusst“ und „vorbewusst“ dienen hier als Arbeitshypothesen, die den jeweiligen Experimenten der Neurobiologie angepasst werden.

Mit „Intuition“ ist zugleich eines wichtigsten und vielversprechendsten Themen des Bandes genannt, dem sich besonders die Wissenschaftshistoriker, aber auch die Naturwissenschaftler und Schriftsteller (Aris Fioretos) auseinandersetzen. In den Künsten wie in den Wissenschaften wird sie als Königsweg zu neuen Erkenntnissen und bahnbrechenden Entdeckungen beschrieben. Für die Wissenschaftsgeschichte stellt dieses Thema ein geradezu bahnbrechendes Novum dar. Hier wird ein bisher stets als unwichtig eingeschätzter Faktor naturwissenschaftlichen Forschens in den Mittelpunkt gestellt, ohne diesen auf die Subjektivität und die persönliche Begabung eines individuellen Wissenschaftlers zu reduzieren. Zugleich wird mit der Frage nach der Intuition ein Thema angesprochen, das in der diskursanalytischen und soziologischen Methodik der aktuellen Geschichtsschreibung, und das gilt auch für die Kunstgeschichte, nirgends vorkam, das aber ohne Zweifel eine zentrale Rolle in künstlerischen wie wissenschaftlichen Prozessen spielt.

Wo und wie genau finden Erfindungen statt, wie kommt es zu Neuerungen, wie können nicht antizipierbare Elemente auftauchen, die eine wissenschaftliche Neuerung letztlich ausmachen; dies sind die Leitfragen der Studie von Hans-Jörg Rheinberger (331-342). Entgegen dem klaren und folgerichtigem Bild, das in den publizierten Berichten von neuen wissenschaftlichen Entdeckungen vermittelt wird, zeigt der Einblick in die Labortagebücher - Rheinberger bezieht sich hier auf die Dokumentationen des Physiologen Claude Bernard und seine Exeprimente über den Nachweis von Zucker - dass der Forschungsprozess in einem „Raum des Tastends und Irrens“( 332) stattfindet, die den Forschungsprozess selbst als „Irrfahrt mit beständigen Richtungswechsel“ (332) oder auch als Tasten ins Unbekannte darstellen. Auch hier finden sich zahlreiche Überschneidungen zur Geschichte der Kunst, die sich mit Rheinberger als ein „Denken mit den Händen“ beschreiben lässt. Besonders an dieser Stelle scheinen sich künstlerische und wissenschaftliche Fragen zu gleichen, besonders wenn beide Bereiche das Ziel haben, schöpferisch zu arbeiten und Neues zu beschreiben. Intuition spielt dabei in beiden Fällen eine entscheidende Rolle. Dabei fällt besonders die sonst oft vernachlässigte, von Rheinberger aber nachdrücklich hervorgehobene Eigendynamik des Forschungsgegenstands selbst, aber auch der Werkzeuge und Apparaturen auf. Innovationen gehen, so wird anhand dieses Beitrags deutlich, aus einem Dialog zwischen Forschungsgegenstand, Apparaturen und Wissenschaftler hervor, in dessen Verlauf Widersprüche zu immer neuen Ergebnissen führen.

Neu und überraschend an den hier geschilderten Ansätzen ist, dass diese erneute Hinwendung zur Intuition keineswegs in eine Emphase des künstlerisch oder wissenschaftlich genialen Subjekts mündet, noch in einen Abgesang auf das Subjekts und in eine Hinwendung zum Kalkül, welche viele Neurowissenschaftler aber auch Kulturwissenschaftler in den letzten Jahren bevorzugten. Vielmehr zeichnet sich gerade hier eine neue Perspektive auf das ab, was Intelligenz, Intuition und schöpferische Tätigkeit ausmacht. Mit dem Begriff der „Intuition“ stellt sich für Geistes- wie Naturwissenschaftler, wie es der Wissenschafthistoriker Ohad Parnes formuliert, eine große philologische Herausforderung, die den Wandel von Vorstellungswelten vielleicht plausibler erklären könnte und die die Verknüpfung von neuen Inhalten und unkonventionellen Metaphern zu neuen Figuren des Denkens beschreibt. Dieses Wechselspiel zwischen den Objekten und Subjekten beschreibt der Schriftsteller Aris Fioretos mit wenigen Worten: „‘Intuition?’ eine Art Fledermausverhalten. Ich sende Signale aus, sie kehren zu mir zurück, leicht verschoben“ (405).

Welsh, Caroline (Hrsg.): "Interesse für bedingtes Wissen". Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen (= Trajekte), Paderborn: Fink 2008
ISBN-13: 978-3-7705-4538-4, 429 S., ca. EUR 49.90

Empfohlene Zitation:
Angela Fischel: [Rezension zu:] Welsh, Caroline (Hrsg.): "Interesse für bedingtes Wissen". Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen (= Trajekte), Paderborn 2008. In: ArtHist.net, 09.04.2009. Letzter Zugriff 23.04.2024. <https://arthist.net/reviews/331>.

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