REV 05.06.2012

Anne Schmedding: Dieter Oesterlen (1911-1994)

Rezensiert von Ralf Dorn, Darmstadt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
Click to enlarge

In den 1960er Jahren galt er als der „Rudolf Schwarz des protestantischen Kirchenbaus“ (13), heute ist er vornehmlich denen bekannt, die sich um den Erhalt des vom Abriss bedrohten Erbes der Nachkriegsmoderne bemühen. Die Rede ist von dem Architekten Dieter Oesterlen (1911-1994), einem Vertreter der sogenannten Braunschweiger Schule, der verantwortlich zeichnete für den Wiederaufbau der Marktkirche von Hannover und den Umbau des dortigen Leineschlosses zum niedersächsischen Landtag. Hinsichtlich der jüngsten Diskussionen um den Erhalt des Landtagsgebäudes sowie weiterer sanierungsbedürftiger Bauten Oesterlens kommt Anne Schmeddings Monographie über diesen fein- und eigensinnigen Baukünstler gerade zur rechten Zeit. „Tradition und zeitgemäßer Raum“ lautet der Untertitel ihrer 2011 im Wasmuth Verlag erschienenen Dissertation, die das Ziel hatte, „die beiden Schwerpunkte im Schaffen Oesterlens – Kirchenbau und der architektonische Umgang mit Baudenkmalen – anhand des Vergleichs von Beispielbauten unterschiedlicher Schaffensphasen zu analysieren“.(13)

Reizvoll und ungewöhnlich an Oesterlens Oeuvre ist, dass seine prägnanten Neubauten gleichberechtigt neben seinen – in seltener Dichte – qualitätvollen Um- und Erweiterungsbauten historischer Bauwerke stehen. Sein selbstbewusster Umgang mit historischer Bausubstanz ist augenfällig und bemerkenswert zugleich. Die Verbindung von Alt und Neu erfolgt bei Oesterlen durch ein konsequentes Weiterdenken und -bauen, das die Rekonstruktion des Baudenkmals zurückstellt zugunsten einer Interpretation desselben. Dies ist eine der wesentlichen Qualitäten seiner Bauten: „die Überführung der Formen und Räume in die eigene Gegenwart, den zeitgemäßen Raum“ (20), so Anne Schmedding.

Ebenso ambivalent wie sein aus denkmalpflegerischer Sicht unkanonischer Umgang mit dem Baudenkmal war auch sein Ausbildungsweg. Obwohl er sich von den Ideen des Bauhauses (21) angezogen fühlte, immatrikulierte er sich 1930 an der renommierten TH Stuttgart und studierte bei einem der Hauptvertreter der Stuttgarter Schule: Paul Schmitthenner. Differenzen mit seinem Lehrer ließen ihn jedoch das dortige Studium abbrechen und den Weg an die TH Charlottenburg in Berlin einschlagen. Dort setzte er sein Studium bei Heinrich Tessenow, einem weiteren Vertreter der konservativen Strömung, fort. Bereits nach einem Semester wechselte er jedoch in die Klasse des charismatischen Lehrers Hans Poelzig. Dessen außergewöhnliche Entwurfsauffassung wird für Oesterlen zur prägenden Erfahrung und führte ihn später zu seiner eigenwilligen Gotik-Interpretation, die sein Werk in den Nachkriegsjahrzehnten dominieren sollte.

Nach seinem Diplom wählte er den sicheren Weg der Ausbildung zum Regierungsbaumeister. Für seine Tätigkeit als Rüstungsarchitekt beantragte er 1940 die Mitgliedschaft in der Reichskammer der Bildenden Künste und trat in die NSDAP ein. Bereits einen Monat nach Kriegsende gründete Oesterlen zusammen mit Paul Brandes in Hannover eine Bürogemeinschaft. Neben kleineren Aufträgen erhielt das Büro im Mai 1947 den bedeutenden Auftrag zur Wiederherstellung der Marktkirche in der vom Luftkrieg weitgehend ausradierten Hannoveraner Altstadt. Auch durch die Fürsprache des Stadtbaurats Rudolf Hillebrecht realisierte Oesterlen in den Jahren zwischen 1950 und 1965 „52 Projekte, davon alleine 34 in Hannover und dessen unmittelbarer Umgebung“.(41) Seine Bauten machten ihn in der Fachwelt bekannt. Alfons Leitl, Herausgeber der Zeitschrift „Baukunst und Werkform“, präsentierte in den 1950er Jahren sein Werk und hob hervor, dass Oesterlens Arbeiten eine Qualität aufweisen, „die bloße Kunstfertigkeit nicht zuwege bringen kann, sondern nur wirkliches Können“.(41)

Eines seiner wichtigsten Tätigkeitsfelder sollte der Kirchenbau werden. Die Wiederherstellung der Marktkirche von Hannover hatte ihn für diese bedeutende Bauaufgabe der Nachkriegszeit qualifiziert. An der Marktkirche zeigte Oesterlen bereits seine „Neuinterpretation des Gotischen“.(77) Er griff die Backsteinsichtigkeit des Außenbaus auf und arbeitete sie auch im Kircheninnern heraus. Den Putz auf Pfeilern und Wänden ließ er abklopfen, den Fußboden mit Backsteinen auslegen. Für die Gewölbe ließ Oesterlen Kreuzrippen aus armiertem Beton gießen und schloss die Gewölbesegel mit Oldenburger Ziegeln.(156) Die daraus resultierende, fast roh zu nennende Materialsichtigkeit verstärkt die monumentale Wirkung des Raumes und lässt das Prinzip der Reduktion offenbar werden. „Der sehr viel weiter gefasste Modernebegriff, dem sich Oesterlen verpflichtet fühlte, nimmt die Leitbilder der frühen europäischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf: Reduktion auf wesentliche, aus der Konstruktion abgeleitete Elemente, damit Übereinstimmung von Form und Material, von Innen und Außen und Erkennbarkeit des verwendeten Materials.“(279)

Die Qualität seiner Bauten manifestiert sich bei Oesterlen insbesondere im Umgang mit historischer Bausubstanz. Sein Vorgehen zeigt, dass er „einen dritten Weg zwischen Rekonstruktion und Neugestaltung propagierte, den er als ‚Gestaltung dem Sinne nach‘ bezeichnete“.(73) Weder folgt er sklavisch dem Vorbild noch bricht er vollständig mit dessen Existenz. Besonderes Augenmerk legte Oesterlen auf die Positionierung der liturgischen Ausstattungsstücke. Bei Altären, Kanzeln und Orgeln, aber auch bei Kirchenportalen und -fenstern, legte er größten Wert auf die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern. Immer wieder tauchen die gleichen Künstlernamen auf: der Metallbildhauer Fritz Kühn, der Glaskünstler Helmut Lander und der Bildhauer Klaus Arnold.

Aus der Reihe seiner Neubauten sticht die Jesus-Christuskirche in Bielefeld-Sennestadt von 1962-1966 hervor. In einem unter anderem mit Egon Eiermann hochrangig besetzten Wettbewerb von 1959 setzte sich Oesterlen mit seinem Entwurf durch. Es entstand ein Kirchenbau, der in seinem Grund- und Aufriss sowie seinen Betonglasfenstern dem Kristallinen huldigt. Es „ist ein Meisterwerk entstanden, das dem Architekten zur Ehre gereicht“ (104), unterstrich Stephan Hirzel in seiner damaligen Kritik, um gleich darauf einschränkend festzustellen: „Jedoch zur Lösung des Kirchenbauproblems unserer Zeit ist damit kein Beitrag geleistet.“(104) Auch Schmedding betont dieses Dilemma Oesterlens, sein halsstarriges Beharren auf der einmal gefundenen Lösung. „In seiner Formfindung blieb er von 1946 bis Ende der 60er Jahre einem bestimmten Repertoire treu – und verkannte dabei die sich stark verändernden Bedürfnisse an neue Kirchenräume.“(105) Nüchtern stellt sie fest: „Oesterlens Kirchen sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zeitgemäß.“(105)

Ihre kritische Analyse des baulichen und schriftlichen Werks von Dieter Oesterlen hat Schmedding um ein Werkverzeichnis bereichert. Dort sind sämtliche Bauten und Projekte Oesterlens im Bild aufgeführt. Angaben zu Ort, Datierung und Zustand des jeweiligen Projekts werden durch Hinweise auf archivalische Quellen und zeitgenössische Publikationen vervollständigt. Ein Gewinn sind die historischen Aufnahmen Heinrich Heidersbergers, ergänzt um aktuelle Farbaufnahmen von Alain Roux, die die Qualität von Oesterlens Bauten deutlich zu Tage treten lassen.

Das Erbe der Nachkriegsmoderne steht in der Bundesrepublik Deutschland an vielen Orten auf der Kippe, dazu zählen auch Hauptwerke Dieter Oesterlens. Erst die Beschäftigung mit unserem baulichen Erbe macht offenbar, wieviel Energie diese Kriegsgeneration in langen Diskussionen und Konflikten um den Wiederaufbau und die Neugestaltung deutscher Städte investierte. Diese Zähigkeit in der Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe der Nachkriegszeit wünscht man heutigen Planern und Architekten. „Nicht die Imitation, sondern das ‚geistige Wiedererkennen vergangener Epochen‘, gleich welcher Epoche, war Grundvoraussetzung für Oesterlen.“(277) Anne Schmeddings Arbeit offenbart die Aktualität gerade dieses Grundsatzes. Oesterlens Werk weist bereits einige Lücken auf; ein Abriss seines Landtagsgebäudes in Hannover würde seinem Oeuvre jedoch eine Wunde schlagen, die nicht mehr verheilt.

Schmedding, Anne: Dieter Oesterlen (1911-1994). Tradition und zeitgemäßer Raum (= Forschungen zur Nachkriegsmoderne), Tübingen [u.a.]: Ernst Wasmuth Verlag 2011
ISBN-13: 978-3-8030-0744-5, 369 S., EUR 58.00

Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Schmedding, Anne: Dieter Oesterlen (1911-1994). Tradition und zeitgemäßer Raum (= Forschungen zur Nachkriegsmoderne), Tübingen [u.a.] 2011. In: ArtHist.net, 05.06.2012. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/2540>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^