REV 22.06.2016

Pierre Rosenberg: Nicolas Poussin

Rezensiert von Robert Skwirblies, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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„Leider sind kritische Werkkataloge kaum noch in Mode.“ Mit diesem Bedauern eröffnet Pierre Rosenberg seinen „catalogue raisonné“ der Gemälde von Nicolas Poussin, die sich im Pariser Musée du Louvre befinden (Vorwort, S. 8). Der langjährige Direktor dieses erstrangigen europäischen Museums und seiner Gemäldesammlung ist gleichzeitig Protagonist der Forschung zur französischen Malerei der Neuzeit. Der im letzten Herbst erschienene Band ist daher ein gewichtiges Resümee seiner Lebensleistung. Rosenberg bespricht vierzig der je nach Autor bis zu 260 als autograph angenommenen bekannten Gemälde Nicolas Poussins (Rosenberg selbst listet 180 Werke auf: S. 417-419). Im Blick stehen daher einerseits Schlüsselbilder wie die Allegorie der Poesie (Kat. 7), die Hirten in Arkadien (Kat. 15), oder das „Selbstporträt“ von 1650 (Kat. 28) und die „Vier Jahreszeiten“ (Kat. 36-39). Gleiche Beachtung finden aber auch weniger bekannte Stücke wie die „Madonna von Pilier“ (Kat. 8), die „Taten des Moses“ (Kat. 20-21) oder das erst 1999 erworbene Spätwerk „Santa Francesca Romana“ (Kat. 35). Der Katalog geht dabei einer kompletten Werkmonographie voraus, die für 2017 ankündigt wird (S. 8).

Der Seufzer Rosenbergs darf als Mahnung, doch auch als Stilfigur eines erfahrenen und sprachlich gewandten Forschers verstanden werden. Es wäre schließlich eine ähnlich rhetorische Frage, ob die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um das Oeuvre des Malers nun als abgeschlossen zu betrachten wären. Dagegen spricht schon die sich kontinuierlich vermehrende Literatur, die in diesem Fall tatsächlich als uferlos zu bezeichnen ist – Rosenberg zählt über viertausend Publikationen (S. 10); zu manchen Gemälden werden allein über zehn kritische Werkausgaben als Referenzen genannt, von denen sich zwei „Poussinisten“ als kanonisch durchgesetzt haben.[1] Rosenberg selbst organisierte 1994 eine monographische Poussin-Ausstellung im Pariser Grand Palais. Dort wurden auch die Zeichnungen des Künstlers einbezogen.[2] Im selben Rahmen war der Autor an einem großen Forschungskolloquium beteiligt.[3] Man kann also Rosenbergs aktuelle Publikationen als einen abschließend-überblickenden Beitrag zur Poussinforschung, wenn nicht gar zur Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts überhaupt verstehen.

Diskurse zu verfolgen, relevante Fragen zu entwickeln und dabei die Kunstwerke selbst, den Kontext ihrer Entstehung und Rezeption in den Mittelpunkt zu rücken: Diesen Impulsen kunsthistorischer Forschung dürfte der Katalog mit seiner minutiösen Zusammenschau von Quellen, Literatur, Zustandsanalysen und Verweisen gerecht werden. Die Bildbeschreibungen, Vorstellung von Referenzobjekten – seien es Kopien, Zeichnungen, Reproduktionen oder Werke anderer Maler – und Quellenauszüge sind von höchstem dokumentarischem Wert. Dieser Grundstock wissenschaftlichen Arbeitens steht jenseits allen Zeitgeistes. Vielleicht mehr als der kritische Werkkatalog an sich ist der Duktus aus der Mode gekommen, in der er sich präsentiert: Die über Jahrzehnte gewachsene Erfahrung und Reputation des Autors – früher nannte man es Kennerschaft – dient als Grundlage für Zuschreibungen, Datierungen und Bildinterpretationen. Das dabei gezeigte selbstsichere Auftreten mag manch heutiger Leser nicht mehr gewohnt sein. Was der Darstellung allerdings eine solide Grundlage gibt, sind die gewissenhaft recherchierten, nachgewiesenen und ausführlich zitierten Quellen. Besonderes Augenmerk legt Rosenberg auf die Provenienzen der Werke und den Sammlungskontext des Louvre. Darin liegt vielleicht das modernste Element des Katalogs.

Doch seine explizite Programmatik geht deutlich darüber hinaus und macht diesen „catalogue raisonné“ zu einem streitbaren Forschungsbeitrag: Es geht dem homogenen Korpus zum einen darum, Poussin als den ersten Künstler Frankreichs und den Louvre als das vornehmste Kunstmuseum zu konstituieren. Gleich die erste der die Werke chronologisch ordnenden Katalognummern ist eine prominente Wiederzuschreibung (Kat. 1, „Mars und Venus“, S. 44-51). Erklärtes Ziel ist es auch, das Forschungs- und Sammlungsinteresse an dem Künstler wachzuhalten (S. 43), der mit seiner sperrigen Strenge zu allen Zeiten eher Maler und Kenner begeisterte als das Publikum (S. 19). Rosenberg setzt einen Fokus auf die Relevanz der Künstlerfigur Poussin für das französische Königshaus, was eine Grundlage für die prononcierte Einbettung in den sammlungsgeschichtlichen Kontext der Werke schafft. Schließlich betont der Autor programmatisch im Vorwort, Poussin nicht nur als bedeutenden – wenn nicht den herausragendsten – französischen Nationalkünstler herauszustellen, sondern seine gesamteuropäische, ja universale Wirkmacht aufzuzeigen (S. 24-27).

Dabei spielt für Rosenberg nicht zuletzt auch die als exzeptionell begriffene intellektuelle und malerische Qualität von Poussins Oeuvre eine Rolle. Auch dieser Akzent mag etwas aus der Mode – oder aus dem Blick – der Kunstwissenschaft geraten sein. Die Malerei als Kunst auch um ihrer selbst willen, als „Vergnügen für das Auge“, sei dem Künstler während seiner gesamten Karriere ein Hauptziel gewesen (S. 88). Eine klare Stellungnahme ist auch insofern die Widmung an Willibald Sauerländer (S. 8), mit dem Rosenberg die besondere Würdigung des poetisch-sinnlichen Gehaltes von Poussins Werk teilt (S. 312f.). Entsprechend bekennt der Autor frei, zu der seit Panofskys ikonologischer Betrachtung der „Hirten in Arkadien“ erschienenen „Sintflut von ‚Lesarten‘“ nicht mehr viel sagen zu wollen, und läßt auch hier die „poetische Kohärenz des Bildes“ (Alain Mérot) als letztes Wort stehen (S. 156f.)

Umfassende Indizes (Konkordanzen, Bibliographie, Werkliste, Liste der Vergleichswerke, Namensregister), eine Fülle von Abbildungen von hoher Qualität, einschließlich beeindruckender Detailaufnahmen, und ein elegantes Layout machen den vorliegenden Band zu einer sowohl inhaltlich als auch ästhetisch überreichen Darstellung. Der Katalog ist daher gleichzeitig Ergebnis und Arbeitsgrundlage – für die fortgesetzte Beschäftigung mit diesem Maler, der nach wie vor Aufmerksamkeit verdient. Das dürfen wir auch von dem angekündigten Oeuvrekatalog zu Nicolas Poussin von Rosenberg erwarten, der die Würdigung des Gesamtwerkes des Malers auf neuestem Stand zu ermöglichen verspricht.


[1] Jacques Thuillier, Nicolas Poussin, 2. Aufl. Paris 1994; Anthony Blunt, The Paintings of Nicolas Poussin. A Critical Catalogue, London 1966.
[2] Pierre Rosenberg, Louis-Antoine Prat (Hg.), Nicolas Poussin (1594-1665), Galeries nationales du Grand Palais, 27 septembre 1994 – 2 janvier 1995, Paris 1994.
[3] Alain Mérot (Hg.), Nicolas Poussin (1594–1665). Actes du colloque organisé au musée du Louvre par le Service culturel du 19 au 21 octobre 1994, 2 Bde., Paris 1996.

Rosenberg, Pierre: Nicolas Poussin. Les tableaux du Louvre. Catalogue raisonné, Paris: Somogy Editions 2015
ISBN-13: 978-2-7572-0918-9, 431S., Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Robert Skwirblies: [Rezension zu:] Rosenberg, Pierre: Nicolas Poussin. Les tableaux du Louvre. Catalogue raisonné, Paris 2015. In: ArtHist.net, 22.06.2016. Letzter Zugriff 19.03.2024. <https://arthist.net/reviews/13334>.

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