REV 18.12.2015

The Dialogic City – Berlin wird Berlin

Rezensiert von Tino Mager, Berlin
Redaktion: Hans Georg Hiller von Gaertringen

„Eine Komplementarität, die durch eine bebaute Brücke über den breiten Flussarm zu einem Dialog gefunden hatte.“[1] Dieser Dialog ist Berlin. Er hat seinen Ursprung in der Vereinigung zweier Siedlungen, die jeweils von Fischern und Kaufleuten geprägt, komplementär, also gegensätzlich und sich zugleich ergänzend, ein Ganzes ergaben. Die Geschichte dieses Ganzen besteht bis dato wiederum aus sich mit dem Lauf der Zeit wandelnden Gegensatzpaaren, die durch den zwischen ihnen stattfindenden Dialog miteinander verknüpft sind. So zumindest sehen es die Architekten und Stadtplaner Arno Brandlhuber und Florian Hertweck, die gemeinsam mit dem Fotografen und Grafiker Thomas Mayfried einen außergewöhnlichen Sammelband zur Berliner Stadtgeschichte herausgegeben haben. Der silbrig-spiegelnde Einband beinhaltet knapp 700 dicht bedruckte Seiten, die auf den ersten flüchtigen Blick mit der Attraktivität eines Telefonbuchs aufwarten, nach den ersten Zeilen jedoch bereits lohnend erscheinen. In sieben Kapitel nach Gegensätzen gegliedert, enthält der Band 55 Beiträge, die in Form von Essays, Interviews, wissenschaftlichen Abhandlungen, Bildstrecken und Grafiken eine vielseitige Herangehensweise an die Idee der dialogischen Stadt darstellen. Diese Idee wurde bereits 1978 von Paul Hofer und Bernhard Hoesli an der ETH Zürich untersucht [2] und auch Berlin ist bereits als uneinheitlich und nicht konsequent planbar dargestellt worden[3].

Die Herausgeber beziehen sich allerdings auf den Soziologen Ulrich Beck, der sich in den 1990er-Jahren gegen eine Betrachtung Berlins verwahrte, die es aufgrund seiner zahlreichen Brüche als antiurban und hässlich beschreibt. Im Gegenzug hob er die Offenheit und Heterogenität der Stadträume als positive Qualitäten hervor, die es erlauben, politische, soziale und historische Disparitäten erfahrbar zu machen. Daraus resultiere die Möglichkeit, das komplexe Stadtgefüge nicht als ein Sammelsurium sich gegenseitig exkludierender Konzepte, deren Widersprüchlichkeit und Scheitern begreifen zu müssen, sondern es in seiner Kontingenz, in seiner heterogenen ,sowohl-als-auch‘-Erzählung, wahrnehmen zu können. Brandlhuber et al. geht es mit ihrem Buch darum, kulturelle und soziale Unterschiede innerhalb eines ganzheitlichen Stadtmodells dialogisch zusammenzubringen und die historischen, räumlichen und sozialen Widersprüche Berlins als Zusammenhänge, die sich gegenseitig bedingen und Teil eines Ganzen sind, zu erfassen. Der Beweggrund, dieser Idee ein Buch zu widmen, ist die mit Sorge beobachtete gegenwärtige Entwicklung der Hauptstadt: „Das Berlinspezifische einer Stadt, in deren Mitte periphere Situationen mit Sozialem Wohnungsbau und wilder Natur existierten, und dessen Peripherie sich konzentriert durch Urbanität und Durchmischung ausgezeichnet hat, weicht immer mehr dem Modell einer konventionellen, quasi pyramidalen europäischen Großstadt.“[4] Die Autoren verstehen ihr Werk als ein Plädoyer dafür, das Nicht-Paris-Sein Berlins nicht als Missstand, sondern als besondere Qualität zu begreifen und „Berlin als dialogische Stadt Berlin werden zu lassen“[5]. In der Tat sind alle Ansätze, die Hauptstadt als homogene Struktur zu etablieren, gescheitert. Die Stadtgeschichte ist seit Anfang an von Komplementaritäten durchzogen (Berlin – Cölln, Stadtbürger – Landesherren, Stadtlandschaft – Steinernes Berlin, West – Ost …), wobei die einzelnen Erzählungen um ihrer Gültigkeit Willen stets zusammengedacht werden müssen. Was in gewissem Maße sicherlich auch auf andere Großstädte zutrifft, ist für Berlin geradezu charakteristisch. Auch die internationale Popularität, die die Stadt nach dem Mauerfall erlangte, verdankt sie weder einem geschlossenen Stadtbild, noch einem historischen Zentrum, keinem Inbegriff eines spezifischen Lebensentwurfs und auch keiner glanzvollen, sondern eher einer turbulenten Geschichte.

Die Beiträge des Buches sind so heterogen wie die Stadt. Sie befassen sich mit ihrer Geschichte, einzelnen Stadtvierteln, Grünflächen, dem Unfertigsein, diversen Versprechen, der Wohnfrage und Wohnexperimenten, Flüchtlingen, Bürgerentscheiden, einzelnen Bauwerken, der Baugesetzgebung und zahlreichen anderen Aspekten. Was einen Großteil der Beiträge eint, ist das erkennbare Anliegen, mehrere, auch widersprüchliche Erzählungen zu integrieren und jeweils nur ein Teil eines größeren Ganzen sein zu wollen. Die Mitwirkenden bilden dabei wiederum eine heterogene Konstellation. Zu ihnen zählen u. a. Architekten, wie zwei der Herausgeber oder Philipp Oswalt und Eugenia Freund aber auch Rob und Léon Krier, Stadtplaner wie Werner Durth und Hans Stimmann, Kulturtheoretiker und -manager wie Diedrich Diedrichsen und Tim Renner, die Kunst- und Architekturkritiker Niklas Maak und Anh-Linh Ngo, Künstler, Historiker und Studierende. Folglich vermittelt die Lektüre die Stadt anhand verschiedenster Perspektiven, beispielsweise aus dem Blickwinkel von Skateboardern (Markus Streber), der Technoszene (Ulrich Gutmair), selbstverwalteten Wohn- und Kulturprojekten (Mariam Gegidze, Maria Hudl), Naturliebhabern (Sandra Bartoli, Silvan Linden), Flüchtlingen (Stephan Lanz) und Wohnenden (Sarah Michels). Es werden Entwicklungen nachvollzogen, die den Club in die Tradition des Salons stellen (Kathrin Schömer) und einzelne Architekturen wie der Boros-Bunker oder das NKZ in ihrer sozialräumlichen Wirkung beleuchten (Christian Posthofen, Fee Kyriakopoulos) .

Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen Berlin und Berlins Geschichte betrachtet werden, führen auch vor Augen, wie heikel sich hier jegliche historische Bezugnahme durch Architektur und Stadtplanung gestaltet. Welches Berlin bei so viel Geschichte? Die Stadtlandschaft, deren Protagonisten sich auf Schinkel beriefen, ist ebenso historisch und legitim wie Hobrechts steinernes Berlin – die Repräsentationsbauten der Monarchie ebenso Teil der Geschichte wie die Hauptstadtplanung der DDR. Kein Teil davon ist historischer oder charakteristischer als der andere. Diese Problematik berührt nicht nur die stadträumliche Formfindung, sondern auch soziale und kulturelle Gesichtspunkte. Das Buch lässt aber auch Entscheidungsträger zu Wort kommen, die mit der vorgeschlagenen Form des Dialogs „wenig anfangen“ [6] können. So erfahren wir von Hans Stimmann im Interview mit Arno Brandlhuber, dass der Potsdamer Platz heute vielleicht anders aussähe, wenn Rem Koolhaas im Oktober 1991 einen Flug verschoben hätte und dass das damalige Planungskonzept der Berliner Innenstadt einer aus zeitlicher Überforderung resultierenden, genehmigungsrechtlichen Position geschuldet sei. An der Frage, ob der Schlossrekonstruktion eine Grünfläche gegenüberstehen kann, zerbricht der Dialog zwischen den Gesprächspartnern. Drei Kapitel später wird besonders deutlich, dass es wichtig ist, ihn fortzuschreiben, wenn Robert Burghardt einen architektursoziologischen Blick auf die in nächster Nähe des Schlossplatzes entstandenen Townhouses wirft, und deren Beitrag zur Raumverwertung und Kapitalkonzentration hervorhebt. Seine Kritik muss auch im Hinblick auf das, was auch immer gegenüber dem Schlosses entstehen mag, berücksichtigt werden: „Stadt ist exemplarisch eine kollektive Produktion durch all diejenigen, die in ihr leben und wirken – und nicht nur derer, die dort Eigentum besitzen.“[7]

The Dialogic City zeigt wie komplex, fragil und lebenswert ein heterogenes Berlin ist, welcher kulturelle Reichtum durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einer Stadt entstehen kann, und welche Einzigartigkeit mit ihr verbunden ist, wenn Architektur und Städtebau dialogisch betrieben werden und einem über Kapital- und Konsuminteressen hinausgehenden Anspruch folgen. Die zwischen Bewohnerinteressen und Politik bestehenden Diskrepanzen offenbaren sich anhand der seit 2008 stattfindenden Bürgerentscheide, die sich ganz klar gegen verschiedene Senatsprojekte aussprechen. Wenn Brandlhuber und Hertweck darauf bezugnehmend mit ,Bikini Tempelhof‘ [8] die Aufstockung des Flughafengebäudes vorschlagen, ist das zugegebenermaßen ein sperrig anmutender und die Denkmalpflege sicherlich wenig erfreuender Ansatz zu einem Dialog zwischen dem Senat und seinen Bebauungsplänen und der Initiative zum Erhalt der Freifläche des Flugfeldes. Wenn der Architekt Bernhard Strecker jedoch fordert, den Fall neu aufzurollen und das Feld zu bebauen und der Senat bereits über eine Gesetzesänderung nachdenkt und dabei die Flüchtlingsthematik strapaziert, ist Misstrauen geboten.[9] Misstrauen gegen als alternativlos dargestellte, zumeist profitorientierte und auch antidemokratische Entscheidungen. Das Buch erklärt eindringlich, wie wichtig es ist, Dialog als eine Grundlage anstehender Entscheidungen bezüglich des Umgangs mit unserem Lebensraum, der viel mehr als eine Kapitaleinlage ist, zu verinnerlichen. Es verdeutlicht auch, dass Stadt nicht ausschließlich eine Aufgabe für Experten und Investoren ist, sondern vor allem für ihre Bewohner. Darin ist es auch eine Aufforderung – sowohl zu einer kritischen Haltung als auch zur Beteiligung: „Du willst doch nicht an einen Ort gehen, der für dich gemacht ist.“[10]

Anmerkungen:
[1] Arno Brandlhuber, Florian Hertweck: „Zentren & Mitte“, S. 17
[2] Tom Steinert: Komplexe Wahrnehmung und moderner Städtebau. Paul Hofer, Bernhard Hoesli und ihre Konzeption der „dialogischen Stadt”, Zürich 2014
[3] Philipp Oswalt: Berlin, Stadt ohne Form – Strategien einer anderen Stadt, München 2000
[4] Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomay Mayfried: „Einleitung“, S. 12
[5] Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomay Mayfried: „Einleitung“, S. 12
[6] Hans Stimmann im Gespräch mit Michael Mönninger, Arno Brandlhuber und Florian Hertweck: „Es ist dramatisch, in der Mitte eine Leere zu haben“, S. 135
[7] Robert Burghardt: „Von der IBA zum Townhouse“, S. 458
[8] Arno Brandlhuber, Florian Hertweck: „Bikini Tempelhof“, S. 582 ff.
[9] Bernhard Strecker: „Bebaut das Tempelhofer Feld!“, Der Tagesspiegel, 20. November 2015; Joachim Fahrun und Lorenz Vossen, „Koalition will Tempelhofer Feld für Flüchtlinge bebauen“, Berliner Morgenpost, 5. November 2015
[10] Diedrich Diedrichsen und Tim Renner im Gespräch mit Arno Brandlhuber und Florian Hertweck, S. 383

Brandlhuber, Arno; Hertweck, Florian; Mayfried, Thomas (Hrsg.): The Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln: Wather König 2015
ISBN-13: 978-3-86335-825-9, EUR 20,00

Empfohlene Zitation:
Tino Mager: [Rezension zu:] Brandlhuber, Arno; Hertweck, Florian; Mayfried, Thomas (Hrsg.): The Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln 2015. In: ArtHist.net, 18.12.2015. Letzter Zugriff 19.03.2024. <https://arthist.net/reviews/11756>.

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