Andererseits: Die Phantastik. Imaginäre Welten in Kunst und Alltagskultur,
Schloßmuseum Linz und Landesgalerie Linz, 1.5. - 29.8.2004.
Katalog: Andererseits: Die Phantastik. Imaginäre Welten in Kunst und
Alltagskultur. Katalog zu einem Ausstellungsprojekt der
Oberösterreichischen Landesmuseen im Schloßmuseum Linz/in der
Landesgalerie Linz (= Kataloge der Oberösterreichischen Landesmuseen N. S.
15), hg. vom Land Oberösterreich/ Oberösterreichische Landesmuseen, Peter
Assmann, Weitra/Oö. (Bibliothek der Provinz) 2004.
Date: 28. Sept 2004
Rainer Zuch
Was ist Phantastik und wie stellt man sie aus? Über den ersten Teil der
Frage besteht nach wie vor Unklarheit. Besteht sie im Entwerfen
unrealistischer Gegenwelten? Entsteht sie durch einen Riß in unserer
vertrauten Welt, durch den das Unbekannte und deshalb Unheimliche
eindringt und uns bedrängt?[1] Ist sie überflüssig geworden, weil die
Psychoanalyse ihre ins Unbewußte verdrängten triebhaften Quellen ans
Tageslicht gezogen und rationalisierbar gemacht hat?[2] Ist sie Symptom
einer fortdauernden Bewußtseinskrise des modernen Menschen, der sich
ständig mit der Kontingenz seiner Erfahrungswelt konfrontiert sieht und
diese zu bewältigen sucht, Ausdruck der Rebellion gegen den normierten und
normierenden Mainstream der Geschichte?[3]
Der Begriff „Phantastik“ ist außerhalb immer noch vergleichsweise kleiner
wissenschaftlicher Zirkel, diversen Künstlerkreisen und schon wieder
größeren Fangemeinden in der Öffentlichkeit wenig präsent, während das
Adjektiv „phantastisch“ als Charakterisierung sehr geläufig erscheint.
Eben darin liegt die Crux: „Das Phantastische“ tritt bislang meist nur als
zugemessene Eigenschaft, weniger aber als ästhetische oder
kulturtheoretische Kategorie aus eigenem Recht auf. Die Haltung der
verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu diesem Problem
differiert beträchtlich: Während in den Literatur- und den
Medienwissenschaften inzwischen durchaus diskutiert wird, hat etwa die
Kunstgeschichte die Phantastik als Thema noch gar nicht wahrgenommen.
Abgesehen von Wieland Schmieds Geschichte der phantastischen Malerei ist
hier leider nichts Grundlegendes geschehen.[4]
Dies erscheint so seltsam wie unverständlich, bietet es sich doch an, in
der Diskussion etwa der niederländischen Malerei des 15.-17. Jahrhunderts,
von Barock und Rokoko, Romantik, Symbolismus, Jugendstil, Neuer
Sachlichkeit, Surrealismus und einer Reihe von Positionen der
Gegenwartskunst den Begriff des Phantastischen zu etablieren.
Eine zentraler Grund dafür ist in dem nach wie vor virulenten
Trivialitätsverdacht zu sehen, dem ein als „phantastisch“ apostrophiertes
Werk unterzogen wird. Dies rührt daher, daß Fantasy-, Science Fiction- und
Horrorgeschichten wie auch -filme, Comics, Poster und Illustrationen der
populären Kultur zugerechnet werden, mit der Kulturwissenschaftler und
diskursbestimmende Teile des gebildeten Publikums immer noch
Berührungsängste pflegen. Glücklicherweise ist hier seit längerem ein
Bröckeln der Fronten zu beobachten.
Ein weiteres Moment stellt die Subsumierung des als phantastisch
Apostrophierten unter geläufige Stichworte wie „Imagination“,
„Subjektivität“ oder „Wahrnehmung“ dar. Beispiele aus jüngerer Zeit sind
die Ausstellungen „Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit“ in der Schirn
Kunsthalle Frankfurt (27.3.-9.6.2003) und „Multiple Räume (1): Seele.
Konstruktionen des Innerlichen in der Kunst“ in der Staatlichen Kunsthalle
Baden-Baden (14.2.-18.4.2004). Wie im Falle des Phantastischen haben sie
in umfassender Weise von rationallogischen Modellen abweichende,
subjektiv-psychologische Konstruktionen von Welt zum Gegenstand. Da aber
diese beiden Ausstellungen der Vielschichtigkeit ihrer Themen leider nicht
gerecht geworden sind (Konzept und begriffliche Grundlagen blieben zu
vage, um tragfähig zu sein, und die Exponatauswahl war vor allem bei
„Grotesk“ von auffallender Beliebigkeit) und die Phantastik ebenfalls ein uferloses Gebiet ist, erweckte das Projekt einer umfassenden
Phantastik-Ausstellung nicht nur Hoffnungen, sondern auch ein gewisses
Mißtrauen.
Bisher war die Phantastik als Ganzes kaum Thema von Ausstellungen.
Ausnahmen bilden nur „Phantastik am Ende der Zeit“ 2000 im Stadtmuseum in
Erlangen, das auf phantastische Themen spezialisierte Maison d'Ailleurs in
Yverdon-les-Bains, das Panorama-Museum in Bad Frankenhausen mit einem
entsprechenden Themenschwerpunkt und die ständigen Sammlungen des Château
de Gruyères (Schweiz).
Die jüngst zuende gegangene Ausstellung „Andererseits: Die Phantastik.
Imaginäre Welten in Kunst und Alltagskultur“ im Schloßmuseum und der
Landesgalerie Linz ging einen entscheidenden Schritt weiter. Sie stellte
den ersten großangelegten Versuch dar, die Phantastik als thematisch
hochkomplexes und multimediales Phänomen zu präsentieren und für
zukünftige Diskurse verbindliche definitorische und thematische Pflöcke
einzuschlagen. Bereits im Titel bezog sie eine grundsätzliche Position:
Die Phantastik, als das „Andererseits“ dessen, was man gemeinhin „Realität“ nennt, stellt die andere Seite der selben Medaille dar, von unserer
Erfahrungswelt verschieden, aber wie die Nacht dem Tag untrennbar
verbunden. Zur Ausstellung erschien ein opulenter und reich bebilderter
Katalog, der neben einer Reihe von Essays zu Theorie und
Definitionsmöglichkeiten der Phantastik der Systematik der Ausstellung
folgt. Zudem fand vom 20.-22. Mai 2004 ein Symposion unter dem Titel„Produktive Beunruhigung. Zum Stellenwert des Phantastischen in der
zeitgenössischen Kultur“ statt, wodurch das Linzer Unternehmen tatsächlich
den Charakter eines „Großprojekts“ annimmt, welches beansprucht, bei den
Diskursen zur Phantastik fürderhin eine entscheidende Rolle zu spielen.[5]
Der konstitutiven Grenzenlosigkeit ihres Gegenstandes begegnete die Linzer
Ausstellung mit mehreren Strategien. Zum einen war sie außerordentlich
umfangreich und verteilte sich über zwei Häuser. Zum anderen fing sie das
Thema mit einer großen thematischen und medialen Bandbreite ein. Der
Katalog spiegelt dies in seiner Aufteilung in drei Abschnitte wider: Der
erste Abschnitt umfaßt eine Reihe von Texten, in denen die Phantastik als
kulturtheoretisches Phänomen eingekreist und ihre verschiedenen medialen
Manifestationen in grundsätzlichen Fragestellungen erörtert werden. Für
die Frage „Was ist Phantastik?“ ist der einführende Essay von Hans Richard
Brittnacher und Clemens Ruthner hervorzuheben,[6] auch die Texte von
Peter Assmann, Rainer Metzger und Wolfgang Müller-Funk stellen fundierte
Beiträge dar. Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit Phantastik in
bildender Kunst, Literatur, Film und elektronischen Medien sowie der
wissenschaftlichen Phantastik. Der umfassende Anspruch des Katalogwerks
wird durch ein ausführliches Literaturverzeichnis im Anhang unterstrichen.
Der zweite und dritte Abschnitt des Katalogs folgt der Gliederung der
Ausstellung. Die Texte stellen zum Teil thematische Überblicke oder
historische Abrisse dar, leuchten aber auch bestimmte Aspekte tiefer aus.
Die Ausstellung begann im Schloßmuseum. Hier fand sich nach einer
Einführung eine Präsentation zahlreicher alltags- und popkultureller
Manifestationen des Phantastischen sowie die größte Medienvielfalt. Der
Teil in der Landesgalerie war hauptsächlich der bildenden Kunst gewidmet.
Die ersten Abteilungen im Schloßmuseum widmeten sich der Phantastik als
Phänomen in einer grundsätzlichen Weise. Man begann mit dem „Gang der
Dinge“. In einer Reihe kurioser Gegenstände und erläuternden Texten wurden
didaktisch geschickt und auf witzige Weise nicht nur Grundlagen
phantastischen Denkens, sondern auch einige ihrer historischen Quellen
präsentiert, etwa archäologische Rätsel „Opferstein“),
privatmythologische Konstruktionen („der Schnurrbart Nietzsches“),
religiöse Legenden (Reliquien, Prophetienbücher), Volksaberglauben
(Armesünderfett) oder okkulte und esoterische Lehren (die Alraune oder
Kristalle). Der unvoreingenommene Besucher dürfte große Probleme gehabt
haben, zu unterscheiden, was davon auf Tatsachen beruht, was auf real
existierende Legenden zurückgeht und was eigens für die Ausstellung
erfunden wurde: Eben dieses Verwischen der Grenzen zwischen Realität und
Fiktion, besser: deren Negierung und Aufhebung in einer mythologisierenden
Weltsicht, stellt ein konstitutives Element phantastischen Denkens dar.
Der nächste Teil („Spiegelschrift“) bestand aus einer Ansammlung von
Textzitaten, die das Phantastische thematisch einkreisen oder zu
definieren suchen. Das Spektrum reichte dabei von Literatur über
Geisteswissenschaften bis zur Psychoanalyse. Ein solcher Einstieg ist
anstrengend, gab aber dem geduldigen Besucher eine Ahnung davon, worauf er
sich einließ. Diese beiden ersten Teile sind im Katalog vollständig
dokumentiert.
Den Kern des dritten Teils bildete ein Experiment: der „weiße Raum“, ein
durch einen gewundenen Gang erreichbarer, von der Außenwelt abgeschotteter
kleiner Raum, in dem sinnliche Reize auf ein Minimum reduziert werden. Er
stellte die - durchaus funktionierende - Simulation eines psychischen
Innenraums dar, in dem das Subjekt auf sich und seine Imagination
zurückgeworfen wird. Daß am Eingang die Schuhe ausgezogen werden sollten,
unterstützte nicht nur die Stille, sondern hatte etwas Rituelles an sich,
das den Raum-Wechsel unterstrich. Der Katalogtext analysiert den
Symbolgehalt und Konnotationsreichtum der Farbe Weiß, ausgehend von der
Beobachtung, sie sei „offen für jegliche Projektion“.[7]
Erst danach wurde es inhaltlich konkret. In der Abteilung „Creature Pool“
wurden hauptsächlich Merchandising-Figuren bekannter Comic- und
Filmungeheuer und -helden präsentiert. Dies verwies auf die enorme
Verbreitung und Popularität phantastischer Figurationen und zeigte
gleichzeitig deren Verankerung in der florierenden kapitalistischen
Verwertung von Phantasie. Die Kulturindustrie stand auch im folgenden Teil
zur Debatte. „Science Fiction“ wurde themengerecht mit einer großen
Medienvielfalt präsentiert: Bücher und Magazine, Filmausschnitte (selbst
wieder zu einem phantastischen Ganzen montiert), Soundtracks, Musikvideos
sowie Roboter.
Nach der Implantierung utopisch-technischer Phantasien in das kollektive
Bewußtsein ging es in der Abteilung „Andere Ausblicke“ um
Wahrnehmungsirritationen, die Verschmelzung widersprüchlicher Motive zu
einem neuen Ganzen. Mit medialer Vielfalt wurden verschiedene Weisen der
Bildmontage vorgestellt, offensichtlich wie in den digitalen Montagen von
Zazie oder Jan Hathaway, oder eher versteckt wie in den Bildern von Dagmar
Höss. Zudem ließ die Installation einer Camera obscura, die Bilder aus der
Linzer Außenwelt ins Museum holte und auf den Kopf stellte, den Besucher
selbst eine prinzipiell phantastische Seherfahrung machen. Irritierend war
hier die Präsentation der „Cités obscures“ der belgischen graphic
novel-Künstler Schuiten und Peeters, welche eher in eine Abteilung„Fiktive Welten“ gepaßt hätten, zum Thema „Ausblicke“ aber nichts
prinzipiell anderes aussagen als etwa die Abteilung „Science Fiction“. Der
Katalogtext von Ursula Reber erhellt zwar hier den Zusammenhang und
verdeutlicht die Verschränkung von „anderen Ausblicken“ mit der
Konstruktion fremder Welten, kann aber nicht verhindern, daß die
Objektauswahl in der Ausstellung an dieser Stelle eher assoziativ wirkte.
„Die Bibliothek von Babel“ präsentierte unter dem Titel einer Erzählung
von Borges einen Einblick in den Bestand der Phantastischen Bibliothek in
Wetzlar, welche inzwischen die weltgrößte Bibliothek ihrer Art zu sein
sich rühmen kann. In tendenziell labyrinthischer Anlage wurde hier eine
thematisch sortierte Bibliothek aufgebaut, die zum Lesen einlud; ein
angenehmer Ruhepunkt innerhalb der Ausstellung. Wie in der Merchandising-
und der Science Fiction-Abteilung wurde hier evident, wie sehr die
Phantastik Teil der Alltagskultur geworden ist. Der Katalogtext von
Bettina Twrsnick, Leiterin der Phantastischen Bibliothek, beschäftigt sich
mit dem phantastischen Mythologem der Bibliothek als Weltmodell, um dann
die Untergliederung der ausgestellten Bibliothek zu kommentieren.
Dem schloß sich eine Dokumentation zur öffentlichen Wirkung der Wiener
Schule des Phantastischen Realismus an, die als einzige phantastische
Malergruppe nach 1945 einen internationalen Bekanntheitsgrad erreicht
hatte und um die in Österreich zeitweilig ein regelrechter Medienhype
organisiert wurde. Dies ist eine aufschlußreiche Herangehensweise, zumal
der öffentliche Umgang mit phantastischer Kunst und ihre durchaus
ideologische Rolle im modernen Nachkriegsösterreich im Zentrum stehen, was
im Katalogtext noch einmal vertieft wird. Dennoch hätte der nicht ausÖsterreich stammende Rezensent hier gern ein paar Originale gesehen.
Den Abschluß im Schloßmuseum bildete eine interaktive Abteilung. Neben
einer leider in eine kleine Ecke gedrängten Präsentation von Videospielen
bestand sie aus einer computeranimierten Geschichte von Automaten und
Robotern sowie einem großzügigen museumspädagogisch genutzten Raum.
Der Ausstellungsteil im Schloßmuseum bestach nicht nur mit thematischer
Vielfalt. Sie entwickelte zudem eine ganze Reihe von Strategien, um zu
verdeutlichen, daß Phantastik in hohem Maße ein Phänomen der Perzeption
ist, was nicht zuletzt mittels der Gestaltung von Räumen zur Induzierung
eigener Wahrnehmungserfahrungen bewerkstelligt wurde.
Die Ausstellung in der Landesgalerie folgte anderen Maßstäben. Neben der
oben erwähnten Orientierung an der bildenden („Hoch“-)Kunst folgte die
Gliederung Kriterien, die für sich in Anspruch nahmen, zentrale Momente
phantastischer Repräsentanz zu umreißen. Die Objektauswahl orientierte
sich meistenteils an der Gegenwartskunst. Diese Thematisierung des
gegenwärtigen Standes der Phantastik erscheint als eine sinnvolle
Maßnahme, um die kaum zu überblickende Vielfalt in Frage kommender Werke
in den Griff zu bekommen, obgleich dies bedeutete, daß historische
Stilphänomene wie Romantik, Symbolismus, Orientalismus, Jugendstil,
Expressionismus und Surrealismus kaum oder gar nicht vertreten sind.
Die erste Abteilung „Vertrackte Räume“ präsentierte mit den irritierenden
Raumfotografien von Gregor Zivic, den phantastischen Architekturvisionen
Lebbeus Woods' und den mit traumhaften Parallelwelten arbeitenden
Kurzfilmen von Michael Langoth verschiedene Facetten phantastischer
Raumkonzepte. Darüber hinaus wies die Exponatauswahl leider eine
Beliebigkeit auf, die eher die zeitgenössische modische Wohlfeilheit der
Raum-Metapher illustrierte: M.K. Ciurlionis und Mariko Mori konstruieren
zwar durchaus phantastische oder ins Phantastische gewendete Räume, der
Rezensent konnte jedoch nicht sehen, daß in diesen Werken der Raumgedanke
eine zentrale Rolle spielt, genauer: daß sie innerhalb der Ausstellung den
Raumbegriff wesentlich erhellen. In ihrem Katalogtext stellt Ursula Reber
zwar die notwendigen Zusammenhänge her und macht die Raum-Metapher für die
Phantastikdiskussion in mehrfacher Weise fruchtbar. Gerade deshalb fällt
aber auf, daß der Ausstellungsteil wie eine Kurzfassung des Katalogtexts
funktioniert, weil er ohne diesen auseinanderfällt. Eine Ausstellung, so
die Überzeugung des Rezensenten, muß sich jedoch uneingeschränkt auch ohne
Katalog erschließen lassen.
Die darauffolgende Abteilung „Mädchen und Monster„ thematisierte ein
weiteres, zu Recht als ein für die Phantastik „archetypisch“
apostrophiertes Thema. Kurator Hans Richard Brittnacher fächert das Thema
in seinem Katalogbeitrag mit gewohnter Gründlichkeit auf, gibt eine
historische Herleitung und geht auch auf das eng verwandte Thema der
(belebten) Puppe ein. Hier befand sich sicher einer der Höhepunkte der
Ausstellung: Patricia Piccininis Installation „Still Life with stem cells“, die von thematisch passenden großformatigen Fotografien von Charlie
White begleitet wurde.
Den „GeisterBahnen“ gelang der Brückenschlag zwischen Geistern und
Gespenstern als Thema phantastischer Kunst, illustriert mit Zeichnungen
Kubins, und einigen ihrer Grundlagen im 19. Jahrhundert, dem Spiritismus
und der quasiwissenschaftlichen medialen Geisterfotografie. Im Katalogtext
liefert Clemens Ruthner zudem einen kulturhistorischen Abriß des „Geister“-Diskurses.
In „Das Fest der Apokalypse“ ging es um die Feier des Untergangs und
Weltendes, das ,Tanzen auf dem Vulkan', welches vor allem in den Bildern
aus Ramacher & Einfalts Zyklus „Die apokalyptische Reise“ und Hans
Weigands Mixed-Media-Installation „Before and After the Last Judgement“
zum Ausdruck kam. Der Rezensent ist jedoch der Auffassung, daß in der
Ausstellung wie im Katalogtext der Karneval fehlt, in dem sich Fest,
Umsturz historischer Ordnungen und Identitätswandel auf eine Weise
kombinieren, die dem Zusammenspiel von Fest und Weltuntergang nicht
unwichtige Facetten abgewonnen hätten - für die zitierten Bilder aus dem
Umkreis Boschs sind derartige Konnotationen durchaus maßgebend.
„Metamorph“ enthielt Werke zur Verwandlung und Manipulation von Körpern
und spannte den Bogen von der Gliederpuppe Hans Bellmers über Daniel Dees
Mischwesen bis zu den Traumbildern der mit der Wand verschmelzenden oder
aus ihr heraustretenden Körperfragmente Brigitte Waldachs. Brittnachers
Katalogtext liefert den kulturhistorischen und mythologischen Kontext der
thematisierten Körperutopien, die - auch wenn die Exponate den Eindruck
erwecken mögen - keine Erfindung des 20. Jahrhunderts sind, und
verdeutlicht den zentralen Stellenwert der Metamorphose für die
Phantastik.
Als nächstes betrat man die Abteilung „Traumwelten“, die in mehrere
Teilbereiche untergliedert waren: Themen wie „Traumdeutung“, „surreale
Traumrealität“, „Illusion und Wirklichkeit“ und „Alptraum“ sind mit je
einem oder zwei Werken illustriert; hier fanden sich mit Magrittes „Das
Gesicht des Genies“ und Delvaux' „Die Schule der Gelehrten“ Werke des
bislang vom Rezensenten schmerzlich vermißten Surrealismus.
Den Abschluß bildeten „Ideologien/Häresien“, wo man mit „Das große
Welttheater“ von Peter Weiss und H. R. Gigers „Passagentempel“ weitere
Höhepunkte der Ausstellung entdecken konnte. Im „Passagentempel“ wie in
den Fotomontagen J.-P. Wilkins und Immendorfs „Je vous salue Maria“ kam
das hier thematisierte ideologiekritische und häretische Potential
phantastischer Kunst wohl am prägnantesten zum Ausdruck. Der
Katalogbeitrag von Markus May widmet sich mit der Figur der Medusa und dem
christlichen Bild des Gekreuzigten zwei phantastischen Dispositiven, in
denen Affirmation und Subversion eine enge Verknüpfung eingehen: Siegt im
Falle von Perseus' Tötung der Medusa die instrumentelle Vernunft über den
Mythos, entwickelt die Ermordete in der Folgezeit bis heute ein
mythisierendes Eigenleben durch die ihr inhärente ambivalente Verbindung
von Schrecken und Schönheit; steht der gekreuzigte Christus für das
christliche Dogma der Erlösung und das Gebot der Nächstenliebe, erwachsen
aus dem Bild des leidenden, gefolterten Körpers kulturhistorisch
einflußreiche sadomasochistische Phantasien, in denen sich Tod und Erotik
gegenseitig definieren.
Was auf den ersten Blick vielleicht ins Hintertreffen geriet, war die enge
Verflechtung der verschiedenen Bereiche untereinander: implizit war sie
jedoch in den Werken und in den Texten immer wieder faßbar. An Gigers„Passagentempel“ läßt sich dies besonders deutlich machen, denn er wurde
zwar den Häresien zugeordnet, hätte aber auch in jeder anderen Abteilung
stehen können: Er schafft einen von allen vier Seiten abgeschlossenen
tempelartigen Raum, zu dem man nur durch eine anthropomorphe beengende
Passage Zugang erhält. Die vier Bilder im Innern sind angefüllt mit
metamorphotischen hybriden Figuren, halb Mensch, halb Horrorwesen oder
Maschine, in denen Sexualität und Gewalt zu einer sadomasochistischen
Einheit verschmelzen; die sadistische Zurichtung menschlicher Körper und
ihre Einpassung in sinnlos wirkende eiserne Maschinen, die ihrerseits
Narbengewebe und Abszesse tragen, als wären sie aus Fleisch, schafft eine
schaurige Dystopie des Menschen als verwertbarem Gegenstand und
Ersatzteillager; die versammelte Ikonographie von Lust und Grauen, Tod,
Geburt und Verfall evoziert eine apokalyptische Alptraumvision, die
ihresgleichen sucht; die Anlage als Tempel mit sarkophagartigem Eingang
und ins Bild gesetzter Erlösung durch die Passage in eine transzendentale
Welt speist sich aus religiösem, okkultistischem und esoterischem
Gedankengut.
Anläßlich Gigers sei ein kurzer Ausflug in die Musik erlaubt, deren
phantastisches Potential im Katalog (immerhin!) kurz angesprochen, aber
nicht vertieft wird. In einigen Zeilen aus dem Stück „Godtech“ der Gruppe„Red Harvest“ wird die antihumane futuristische Hölle, die Giger uns
vorführt, gleichsam kondensiert: „Digital Life / Bio-mechanical Hell /
Transhuman Express“[8] Red Harvest wird dem „Industrial Metal“
zugerechnet, welches sich, wie übrigens viele Heavy Metal-Subgenres, nicht
nur über musikalische Strukturen, sondern auch über bestimmte
konstituierende Mythologeme definiert. In diesem Falle sind es vor allem
Horror- und Science Fiction-Visionen von als Bedrohung oder Erlösung
präsentierten Konsequenzen der Allgegenwärtigkeit futurischer und
digitaler Techniken sowie Körperdystopien biomechanischer Hybridwesen und
der damit einhergehenden Desintegration des Menschen als Humanum und
Individuum. Es verwundert daher nicht, daß viele Musiker und Anhänger der
diversen Metal- und Gothic-Szenen Giger-Fans sind; hier sei nur darauf
verwiesen, daß die Phantastik in der Musik ein außerordentlich weites Feld
ist, das wissenschaftlich zu erschließen sich lohnt.
Es wäre absurd, von einer Phantastik-Ausstellung auch nur thematische
Vollständigkeit zu verlangen, selbst wenn sie mit einem fundamentierenden
Anspruch auftrat wie diese. Wenn der Rezensent etwa die spezifische
Würdigung von Architektur, von Parallelwelten oder von Schreckensszenarien
und Untergangsphantasien (ohne Fest) vermißt hatte, ist dies nur als eine
weitere thematische Gliederungsmöglichkeit zu verstehen, die nicht besser
und nicht schlechter zu begründen wäre als die ausgeführte.
Ein nicht unbedeutender Unterschied zwischen den beiden Teilen der
Ausstellung stellte ihre offenbar unterschiedliche Adressiertheit dar;
insofern war die organisatorische, räumliche und inhaltliche Trennung eine
sinnvolle Maßnahme. Im Schloßmuseum wurde Besuchern das Phantastische
präsentiert, ohne irgendein Vorwissen zur Bedingung des Verständnisses zu
machen. Die Landesgalerie hingegen wendete sich, sieht man einmal von den
reizvollen Exponaten ab, an diejenigen, die mit dem Problem der Phantastik
auch theoretisch zumindest grundsätzlich vertraut sind.
Der zweite Teil der Ausstellung hinterließ einen nicht ganz ungetrübten
Eindruck. Zwar war die thematische Gliederung durchdacht und schlüssig,
die Werkauswahl kann insgesamt als gelungen betrachtet werden. Aber in
einer Reihe von Fällen wurde der Rezensent das Gefühl nicht los, daß
Arbeiten primär ausgewählt wurden, um Aspekte eines Themas zu
illustrieren, weniger, weil sie es aus eigener Kraft evozieren würden.
Neben der oben kritisierten Werkauswahl in „Vertrackte Räume“ trat dieses
Problem in anderer Weise bei den „Traumwelten“ auf. Gerade die schlüssige,
aber sehr engmaschige Binnengliederung drohte die Bilder auf thematische
Illustrationen zu reduzieren, ihnen blieb wenig Raum zum „Atmen“. Man
könnte es auch so formulieren: Zwar teilt der Rezensent das in der
Ausstellung vertretene maximalistische Verständnis von Phantastik,
gleichzeitig zeigten sich aber auch die damit verbundenen theoretischen
und definitorischen Probleme: Wo fängt das Nicht-Phantastische an?
Dies mochte dem primär ideengeschichtlichen Ansatz geschuldet sein sowie
der Tatsache, daß trotz des interdisziplinären Ansatzes weit mehr als die
Hälfte des hochkarätigen Kuratorenteams Literaturwissenschaftler und nur
zwei ausgewiesene Kunsthistoriker waren. Nun ist die Anwesenheit von
Kunsthistorikern natürlich keine Garantie für eine schlüssige bstimmung
von Konzept und Werkauswahl - „Grotesk“ hat gezeigt, wie eine Ausstellung
trotzdem scheitern kann. Die Linzer Phantastik-Ausstellung wurde somit
auch ein Spiegel des eingangs erwähnten unterschiedlichen Standes der
wissenschaftlichen Phantastik-Diskussion.
Solche Kritikpunkte fallen jedoch angesichts der beeindruckenden Leistung
des Linzer Großprojekts nicht ins Gewicht. Den Anspruch, die Phantastik in
ihrer Bandbreite zu präsentieren und ihrer Diskussion definitorische und
thematische Leitlinien anzubieten, erfüllte es im Hinblick auf das
Realisierbare voll und ganz. Der ausführliche und reich bebilderte Katalog
fügt der zur Zeit noch sehr übersichtlichen Zahl an Standardwerken zur
Phantastik einen im doppelten Sinne gewichtigen Beitrag hinzu. Es bleibt
zu hoffen, daß die Geistes- und Kulturwissenschaften die hier gegebenen
Anregungen aufnehmen werden.
Anmerkungen
[1] Roger Caillois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur
Science Fiction, in: Phaicon 1, Frankfurt/Main 1974, S. 44-83, hier S. 46
u. 71.
[2] Tzvetan Todorov: Einführung in die phantastischen Literatur, München
1972, S. 143.
[3] Wieland Schmied: Zweihundert Jahre phantastische Malerei, zwei
Bände, Band 1, München 1980, S. 19-22. Erweiterte Neuauflage von München
1973.
[4] Schmied 1980 (wie Anm. 3).
[5] Unter der Webseite http://www.phantastik.at/ (letzter Zugriff
24.09.04) finden sich umfassende Angaben zur Ausstellung und dem
unfangreichen Begleitprogramm.
[6] Hans Richard Brittnacher/Clemens Ruthner: Andererseits. Oder: Drüber.
Ein erster Leitfaden durch die Welten der Phantastik, im Ausst.kat., S.
14-22.
[7] Ausst.kat., S. 132.
[8] Red Harvest: Godtech, in: Sick Transit Gloria Mundi, Nocturnal Art
Productions, 2002.
Redaktion: Livia Cárdenas
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29.09.2004
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