Zur Ausstellung:
Die Zehn Gebote. Politik - Moral - Gesellschaft.
Internationale Kunstausstellung.
Deutsches Hygienemuseum Dresden.
19. Juni - 5. Dezember 2004
Date: 08 Sept 2004
Carolin Behrmann
Das Deutsche Hygienemuseum in Dresden, das sich traditionsgemäß mit dem Bild
des Menschen in Medizin und Wissenschaft auseinandersetzt, hat sich nun einer
ganz anderen Aufgabe gestellt. Die aktuelle Sonderausstellung "Die Zehn
Gebote. Politik-Moral-Gesellschaft" beschäftigt sich mit den ethischen
Grundlagen der so genannten globalisierten Welt. Nicht nur das Thema, sondern
auch die Form der Ausstellung weicht ab vom gewohnten Schema. Auf 1500qm
Ausstellungsfläche werden Arbeiten von 69 zeitgenössischen Künstlern je einem
der Gebote zugeordnet.
Sich mit der heutigen ethischen Bedeutung der Zehn Gebote in einer Ausstellung
zu beschäftigen, ist ein lobenswertes, wenn auch nicht unkompliziertes
Vorhaben. Der Dekalog bildet den Nukleus jüdischer, christlicher und
islamischer Ethik und Gesetzgebung, dessen Geschichte und Katechese Wissen und
Interpretationsarbeit erfordert und sowohl theologischer, historischer als
auch rechtshistorischer Hinweise bedarf. Es stellt sich die Frage, wie und mit
welchem Resultat dies eine Kunstausstellung leisten kann, ohne einen ethischen
Holismus zu beschwören, der den Besucher ratlos entlässt.
Im Katalog kommentiert der Kurator Klaus Biesenbach, es ginge ihm um die"Motivationen, Ideale, Regeln und Pflichten, Rechte und Freiheiten des
einzelnen Menschen in einer als Ganzes gedachten Welt". [1] In einer Zeit der"Sinnsuche und Rückbesinnung auf religiöse Werte", solle der Mensch an sich im
Zentrum der Ausstellung stehen und mit ihm die Grundregeln des Zusammenlebens
einer "globalen, ökonomischen, medialen Gesellschaft". Somit führt die
Fragestellung weg von dem, was kultur- und zeithistorisch mit den Zehn Geboten
verbunden wird. Vielmehr sollen künstlerische Positionen, die in
Auseinandersetzung mit solchen ethischen Prinzipien entstanden sind,
Denkanstöße geben.
Das unendlich globale Zeitalter
Zu Beginn des Ausstellungsrundgangs steht der Versuch die "globalisierte" Welt
in Zahlen und Statistiken zu visualisieren. [2] Auf elf bunten, großformatigen
Weltkarten wird über verschiedene Themen wie Religion, Schönheit,
Drogenhandel, Religionskriege, Arbeit und Freizeit, Lebenserwartung, Tod,
Sexualität, Rechte des Kindes, Medien und Werbung informiert. Dieser "Blick"
auf globale Zu- und Missstände wird mehr oder weniger willentlich unterlegt
mit den Motettengesängen der Klanginstallation "The forty part Motet" von
Janet Cardiff. In einem Nachbarraum hat die englische Künstlerin vierzig
Lautsprecher so arrangiert, dass jede einzelne Stimme der von vierzig Sängern
vorgetragenen Motette durch die räumliche Bewegung der Zuhörer nachvollziehbar
wird. Der Klang der Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts wird als im Fluss
befindliches Konstrukt inszeniert, um auf die Komplexität subjektiver
Positionen in einer hoch technologisierten Welt zu verweisen, in der ein
Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination nicht mehr auszumachen
scheint. [3]
Schon im Vorraum der Ausstellung wird der Besucher so mit einer Antinomie
konfrontiert, die als typisch "postmodern" zu bezeichnen ist. Zum einen ist
der unmittelbare dogmatische Appell einer Ideologie des Realismus zu vernehmen
- "der Traum des Wohlfahrtstaates ist ausgeträumt, wir müssen uns alle auf den
globalen Markt einstellen" [4] - zum anderen die Einsicht, dass es keine"Realität" mehr gibt, sie konstruiert wird und ein Ergebnis diskursiver
Praktiken und Machtmechanismen ist. Doch was passiert mit dieser
Widersprüchlichkeit nach dem Eintritt in die Ausstellungsräume, in das Reich
der Kunst, welches laut Biesenbach eine "transhistorische Ebene" (Katalog,
S.11) darstellt, in der Menschen eben das zu finden meinen, was sie bei den
Kirchen längst vermissen: die Transzendenz, das Sublime, das Erhabene?
Kulturhistorischer Prolog
Im ersten und einführenden Raum der Ausstellung kann der Besucher eine kurze
Kulturgeschichte der religionsübergreifenden Zehn Gebote absolvieren. Doch die
Auswahl der Gegenstände ist schwer nachzuvollziehen. Neben den in Vitrinen
ausgestellten Haupttexten der Zehn Gebote, einer Torarolle (um 1800), einer
Bibel (1507) und eines Korantextes (1562-74), finden sich hier verschiedene
Dinge, die auf einen Alltagsgebrauch verweisen und an die Zehn Gebote erinnern
sollen. Unter anderem Luthers Handexemplar der hebräischen Bibel, sein
Enchiridion und eine kleine Nachbildung des Moses von Michelangelo aus der
Sammlung des Kurfürsten Friedrich August III. von Sachsen. Auch wird ein
Tallit katan gezeigt, der jüdische Gebetsschal, der während des ganzen Tages
unter der Kleidung getragen wird. Als symbolisches Kleidungsstück dient er
dazu, an die Gebote Gottes auch im Alltag zu gemahnen. Sich den tieferen
Bedeutungszusammenhang zwischen einer Kleinskulptur des Überbringers der Zehn
Gebote und ritueller jüdischer Alltagssymbolik zu erschließen, erfordert
einige Imaginationskraft, die der Besucher gerne bereit ist zu überspringen,
denn schon öffnet sich sehr viel einladender der hell erleuchtete Raum der
Kunst. Dieser "Tigersprung" in die Ausstellungsrealität eines white cube wirkt
wie eine befreiende Erlösung vom kompliziert verwickelten kulturhistorischen
Ballast.
Verwunderung und Distanz
Den folgenden zehn Sektionen der Ausstellung sind Kunstwerke zugeordnet, die
nicht von den Künstlern selbst für diese bestimmt, noch für die Ausstellung
geschaffen wurden. Jedem Raum ist der jeweilige Gebotstext (nach christlicher
Zählung) vorangestellt, auf deren aktuelle Bedeutung hin die Werke befragt
werden. Einige Konstellationen sind erstaunlich treffend, wie beispielsweise
das kniende ganzfigurige Selbstporträt von Olaf Nicolai [5], der als weinender
Narziss über einen Tümpel gebeugt ist. Das Gebot "Du sollst keine anderen
Götter haben neben mir" wird in der Selbstbespiegelung des Künstler-Ego zum
neoliberalen Gebot des Selbstseins. An anderen Stellen führen die zum Teil
brillanten, für sich sprechenden Arbeiten weit von der eigentlichen
Fragestellung weg und werden so auf eine illustrierend-assoziative Botschaft
reduziert.
Anknüpfend an die Ausstellungen von Catherine David und stärker noch von Okwui
Enwezor, die sich der politischen und kulturellen Situation des globalen
Kapitalismus gewidmet hatten, ist bei der Mehrzahl der Kunstwerke eine
bestimmte Art des dokumentarischen Realismus wiederzufinden. Auch hier steht
der Künstler als Ethnograph, politischer Beobachter und Teilnehmer im
Vordergrund. Dies bestimmt auch die Wahl der künstlerischen Medien: Gezeigt
werden überwiegend Foto-, Film- und Videoarbeiten oder auch hyperrealistische
Skulpturen.
So die Arbeit von Tony Matelli, "Couple", 1995 - im Raum des fünften Gebotes
("Du sollst Vater und Mutter ehren") dem Thema "Lebenserwartung" zugeordnet -,
die ein kleines auf dem kalten Ausstellungsboden stehendes, bis auf die
Knochen abgemagertes afrikanisches Geschwisterpaar zeigt. Als Hungerleidende
sollen sie an das ethische Gewissen appellieren. Der Besucher kommt während
seines Rundganges nicht umhin, fortwährend die Diskrepanz zwischen uraltem
Gebot und heutiger Welt bedauern zu müssen. Die Welt ist schlecht - und
möglichst in erster Linie "die andere Welt" der Krisen und Katastrophen. Und
so sieht man kopfschüttelnde Gruppen durch die gut besuchte Ausstellung
ziehen, denen der Unterschied zwischen Realität und künstlerischem Realismus
nicht recht klar zu werden scheint.
Ist das Kunst oder Dokumentation?, fragte so mancher vor dem Video "9/11"
(2001) von Tony Oursler, der die Ereignisse des 11. September dokumentierte -
hier im Raum des Dritten Gebots ("Du sollst den Namen Deines Herrn nicht
missbrauchen") ausgestellt, dem das Thema des weltweiten religiösen
Fundamentalismus übergeordnet ist. Auch die Arbeit von Teresa Margolles,"Lengua (Zunge)" (2000) wirft diese Frage auf. Die Künstlerin stellt in einer
Plexiglasvitrine eine schwarze, geschrumpfte Zunge aus, die sie den verarmten
Eltern eines Kindes abkaufte, nachdem dieses in einem Straßenkampf ums Leben
gekommen war. Als "Diebstahl" entlarvt die Künstlerin selbst diesen Handel,
weshalb das Werk im Raum des achten Gebotes zu sehen ist.
Die biopolitische Wüste des Realen
Löst man sich davon, jedes Kunstwerk mit einem bestimmten Gebot verknüpfen zu
wollen, eröffnet sich ein Bedeutungsfeld, das viele Arbeiten miteinander
verbindet und als ästhetische Strategie zu Fragen der Ethik hinleitet. Das
Zeitalter der Biopolitik zeichnet sich dadurch aus, dass es über die
bürokratisch-technologische Dokumentation die Lebenszeit künstlich zu
gestalten sucht. Viele der künstlerischen Arbeiten thematisieren das
menschliche Leben in dem sie sich des Mediums der Dokumentation bedienen. [6]
Die Kunstdokumentation beschreibt, laut Groys, das Feld der Biopolitik, indem
sie zeigt, wie das Lebendige durch das Künstliche ersetzt und das Künstliche
durch das entsprechende Narrativ zum Lebendigen gemacht werden kann. [7] So
ist die Dokumentation das einzige Ziel und Ergebnis dieser Kunst und wird als
Produktion von Geschichte und auch der ethischen Grundsätze verstanden.
Beispiele hierfür finden sich in der Ausstellung viele. So spielt die
Videoarbeit von Mathilde Ter Heijne, "Suicide Bomb" (2000) mit der Täuschung,
Leben durch Künstlichkeit zu ersetzen, um es dann zu zerstören. In dem
vierminütigen Film sieht man die Künstlerin vor einer grauen Betonwand. Nach
einem Filmschnitt ist es ein Double, das an der Wand lehnt und sich nach
einigen Sekunden selbst in die Luft sprengt. Im Stil eines Informationsclip
sieht man zuvor noch den Sprengtechniker, wie er das Puppen-Double präpariert
und im "Off" werden Erläuterungen zum Thema Selbstmord vorgelesen. Die
Fotografien von Boris Michailov zeigen einen ukrainischen Straßenjungen, wie
er seine alkoholkranke obdachlose Mutter mit Fäusten traktiert. Die Bildserie
dokumentiert nur einen kurzen zufälligen Moment, macht aber erzählerisch das
Ausmaß dieser menschlichen Tragödie überaus deutlich.
Der belgische Künstler Francis Alys versetzt einen Berg. [8] Gezeigt wird in
der Ausstellung das Video der Performance, an der mehr als 500 Freiwillige
beteiligt waren und mit Schaufeln zusammen in einer langen Kette eine riesige
Sanddüne in den Slums von Lima um ein paar Zentimeter verrücken. Das was
während der Aktion nicht wahrzunehmen war, wird in der dokumentarischen
Rückschau zu einem märchenhaften Ereignis und erst diese Erzählung lässt den
Berg durch den Glauben versetzen.
Begleitprogramm und Katalog
Im Vergleich zu den bisherigen Projekten des Dresdener Hygiene-Museums [9],
könnte diese Ausstellung als Provokation oder Experiment bezeichnet werden.
Haben sich bisher meist Künstler und Ausstellungsmacher zusammen um eine
kreative Gestaltung interdisziplinärer Fragestellungen bemüht, wobei sich
Kunst und Wissenschaften gegenseitig inspirierten, erscheint die
Kunstausstellung über die "Zehn Gebote" unnahbar. Ein Grundproblem liegt
darin, dass die gesuchte "Zwischenzone" zwischen Theorie, Dokumentation undästhetischer Fiktion einerseits und den an Kontext und Geschichte gebundenen
Fragen der Ethik andererseits durch eine bloße Nebeneinandersetzung von Gebot
und Kunstwerk nicht ausgefüllt wird. Im Mittelpunkt der Kunstausstellung
stehen die ästhetischen Fiktionen. Deren künstlerische Strategien werden
jedoch vernachlässigt, wenn die Werke einem Bedeutungszusammenhang
untergeordnet werden, dem sie nur selten entsprechen.
Die in dem Katalog versammelten Aufsätze von Soziologen,
Medienwissenschaftlern, Journalisten und Theologen können in dieser Hinsicht
auch nicht mehr leisten. Vertieft wird zwar die Frage nach der Aktualität der
Zehn Gebote, doch fehlt hier eine intensive Auseinandersetzung mit den
Kunstwerken. Zu jedem Gebot sind in dem "ethischen Lesebuch zur Aktualität der
Zehn Gebote" zwei Artikel zu finden, die betont knapp und feuilletonistisch
gehalten sind. Hervorzuheben ist der Beitrag von Frank Crüsemann, der sichüber die Aktualität der Gebote aus theologischer Sicht Gedanken macht.
Positiv ist vor diesem Hintergrund das Angebot der begleitenden Tagungen und
Vorträge zu erwähnen. So fand vom 3. bis zum 5. September die Tagung "'Du
sollst nicht schweigen ...' Der Dekalog in der öffentlichen Religion" statt,
die von den Evangelischen Akademien Berlin und Thüringen in Kooperation mit
dem Deutschen Hygiene-Museum organisiert wurde.
Am 5. und 6. November diskutieren im Hygienemuseum unter der Leitung von Prof.
Hans Joas Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen über "Die Zehn Gebote -
Orientierungsmaßstab oder widersprüchliches Erbe?"
Anmerkungen/Links:
- Die Ausstellung "Zehn Gebote" im DHMD: http://www.dhmd.de/neu/index.php?id=248 .
- Schriftsteller über die Zehn Gebote bei MDR Figaro: Können die Zehn Gebote
heute noch Orientierung geben? http://www.mdr.de/mdr-figaro/journal/1426440.html .
[1] Klaus Biesenbach: Von Werten und Welten, siehe Ausst.kat, S.10 und 12.
[2] Zum Graphikbüro Myriad Editions siehe: http://www.MyriadEditions.com.
[3] Über Janet Cardiff siehe: http://www.abbeymedia.com/Janweb/jan.htm;
http://www.ps1.org/cut/press/cardiff.html.
[4] Slavoj Zizek: Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt das christliche
Erbe zu verteidigen. Berlin 2000, S.160.
[5] Olaf Nicolai, "Portrait of the artist as a weeping Narcissus", 2000.
[6] Boris Groys: Kunst im Zeitalter der Biopolitik. Vom Kunstwerk zur
Kunstdokumentation/ Art in the Age of Biopolitics: From Artwork to Art
Documentation, in: Okwui Enwezor et al. (Hrsg.), Katalog. Documenta
11_Plattform 5. Hatje Cantz. 2002. S.107-113.
[7] Ebd.
[8] Francis Alys: Cuando la fe mueve montanas, Lima, Peru Abril 11, 2002. Mehr
zum diesjährigen Preisträger des blueOrange Kunstpreises unter
http://www.blueorange.bvr.de .
[9] Ausst. "Gen-Welten. Werkstatt Mensch?", März 1998 - Januar 1999; "Kosmos
im Kopf", April-Oktober 2000.
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17 Mai 04 19:47 +0200
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